Demenz und Migration: Eine wachsende Herausforderung in Deutschland

Die alternde Gesellschaft in Deutschland sieht sich mit einer wachsenden Zahl älterer Menschen mit Migrationshintergrund konfrontiert. Dies führt zu einem Anstieg der Migranten, die mit Demenz leben. Kultursensible Pflege wird immer wichtiger, insbesondere angesichts der gestiegenen Zuwanderung in den letzten Jahren. Krankenhäuser, Beratungsstellen, Pflegedienste und Pflegeeinrichtungen erwarten zukünftig mehr Migranten mit Demenz.

Demenz bei Menschen mit Migrationshintergrund

Menschen mit Migrationshintergrund und Demenz sind oft besonders belastet, da ihre Umgebung ihnen „doppelt fremd“ erscheint. Erinnerungen an das Herkunftsland verblassen, und soziokulturelle Wertvorstellungen rücken wieder in den Vordergrund. Die aktuellen Lebensbedingungen, an die sich die Betroffenen gewöhnt hatten, erscheinen zunehmend fremder. Hinzu kommt der Verlust der deutschen Sprache.

Daten und Fakten

Im Jahr 2022 lebten in Deutschland 23,8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, was 28,7 Prozent der Bevölkerung entspricht. Bundesweit leben etwa 137.000 Menschen mit Migrationshintergrund mit Demenz. Da die Zahl älterer Migranten in Deutschland wächst, ist davon auszugehen, dass Demenz in dieser Bevölkerungsgruppe zunehmen wird. Spätaussiedler und Migranten aus Mittel- und Osteuropa bilden derzeit die größte Gruppe unter den älteren Menschen mit Migrationshintergrund. Die Anzahl der über 65-jährigen russischsprachigen Migranten ist deutlich größer als die der älteren türkischstämmigen Migranten.

Kulturelle Identität und Demenz

Es hilft Menschen mit Demenz und Migrationshintergrund in besonderem Maße, wenn ihre kulturelle Identität von anderen geachtet wird, da sich durch die Demenz das Gefühl von Fremdheit und Unsicherheit noch verstärkt. Die eigene Kultur vermittelt Orientierung und Sicherheit, da auch die erlernte deutsche Sprache mit der Demenz zunehmend verloren geht.

Herausforderungen und Zugangsbarrieren

Für Menschen mit Migrationshintergrund, die von Demenz betroffen sind, kann sich der Zugang zu medizinischen Informationen, ärztlicher Betreuung und Versorgungsangeboten aufgrund von Sprachbarrieren und kulturellen Unterschieden als schwierig erweisen. Kultursensible medizinische und pflegerische Betreuung sowie mehrsprachige Informationsmaterialien sind bislang nicht Standard.

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Migrationsspezifische Zugangsbarrieren

Migrationsspezifische Zugangsbarrieren umfassen beispielsweise:

  • Sprach- und Kommunikationsdefizite, da nach Eintritt der Demenz die Erkrankten in ihre Muttersprache verfallen (früher Verlust der Zweitsprache Deutsch)
  • Andere gesellschaftliche Krankheitsvorstellungen

Dreifache Fremdheit

Experten sprechen in diesem Zusammenhang von einer dreifachen Fremdheit bei Migranten: Demenz, Alter und Migration. Migranten altern in der Regel etwa zehn Jahre früher als die Mehrheitsgesellschaft. Ursachen dafür sind u.a. familiäre und soziale Trennung, niedriges Bildungsniveau, schlechte Arbeits- sowie Wohnverhältnisse, kein bzw. geringer Zugang zum Gesundheits- und Sozialwesen aufgrund von Sprachdefiziten.

Die Situation in Europa

In Europa leben gegenwärtig 86,7 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund (MmM). Davon sind 16,2 % 65 Jahre oder älter (circa 14 Millionen) und befinden sich in einer Altersgruppe die ein erhöhtes Risiko haben, um an einer Demenz zu Erkranken. Wissenschaftliche Studien deuten darauf hin, dass MmM ein erhöhtes Demenz-Risiko haben. Eine Analyse aus dem Jahr 2019 schätzt die Zahl der MmM mit Demenz in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) und der Europäischen Freihandelszone (EFTA) auf etwa 475.000.

Die gesundheitlichen Folgen einer Demenz-Erkrankung sind bei MmM oftmals schlimmer als bei Menschen aus der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Ursächlich ist unter anderem, dass das Gesundheitssystem häufig nicht für die Versorgung dieser Bevölkerungsgruppe ausgestattet ist und nicht über Versorgungsleistungen verfügt, die für ihre Bedürfnisse geeignet sind. Gleichzeitig besteht auf der Seite der MmM meist ein Mangel an Wissen über Demenz und das Gesundheitssystem mit seinen Versorgungsleistungen.

Um sich dieser Herausforderung zu stellen und den betroffenen Menschen die bestmögliche Unterstützung und Aufklärung zukommen zu lassen, benötigen Gesundheitssysteme, medizinisches Fachpersonal, sowie Politikerinnen und Politiker und Akteurinnen und Akteure mehr Informationen über diese vulnerable Bevölkerungsgruppe.

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Der EU-Atlas Demenz und Migration

Der EU-Atlas Demenz und Migration schließt diese Forschungslücke, in dem er folgendes bietet:

  • Prävalenzdaten und grafische Darstellung für die 27 EU- und 4 EFTA-Mitgliedsstaaten sowie das Vereinigte Königreich;
  • Analysen von nationalen Demenzplänen und Leitlinien zu Diagnose, Behandlung und Versorgung; und
  • Analysen von Gesundheitssystemen im Hinblick auf die Versorgungsleistungen und Unterstützung, die sie für die betroffenen Menschen bereitstellen.

Lösungsansätze und Initiativen

Es ist seitens des Unterstützungssystems dringend erforderlich, Migrantinnen und Migranten und ihre Angehörigen stärker in den Blick zu nehmen und Versorgungsstrukturen zu entwickeln, die auf sprach- und kulturspezifische Bedürfnisse der Betroffenen und ihrer Angehörigen eingehen, um Menschen mit Migrationshintergrund den Zugang zu erleichtern.

Kultursensible Pflege

Entsprechend wird der Ruf nach kultursensibler Pflege zunehmend lauter. Allerdings existiert noch kein anerkannter (internationaler) interaktions- und kommunikationstheoretischer Referenzrahmen und die Demenz hat als spezifischer Fall altersbedingter Pflegebedürftigkeit bislang wenig Beachtung gefunden.

Informationen in verschiedenen Sprachen

Viele Menschen mit Migrationshintergrund, die an Demenz erkranken, fühlen sie sich in ihrem kulturellen Umfeld besonders fremd. Tritt in einer Familie eine Demenzerkrankung auf, suchen Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen auch im Internet nach Informationen. Ein Angebot in der eigenen Muttersprache erleichtert das Verstehen und hilft, die nächsten Schritte zu planen. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz (DAlzG) hat daher aktuell ihr Sprachenspektrum um die arabische Sprache erweitert.

Die Internetseite www.demenz-und-migration.de richtet sich an Familien, die von Demenz betroffen sind und einen Migrationshintergrund haben. Das Portal bietet grundlegende Informationen über Demenz in türkischer, polnischer, russischer, englischer und nun auch in arabischer Sprache. Auch die eingebundenen Erklärfilme zu Themen wie „Was ist Demenz?“ oder „Kommunikation und Umgang“ sind ab sofort auf Arabisch verfügbar.

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Die Webseite www.demenz-und-migration.de ist die gemeinsame Seite der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e. V. Selbsthilfe Demenz und der bundesweiten Initiative Demenz und Migration - DeMigranz. Auf der Seite werden in einer Netzwerkkarte auch Anlaufstellen für Menschen mit Migrationshintergrund dargestellt.

Unterstützung für Angehörige

Rund 98% der pflegebedürftigen Migrantinnen und Migranten werden von ihren Angehörigen im häuslichen Umfeld versorgt und betreut (meist Töchter und Schwiegertöchter) - eine vorübergehende Pflege wird meist zum Dauerzustand. Zur Entlastung ist die Inanspruchnahme von Entlastungs- und Unterstützungsangeboten erforderlich. Aber: Nichtkultursensible Angebote können bzgl. migrationsspezifischer Zugangsbarrieren vonseiten der Migranten nicht in Anspruch genommen werden. Außerdem sind solche kultursensiblen Angebote nicht flächendeckend vorhanden.

Der Kontakt zu Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, kann helfen mit der eigenen Situation besser zurechtzukommen. Vernetzung spielt eine ebenso große Rolle wie professionelle Beratung. Beratungsstellen, lokale Alzheimer-Gesellschaften oder Wohlfahrtsverbände bieten häufig Selbsthilfegruppen für Angehörige von Menschen mit Demenz an. Unser Angehörigen-Forum bietet hier eine Plattform für den persönlichen Austausch, der hilfreich sein kann.

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