Der Umgang mit Menschen mit Demenz stellt Angehörige und Pflegekräfte vor komplexe ethische Fragen. Eine der heikelsten ist die Frage nach der Wahrheit: Dürfen wir lügen, um einen Menschen mit Demenz zu beruhigen oder vor Leid zu bewahren? Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Facetten dieser Debatte und zeigt Strategien für einen einfühlsamen und respektvollen Umgang auf.
Die Realität der Demenz: Gedächtnisverlust und veränderte Wahrnehmung
Demenz ist weit mehr als nur Vergesslichkeit. Sie beeinträchtigt die Wahrnehmung, das Verhalten und das Erleben der Betroffenen grundlegend. Menschen mit Demenz verwechseln oft Personen, vergessen aktuelle Daten und leben in einer veränderten Realität. Sie stellen immer wieder dieselben Fragen, wiederholen Sätze oder Handlungen, was für die Betreuenden sehr anstrengend sein kann.
"Viele Menschen mit Demenz stellen immer wieder dieselbe Frage oder wiederholen die gleichen Sätze oder Handlungen. Das kann für die Betreuenden ausgesprochen anstrengend und belastend sein und den Eindruck nähren, dass der Mensch einen mit Absicht ärgern will."
Im mittleren Stadium der Demenz tritt oft ein ausgeprägter Bewegungsdrang in Verbindung mit starker Unruhe auf. Schlafstörungen und die Unfähigkeit, Tag und Nacht zu unterscheiden, können dazu führen, dass sich dieses Wandern auch auf die Nacht ausdehnt.
"Seit mein Vater zu uns gezogen ist, irrt er oft in der Nacht orientierungslos durch unser Haus, weil er nicht schlafen kann."
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Die eingeschränkte Fähigkeit, Situationen und Wahrnehmungen richtig zu deuten, führt häufig zu Erklärungsversuchen, die nicht mit der Realität übereinstimmen. Betroffene beschuldigen beispielsweise Angehörige des Diebstahls oder halten Verwandte für verkleidete Fremde.
"Meine Frau war von heute auf morgen von der Idee besessen, dass die Nachbarn unsere Post stehlen."
Mit dem Fortschreiten der Demenz wird die Lebenswelt der Betroffenen weitgehend von den noch vorhandenen Erinnerungen geprägt. Sie leben mit den Vorstellungsbildern einer bestimmten Lebensphase und verhalten sich dementsprechend.
Die ethische Debatte: Wahrheit oder "therapeutisches Lügen"?
Soll man einen Menschen mit Demenz korrigieren, wenn er beispielsweise glaubt, es sei das Jahr 1985? Oder ist es besser, "mitzuspielen" und somit zu flunkern? Diese Frage ist Gegenstand einer großen ethischen Debatte.
"Soll ich korrigieren, wenn ein Erkrankter denkt, es ist 1985 - oder mitspielen und folglich flunkern?"
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Die Antwort ist nicht einfach und hängt von der jeweiligen Situation und den Bedürfnissen des Betroffenen ab. Wichtig ist, abzuwägen, wann es sinnvoll ist zu korrigieren und wann ein Abweichen von der Wahrheit in Ordnung ist.
Einige Experten plädieren für das sogenannte "therapeutische Lügen" - eine mitfühlende Art, die Wahrheit so zu verändern, dass die Person mit Demenz beruhigt wird, anstatt sie noch mehr zu verunsichern.
"Hier kommt das ‚therapeutische Lügen‘ ins Spiel - eine mitfühlende Art, die Wahrheit so zu verändern, dass die Person mit Demenz beruhigt wird, anstatt sie noch mehr zu verunsichern."
Dabei geht es um Einfühlungsvermögen, nicht um Täuschung. Eine sanfte Umleitung oder eine beruhigende Antwort kann helfen, die Person zu beruhigen.
"Eine sanfte Umleitung, wie z. B.„Sie sind gerade erst gegangen“ oder„Lassen Sie uns etwas zusammen unternehmen„, hilft, die Person zu beruhigen."
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Andere Experten warnen jedoch vor den negativen Auswirkungen von Lügen. Sie argumentieren, dass Lügen die Vertrauensbeziehung zum Betroffenen untergraben und seine Orientierung weiter verschlechtern können.
"Lügen wirkt sich negativ auf die Vertrauensbeziehung zum Belogenen aus. Je vertrauensvoller und wertschätzender ich mir eine Beziehung wünsche, desto verletzender und zerstörerischer wirkt die Lüge."
Argumente gegen das Lügen
- Vertrauensverlust: Lügen kann das Vertrauen zwischen dem Betreuer und der Person mit Demenz untergraben. Vertrauen ist jedoch eine wesentliche Grundlage für eine gute Beziehung und erfolgreiche Betreuung.
- Verstärkte Verwirrung: Obwohl eine Lüge im ersten Moment beruhigend wirken kann, kann sie langfristig die Verwirrung des Betroffenen verstärken. Wenn die Person später die Wahrheit erfährt oder Widersprüche bemerkt, kann dies zu noch größerer Unsicherheit und Angst führen.
- Entmündigung: Das ständige Anwenden von Lügen kann dazu führen, dass sich die Person mit Demenz entmündigt und nicht ernst genommen fühlt. Es ist wichtig, die Autonomie und Würde des Betroffenen zu respektieren, auch wenn seine kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt sind.
- Ethische Bedenken: Aus ethisch-moralischer Sicht ist Lügen grundsätzlich negativ belegt. Es bedeutet, den anderen vorsätzlich zu täuschen und ihm Informationen vorzuenthalten, die er im Grunde erhalten sollte.
Wann "therapeutisches Lügen" in Betracht gezogen werden kann
Trotz der genannten Bedenken gibt es Situationen, in denen "therapeutisches Lügen" eine Option sein kann, insbesondere wenn es darum geht, massive Furcht und Unruhe zu beheben. Dies sollte jedoch immer die absolute Ausnahme sein und nur nach sorgfältiger Abwägung aller Faktoren erfolgen.
- Akute Notfälle: Wenn eine Person mit Demenz in Panik gerät oder sich in einer gefährlichen Situation befindet, kann eine Notlüge dazu beitragen, die Situation zu entschärfen und den Betroffenen zu beruhigen.
- Wiederholte Trauer: Wenn eine Person mit Demenz jeden Tag nach ihrem verstorbenen Ehepartner fragt und jedes Mal aufs Neue trauert, kann es humaner sein, eine beruhigende Antwort zu geben, anstatt die schmerzhafte Wahrheit immer wieder zu wiederholen.
- Unrealistische Wünsche: Wenn eine Person mit Demenz einen dringenden Wunsch hat, der nicht erfüllt werden kann (z.B. einen Besuch bei den Eltern, die bereits verstorben sind), kann eine Notlüge helfen, die Enttäuschung zu mildern.
Alternativen zum Lügen: Wertschätzung und Validation
Anstatt auf Lügen zurückzugreifen, gibt es viele andere Strategien, die einen wertschätzenden und akzeptierenden Umgang mit Menschen mit Demenz ermöglichen.
- Validation: Die Validation ist eine Kommunikationsmethode, die darauf abzielt, die Gefühle und Bedürfnisse des Menschen mit Demenz anzuerkennen und zu bestätigen, auch wenn sie irrational erscheinen. Anstatt die Realität zu korrigieren, geht es darum, die Welt des Betroffenen zu verstehen und ihm das Gefühl zu geben, gehört und verstanden zu werden.
- Ablenkung: In manchen Situationen kann es hilfreich sein, die Person mit Demenz abzulenken, um sie von belastenden Gedanken oder Wünschen abzulenken. Dies kann durch gemeinsame Aktivitäten, Gespräche über angenehme Erinnerungen oder das Anbieten von beruhigenden Reizen (z.B. Musik, eine Tasse Tee) geschehen.
- Anpassung der Umgebung: Eine sichere und vertraute Umgebung kann dazu beitragen, Ängste und Verwirrung zu reduzieren. Dies kann durch das Anbringen von Orientierungshilfen, das Schaffen einer ruhigen Atmosphäre und das Vermeiden von unnötigen Veränderungen erreicht werden.
- Ehrlichkeit in lichten Momenten: Viele Menschen mit Demenz haben lichte Momente, in denen sie die Realität klarer erfassen. In solchen Momenten kann es möglich sein, ihnen Informationen mitzuteilen, die sie sonst nicht verstehen würden. Dies sollte jedoch immer mit viel Feingefühl und in einer ruhigen Umgebung geschehen.
Schritte zur wertschätzenden Kommunikation
- Emotionale Anteile erkennen: Achten Sie auf die emotionalen Botschaften, die hinter den Aussagen des Betroffenen stehen (z.B. Sorge, Angst, Freude).
- Emotionen widerspiegeln: Sprechen Sie die vermuteten Gefühle mit Ihren eigenen Worten aus (z.B. "Sie scheinen sich Sorgen zu machen.").
- Gefühle bestätigen: Vermitteln Sie dem Betroffenen, dass seine Gefühle berechtigt sind (z.B. "Es ist verständlich, dass Sie sich so fühlen.").
Umgang mit Aggressionen und Beschuldigungen
Menschen mit Demenz können sich manchmal verbal oder körperlich aggressiv verhalten. Auslöser sind oft die erschwerten Lebensbedingungen und die daraus resultierende Angst der Betroffenen. In solchen Momenten ist es wichtig, gelassen zu bleiben, die betroffene Person zu beruhigen und auf die eigene Sicherheit zu achten.
"Versuchen Sie, gelassen zu bleiben und die betroffene Person zu beruhigen. Achten Sie auch auf Ihre Sicherheit, falls der Mensch mit Demenz zu aggressivem Verhalten neigt und dabei gefährliche Gegenstände benutzt."
Auch Beschuldigungen, die nicht der Wahrheit entsprechen, sind keine Seltenheit. In solchen Fällen ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass diese Äußerungen kein böswilliger Angriff sind, sondern ein Versuch, Lücken in der Erinnerung zu füllen.
"Der Umgang miteinander wird daher erleichtert, wenn sich die Pflegenden vor Augen führen, dass die „Beschuldigungen“ keine bösartigen Verleumdungen darstellen, sondern lediglich ein Versuch sind, Lücken in der Erinnerung zu füllen."