Menschen mit Demenz zeigen oft Verhaltensänderungen, die von Reizbarkeit bis hin zu Aggressivität reichen können. Diese Veränderungen sind komplex und oft missverstanden. Der Artikel beleuchtet die Ursachen für aggressives Verhalten bei Demenz, gibt praktische Tipps für den Umgang damit und zeigt auf, wo Angehörige Unterstützung finden können.
Einführung
Aggressives und scheinbar bösartiges Verhalten ist ein Verhaltensmuster, das bei etwa 50 Prozent der Menschen mit Demenz auftreten kann. Frustration über den kognitiven Abbau sowie äußere Faktoren spielen dabei eine große Rolle. Obwohl der Begriff "aggressiver Demenzerkrankter" noch oft verwendet wird, versucht die Fachwelt zunehmend, darauf zu verzichten, da Aggression eine Absicht voraussetzt, die bei Demenz oft fehlt. Stattdessen werden herausfordernde Verhaltensweisen eher als Affekt eingeordnet, also als eine heftige Gefühlsregung, die viel mit der Frustration der Erkrankten zu tun hat. Dennoch wird der Begriff "Aggression" hier verwendet, um das Erleben der Umwelt aufzugreifen.
Ursachen für aggressives Verhalten bei Demenz
Aggressives Verhalten bei Menschen mit Demenz kann verschiedene Ursachen haben:
- Verwirrung und Frustration: Diese entstehen direkt durch die Erkrankung selbst. Das Gehirn kann oft nur noch eine Information verarbeiten, was zu Überforderung führen kann.
- Körperliche Schmerzen oder Unwohlsein: Diese können eine Ursache sein, da Betroffene oft nicht mehr in der Lage sind, ihre Schmerzen adäquat zu äußern.
- Zu viele Reize: Umweltfaktoren spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Lärm, Hektik oder eine Flut von Anweisungen können überfordern.
- Allgemeiner Stress: Überforderungssituationen im Alltag können Frustration oder Angst auslösen. Die Betroffenen reagieren dann oft ungeduldig, gereizt oder verärgert.
- Ungeeignete Umgebungsbedingungen: Etwa 80 Prozent der Verhaltensprobleme bei Menschen mit Demenz werden durch ungeeignete Umgebungsbedingungen verursacht.
- Veränderungen der Persönlichkeit: Menschen mit Demenz können sich im Verlauf der Erkrankung in ihrer Persönlichkeit stark verändern. Ruhige und liebevolle Menschen können plötzlich rund um die Uhr gereizt sein.
- Wahnvorstellungen: Die veränderte Wahrnehmung kann dazu führen, dass Betroffene in ihrer eigenen Realität leben und wahnhafte Vorstellungen entwickeln, z.B. bestohlen worden zu sein.
- Sexuelle Enthemmung: Dies kann bei bestimmten Formen von Demenz auftreten und sich in sexuell übergriffigen Handlungen äußern.
Formen der Demenz und ihr Einfluss auf das Verhalten
Verschiedene Demenzformen können unterschiedliche Verhaltensweisen hervorrufen:
- Alzheimer-Krankheit: Hier verändert sich die Wahrnehmung der Betroffenen. Sie leben zunehmend in ihrer eigenen Realität mit eigenen logischen Erklärungsmustern. Wahnhaftes Verhalten, wie z.B. der Glaube, bestohlen worden zu sein, ist häufig.
- Frontotemporale Demenz: Die Abbauprozesse im Gehirn führen oft zu schwierigem Verhalten. Die Betroffenen verhalten sich plötzlich anders, unsozial, und ihre Persönlichkeit verändert sich. Sie ziehen sich zurück, interessieren sich nicht mehr für Familie und Hobbys, werden teilnahmslos, antriebslos oder sogar apathisch. Einige verhalten sich taktlos, sind leichter reizbar und manchmal rücksichtslos, streitbar.
- Vaskuläre Demenz: Hier sind herausfordernde Verhaltensweisen sehr abhängig vom jeweiligen Krankheitsverlauf.
Umgang mit aggressivem Verhalten bei Demenz
Der Umgang mit aggressivem Verhalten bei Demenz ist eine große Herausforderung für Angehörige und Pflegepersonen. Folgende Tipps können helfen:
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- Ruhe bewahren: Als betreuende Person sollte man sich bewusst machen, dass aggressives Verhalten nie persönlich gemeint ist, sondern auf die Demenz zurückzuführen.
- Ursachenforschung: Was ist vor dem aggressiven Verhalten passiert? Menschen mit Demenz schätzen Situationen anders ein als ihre Mitmenschen.
- Gefühle ernst nehmen: Wird ein Mensch mit Demenz "boshaft" oder handgreiflich, will er mit seinem Verhalten vielleicht auf sich aufmerksam machen und Hilfe erhalten.
- Klare Kommunikation: Sprechen Sie in einem ruhigen Tonfall und in kurzen Sätzen.
- Routinen schaffen: Sorgen Sie für eine gleichbleibende Struktur im Tagesablauf, Routinen und eine vertraute Umgebung.
- Reize reduzieren: Vermeiden Sie zu viel Lärm, eine zu hektische Umgebung oder eine Flut von Anweisungen.
- Ablenkung: Wenn etwas die Person beunruhigt oder verunsichert, versuchen Sie, die Ursache zu beseitigen oder auf emotionaler Ebene zu trösten und zu beruhigen. Körperkontakt wirkt dabei oft positiv.
- Nicht diskutieren: Vermeiden Sie Diskussionen oder Streitereien, in denen Sie Betroffene mit logischen Argumenten zu überzeugen versuchen. Besser ist es, abzulenken oder der Person recht zu geben.
- Sicherheit gewährleisten: Entziehen Sie sich gewaltsamen Konfrontationen und versuchen Sie nicht, die Person festzuhalten oder zu bedrängen.
- Professionelle Hilfe: Bei sexueller Enthemmung kann ein spezialisierter Therapeut hinzugezogen werden. Bei eskalierenden Situationen muss professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden, um das Wohl aller Beteiligten zu gewährleisten.
Nicht-medikamentöse und medikamentöse Behandlungsansätze
Die Behandlung von aggressivem Verhalten bei Demenz sollte immer mit nicht-medikamentösen Maßnahmen beginnen:
- Verhaltensplan: Wenn die Person auf bestimmte Reize mit Aggression reagiert, kann ein Verhaltensplan helfen, diese Reize zu vermeiden oder darauf zu reagieren.
- Anpassung der Umgebung: Die Anpassung der Wohn- oder Pflegeumgebung kann wesentlich zur Beruhigung beitragen.
- Schulung: Die Schulung von Angehörigen oder Pflegekräften im Umgang mit Demenz kann ihnen helfen, Warnzeichen zu erkennen und proaktiv zu handeln.
- Musiktherapie: Manche Demenzkranke reagieren positiv auf Musik.
- Ergotherapie: Ein Ergotherapeut kann Aktivitäten entwickeln, die sowohl stimulierend als auch beruhigend wirken.
- Tiergestützte Therapie: In manchen Fällen kann der Umgang mit Tieren eine beruhigende Wirkung haben.
- Demenzgerechte Raumgestaltung: Die Angehörigen können versuchen, eine demenzgerechte Raumgestaltung einzusetzen, so dass Verlockungen wie Türen weniger einladend wirken.
- Aktivierung: Studien deuten darauf hin, dass Aktivitäten im Freien und körperzentrierte Therapien wie Massagen weitaus effektiver sind als Medikamente, um körperliche und verbale Aggressionen zu mindern.
Medikamente sollten nur unter strenger fachärztlicher Aufsicht eingesetzt werden, da sie Nebenwirkungen haben können:
- Psychopharmaka: Risperidon und Haloperidol sind Medikamente, die bei mittelschwerer bis schwerer Alzheimer-Demenz eingesetzt werden können, insbesondere wenn die Person sehr streitsüchtig oder aggressiv ist. Haloperidol kann auch eingesetzt werden, wenn der Patient falsche Vorstellungen von der Realität hat oder Stimmen hört.
- Bedarfsmedikation: Medikamente bei Demenz sollten nur eingesetzt werden, wenn andere Behandlungen ohne Medikamente nicht geholfen haben und wenn die Gefahr besteht, dass die Person mit Demenz sich selbst oder andere gefährdet.
- Ursachenbehandlung: Die medikamentöse Behandlung sollte nicht nur das Problem, zum Beispiel die Aggressivität, behandeln, sondern auch die Ursache. Bevor Medikamente für die Psyche gegeben werden, sind andere Krankheiten zu behandeln.
- Befristung: Diese Medikamente sollten nur für eine begrenzte Zeit eingesetzt werden, wenn andere Hilfen versagt haben oder wenn ernsthafte Probleme wie Wahnvorstellungen oder Gefährdung bestehen.
Beratung und Hilfe für Angehörige
Die Unsicherheit und der Stress, der durch das unberechenbare Verhalten der demenzerkrankten Person entsteht, können Angehörige überfordern und die Beziehung zu den Betroffenen belasten. Es gibt zahlreiche Angebote zur Unterstützung:
- Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. (DAlzG): Bietet eine kostenlose Beratungshotline unter der Rufnummer 030 - 259 37 95 14 an, auch in türkischer Sprache.
- Pflegekurse: Hier können Angehörige Wissen zum Umgang mit Demenz erwerben.
- Psychisch entlastende Demenz-Hilfen: Diese bieten Entlastung für Angehörige.
- Selbsthilfegruppen: Hier können sich Angehörige austauschen und gegenseitig unterstützen.
- Professionelle Beratung: Psychotherapeutische Angebote können Angehörigen helfen, mit der Belastung und der Beziehung zu den Älteren klar zu kommen.
Fallbeispiel
Das Ehepaar Maier wohnt im eigenen Haus und beide sind um die 90 Jahre alt. Frau Maier ist seit Jahren an Demenz erkrankt und zeigt zunehmend problematische Verhaltensweisen. Alles, was ihr Mann sagt, lehnt sie ab, will sich nicht waschen, lehnt jede Hilfe ab, vergisst und verlegt vieles und gibt dann ihrem Mann oder den Kindern die Schuld. Die Kinder sagen: "Sie ist richtig böse geworden und war dabei früher nie so”. Wenn Gäste kommen erzählt Frau Maier, dass sie alles selbst erledigt, obwohl sie weder sich noch den Haushalt versorgen kann. Wird sie mit der Realität konfrontiert, wird sie sehr zornig.
Beim Blick in die Biografie zeigt sich, dass sie jung geheiratet hat, ihren Traumberuf der Krankenschwester nicht erlernen konnte und dann aber die “perfekte” Hausfrau und Mutter war. Sie war diejenige, die im Hintergrund agiert hat und den Haushalt und die Kinder versorgt hat. Ihr Mann hat relevante Entscheidungen getroffen, konnte sich in der Arbeit verwirklichen, war das Familienoberhaupt und derjenige, der tonangebend und manchmal dominant war. Sie war die Frau an seiner Seite und hat sich selbstverständlich nach seinen Wünschen gerichtet. Sie hat sich nie (offen) beklagt. Ihre Bedürfnisse nach Anerkennung, Bestätigung, Erlernen und Ausüben eines Berufs etc. konnten nicht erfüllt werden. Zudem hat ihr Mann keine “Selbstverwirklichung” ihrerseits zugelassen.
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Hier wäre die Hypothese, dass ihr unfreiwilliges jahrelanges Zurückstecken für die Familie eine tiefe Enttäuschung und Wut bei ihr hinterlassen hat. Sie konnte ihren eigenen Bedürfnissen nie Raum geben und jetzt, wo die rationalen Anteile des Gehirns durch die Demenzerkrankung in den Hintergrund treten und diese Enttäuschung und Wut nicht mehr unterdrücken können, kommen diese ungeliebten negativen Emotionen zum Vorschein. Sie ist zornig und böse und niemand um sie versteht warum. Herr Maier erkennt seine Frau nicht wieder.
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