Demenz ist eine der häufigsten und komplexesten geriatrischen Erkrankungen unserer Zeit. Sie betrifft nicht nur das Gedächtnis, sondern hat auch erhebliche Auswirkungen auf das soziale Umfeld und die Fähigkeit zur Bewältigung des Alltags. Es ist wichtig zu betonen, dass „Demenz“ keine einheitliche Diagnose ist, sondern ein Sammelbegriff für verschiedene neurokognitive Störungen wie die Alzheimer-Krankheit, vaskuläre Demenz, Lewy-Körperchen-Demenz oder frontotemporale Demenz. Diese verschiedenen Formen unterscheiden sich erheblich in Bezug auf Kognition, Verhalten und Verlauf, was zu unterschiedlichen therapeutischen Konsequenzen führt, sowohl in Bezug auf Medikamente als auch auf nicht-medikamentöse Behandlungen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Depression im Alter: 30 bis 45 % der Bewohner von Pflegeheimen leiden unter behandlungsbedürftigen Depressionen, die oft mit Demenzsymptomen verwechselt werden.
Definition des personenzentrierten Ansatzes
Der personenzentrierte Ansatz nach Tom Kitwood revolutionierte das Verständnis der Demenzpflege, indem er das medizinische Defizitmodell durch eine sozialpsychologische Perspektive ergänzte. Kitwood betonte, dass Demenz nicht nur aus kognitiven Verlusten besteht, sondern maßgeblich vom sozialen Umfeld beeinflusst wird. Wer diese Bedürfnisse wahrnimmt und darauf eingeht, trägt zu einer positiven Personenerfahrung bei - ungeachtet der demenziellen Veränderungen. Kitwood prägte zudem den Begriff der „malignen Sozialpsychologie“, mit dem er unbewusste Formen der Entwürdigung beschrieb.
Im Kern geht es darum, den Menschen mit Demenz als einzigartiges Individuum mit eigenen Bedürfnissen, Wünschen und einer individuellen Lebensgeschichte zu sehen. Es geht darum, eine Beziehung aufzubauen, die von Respekt, Empathie und Wertschätzung geprägt ist.
Grundprinzipien des personenzentrierten Ansatzes
Tom Kitwood hat mit seinem person-zentrierten Demenzmodell die Art und Weise, wie wir Menschen mit Demenz verstehen und betreuen, grundlegend verändert. Sein Ansatz stellt die Person mit Demenz in den Mittelpunkt.
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Die grundlegenden Prinzipien des Modells sind:
- Würde und Respekt: Jeder Mensch verdient es, mit Würde und Respekt behandelt zu werden, unabhängig von seinem kognitiven Zustand.
- Einzigartigkeit des Individuums: Jeder Mensch mit Demenz ist einzigartig und hat individuelle Bedürfnisse, Wünsche und Lebensgeschichten, die in der Pflege berücksichtigt werden sollten.
- Bedeutung von Beziehungen: Zwischenmenschliche Beziehungen sind entscheidend für das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz. Positive Interaktionen können das Wohlbefinden erheblich verbessern.
- Ganzheitliche Sichtweise: Demenz sollte nicht nur als medizinisches Problem, sondern als komplexes, ganzheitliches Phänomen betrachtet werden, das psychologische, soziale und spirituelle Aspekte umfasst.
Kitwood betonte die Bedeutung von positiven sozialen Interaktionen, die er als „positive Interaktionen“ bezeichnete. Diese Interaktionen sollten:
- Wertschätzung zeigen: Menschen mit Demenz sollten das Gefühl haben, geschätzt und anerkannt zu werden.
- Positive Emotionen hervorrufen: Durch freundliche Worte, Lächeln und Berührungen können positive Emotionen gefördert werden.
- Sinnvolle Aktivitäten bieten: Aktivitäten sollten auf die Interessen und Fähigkeiten der Person abgestimmt sein und ihnen Sinn und Freude bringen.
Bedeutung von Beziehungen und Kommunikation
Beziehungsgestaltung lebt von Interaktion und (verbaler und nonverbaler) Kommunikation. Beziehung benötigt ein Gegenüber und ist immer wechselseitig. Sie kann positiv oder negativ erlebt werden. Die Interaktion mit anderen Menschen sollte durch Respekt, Vertrauen, Freundlichkeit oder Liebe geprägt sein. Damit trägt sie zu einer verbesserten Lebensqualität bei. Ziel des Expertenstandards ist es, die Beziehungsgestaltung und Förderung von Menschen mit Demenz in den Mittelpunkt zu stellen. Menschen mit Demenz sollen als gleichberechtigtes Gegenüber wahrgenommen werden. Dadurch wird das Personsein gefördert. Die Gesamtheit der geschilderten Aspekte lassen sich in folgendem übergeordneten Ziel zusammenfassen: „Der Mensch mit Demenz hat das Gefühl, sich gehört, verstanden und angenommen zu fühlen sowie mit anderen verbunden zu sein.“
Kommunikation mit Menschen mit Demenz erfordert nicht nur Fachwissen, sondern eine hohe Sensibilität für nonverbale Zeichen, Affekte und situative Dynamiken. Zentral ist in diesem Zusammenhang das Prinzip der Validierung. Oft wird Validierung auf die Methode nach Naomi Feil oder Nicole Richard reduziert - doch sie ist viel mehr als eine Technik: Sie ist eine Haltung. Der Begriff „validieren“ bedeutet im Kern „für gültig erklären“. Etwas für gültig zu halten bedeutet, ein Verhalten als stimmig und nachvollziehbar im Kontext der Person anzuerkennen. Das wiederum setzt Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel voraus: Ich muss versuchen zu verstehen, warum die Person sich so verhält - auf Grundlage ihrer Biografie, Emotionen, Ängste und Bedürfnisse. Validierung ist damit ein Zugang zu beziehungsstiftender Kommunikation, die nicht korrigiert oder bewertet, sondern verbindet. Auch Aspekte der gewaltfreien Kommunikation (nach Marshall Rosenberg) lassen sich ergänzend wirksam einsetzen, z. B. in Konfliktsituationen oder zur Deeskalation.
Um Beziehungen mit anderen Menschen gestalten zu können, ist es wichtig, dass wir Wissen und Informationen über unser Gegenüber haben oder erhalten, um auf diejenige/denjenigen eingehen zu können. Im Kontext der Beziehungsgestaltung mit Menschen mit Demenz ist auch Wissen über das Krankheitsbild sowie das Thema „Alter(n)“ von elementarer Bedeutung.
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Nicht-medikamentöse Therapien und Interventionen
Die S3-Leitlinie betont, dass nicht-medikamentöse Maßnahmen häufig die erste Wahl bei herausfordernden Verhaltenssymptomen (BPSD) und zur Förderung von Wohlbefinden darstellen sollten. Es gibt eine Vielzahl von evidenzbasierten, nicht-medikamentösen Therapien, die darauf abzielen, die Lebensqualität von Menschen mit Demenz zu verbessern und ihre kognitiven und emotionalen Fähigkeiten zu erhalten oder zu fördern.
Hier einige Beispiele:
- Musiktherapie: Musiktherapie wirkt stimmungsstabilisierend, angstlösend und kann agitiertes Verhalten deutlich reduzieren. Studien zeigen, dass vor allem biografisch bedeutsame Musik Erinnerungen weckt und emotionale Zugänge eröffnet - selbst bei fortgeschrittener Demenz. Der Einsatz kann sowohl rezeptiv (Musikhören) als auch aktiv (Singen, Trommeln, Tanzen) erfolgen. Beispiel: Frau Müller (83 Jahre, Alzheimer-Demenz) erfährt durch Musiktherapie Linderung ihrer abendlichen Unruhe.
- Bewegungstherapie: Bewegungstherapie unterstützt nicht nur die körperliche Fitness, sondern wirkt sich nachweislich positiv auf depressive Symptome, Schlafstörungen und allgemeines Wohlbefinden aus. Beispiel: Herr Schmidt (78 Jahre, vaskuläre Demenz) erlebt durch ein individuelles Bewegungsprogramm und eine Tanzgruppe eine Aktivierung seines Körpers und seiner sozialen Kontakte.
- Kognitive Aktivierung: Kognitive Aktivierung zielt darauf, spezifische kognitive Fähigkeiten wie Gedächtnis, Orientierung oder Problemlösen durch strukturierte Übungen zu trainieren. Sie eignet sich besonders in frühen Demenzstadien. Beispiel: Frau Weber (80 Jahre, frühe Alzheimer-Demenz) profitiert von gezielten Übungen zur Gedächtnis- und Orientierungsförderung.
- Multimodale Ansätze: Multimodale Ansätze, die z. B. Musik-, Bewegungs- und Aromatherapie kombinieren, gelten als besonders effektiv zur Behandlung von BPSD. Beispiel: Herr Braun (85 Jahre, Lewy-Body-Demenz) erfährt durch einen multimodalen Ansatz eine Reduktion seiner nächtlichen Unruhe und Halluzinationen.
- Schlafförderung: Ein häufig unterschätzter Baustein ist die Schlafförderung. Schlechter Schlaf verstärkt Verwirrtheit, Reizbarkeit und depressive Symptome. Die Leitlinie empfiehlt Lichttherapie, schlafhygienische Maßnahmen, tagesstrukturierende Aktivitäten sowie die Vermeidung schlafstörender Reize. Beispiel: Frau Keller (82 Jahre, vaskuläre Demenz mit depressiven Zügen) erhält Unterstützung zur Verbesserung ihres Schlafs.
Empowerment und Teilhabe
Es ist wichtig, Menschen mit Demenz in ihrem Alltag zu empowern und ihnen Möglichkeiten zur Teilhabe zu bieten. Dies kann durch die Übertragung von kleinen Alltagsverantwortlichkeiten oder die Einbindung in Aktivitäten geschehen, die ihren Interessen und Fähigkeiten entsprechen. Beispiel: Herr Fischer (79 Jahre, fortgeschrittene Demenz) erlebt durch Aufgaben in der Gartengruppe und kleine Alltagsverantwortung ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und sozialer Integration.
Herausforderungen und Lösungsansätze in der Umsetzung
In der Praxis sind Zeitdruck, Personalmangel und strukturelle Begrenzungen häufig Hindernisse für eine individualisierte Begleitung. Umso wichtiger sind multiprofessionelle Teams, klare Verantwortlichkeiten, regelmäßige Fallbesprechungen und die kontinuierliche Schulung des Personals.
Pflegekräfte, Betreuungskräfte wie pflegende Angehörige arbeiten häufig unter hohem Zeitdruck und mit personellen Engpässen. Die Komplexität der Demenzversorgung erfordert jedoch gerade Zeit, Geduld und Präsenz. Eine beziehungsorientierte Haltung lässt sich nicht in Checklisten abbilden oder in wenigen Minuten pro Schicht realisieren. Das stellt alle Beteiligten gleichermaßen vor große Herausforderungen.
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Nicht jede Maßnahme ist in jedem Setting umsetzbar. Gerade in Einrichtungen mit geringer Personaldichte sind kreative, pragmatische Lösungen gefragt. Ein Schlüssel zur professionellen Praxis ist die kontinuierliche Reflexion: Was gelingt - und was nicht? Welche Haltungen leiten mich? Welche Bedürfnisse hat der Mensch mit Demenz wirklich - und welche bringe ich selbst ein? Reflexion hilft, Automatismen zu erkennen, Vorurteile zu hinterfragen und Beziehung bewusst zu gestalten.
Die Rolle der Pflegekräfte und Angehörigen
Bisherige Ansätze nehmen die Pflegeperson selbst als Interaktionspartner des Menschen mit Demenz mit ihren impliziten Einstellungen dem Alter und den Demenzkranken gegenüber noch kaum als Gegenstand der Betrachtung wahr. Die Ergebnisse zeigen, dass die Pflegepersonen mehrheitlich eine positive bis sehr positive Einstellung Menschen mit Demenz gegenüber haben. Weiter konnte ein Zusammenhang zwischen Einstellung und Verhalten in der Richtung festgestellt werden, dass je positiver die Einstellung ist, desto größer ist die Passung zwischen Pflegeperson und demenzkranker Person in der Interaktion.
Pflegebeziehungen sind keine Einbahnstraße. In gelingender Beziehung erfahren auch Pflegende Sinn, Anerkennung und persönliche Weiterentwicklung. Beziehungsgestaltung ist mehr als ein Mittel zum Zweck - sie ist das eigentliche Medium pflegerischen Handelns.
Wer Menschen mit Demenz einfühlsam begegnen möchte, braucht selbst innere Stabilität. Nur wer bei sich ist, kann für andere da sein.
12 positive Interaktionen im Umgang mit Menschen mit Demenz
Eine Erklärung bietet der „Personenzentrierte Ansatz“ nach Tom Kitwood, britischer Psychogerontologe, der unter anderem maßgeblich an der Entwicklung des „Dementia Care Mapping“ beteiligt war. Ein Teil dieses Ansatzes besteht aus den sogenannten „12 positiven Interaktionen“ zwischen dem Menschen mit Demenz und seinem Begleiter. Er beinhaltet den Grundgedanken, dass jeder Mensch mit Demenz einzigartig, in sich und in seinem Erleben, ist. Die folgenden Interaktionen könnten Ihnen die Arbeit erleichtern.
- Der Mensch mit Demenz wird als einzigartig anerkannt. Das gilt auch für seine Wahrnehmung und die für ihn gültige Realität. Wir hören der Person zu und sind dabei sowohl empathisch, als auch authentisch.
- So lange der Mensch mit Demenz seinen Willen ausdrücken kann, nehmen wir diesen an und respektieren ihn.
- Wir arbeiten nicht „am“ Bewohner, sondern „mit“ dem Bewohner.
- Wir Pflegekräfte wollen immer etwas von unseren Bewohnern. Waschen, Mahlzeiten anreichen, Toilettengänge durchführen etc. Dem Menschen mit Demenz tut es gut, wenn wir uns z.B. zu ihm setzen und einfach mal nichts wollen. Vielleicht reden wir, trinken gemeinsam etwas oder spielen. Auf diese Weise signalisieren wir ihm, dass wir gerne bei ihm sind.
- Timalation, griechisch, bedeutet in etwa: „ich ehre dich.“ Es wird häufig da eingesetzt, wo verbale Kommunikation nicht möglich ist. Wir kommunizieren über sensorische Reize und bieten dem Erkrankten Wahrnehmungsreize. Doch auch Menschen im früheren Stadium der Demenz erfreuen sich an sensorischen Reizen.
- 7. Der Mensch mit Demenz benötigt genauso selbstverständlich Zeit für sich selbst, wie jeder gesunde Mensch auch. Geben wir ihm diese Möglichkeit und sind nicht überängstlich, wenn sich jemand auf sein Zimmer zurückzieht. Zum Glück arbeiten so viele Betreuungskräfte wie nie zu vor in der Pflege.
- Wir versetzen uns in den Menschen hinein, akzeptieren seine Wirklichkeit und damit ihn selbst als Person.
- Gerade im Pflegebereich wird viel über die Fähigkeit, Nähe und Distanz halten zu können, gesprochen. Entschuldigung; Wenn ein Mensch gedrückt und gehalten werden muss, bzw. das Bedürfnis danach hat, dann drücken und halten wir ihn.
- Etwas nicht mehr tun zu können, was einem wichtig ist, bedeutet einen gewaltigen Verlust an Lebensqualität.
- Es ist bekannt, dass Menschen mit schwerer Demenz positiv auf immer gleich ablaufende Rituale reagieren. Ein stets wiederkehrender Tagesablauf bietet viel Sicherheit. Hier sind wir darauf angewiesen, dass alle Kollegen an einem Strang ziehen.
- Wir Menschen definieren uns über viele Dinge. Eines davon ist, dass ich für etwas, dass ich in Anspruch nehme, bezahle, oder mich revanchiere. Bei Menschen mit Demenz hört das nicht auf. Häufig möchten Sie uns für unsere Arbeit etwas geben und genauso häufig blicken wir in enttäuschte Augen, wenn wir ablehnen, sei es nun Geld, Schokolade oder Bonbons. Geben zu können, in diesem Fall sogar, zu dürfen, ist ein Zeichen von Dank, Anerkennung und Zuneigung.
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