Der Bauch: Unser zweites Gehirn – Wissenschaftliche Erkenntnisse über die Darm-Hirn-Achse

Der Darm, oft als unser "zweites Gehirn" bezeichnet, ist weit mehr als nur ein Verdauungsorgan. Die Wissenschaft hat in den letzten Jahren ein komplexes Netzwerk der Kommunikation zwischen Darm und Gehirn entdeckt, die sogenannte Darm-Hirn-Achse. Diese Verbindung beeinflusst nicht nur unsere Verdauung, sondern auch unsere Stimmung, unser Verhalten und sogar unsere Entscheidungen.

Die Darm-Hirn-Achse: Eine bidirektionale Kommunikationsstraße

Die Darm-Hirn-Achse beschreibt die enge Wechselwirkung zwischen unserem Verdauungstrakt und unserem Gehirn. Diese Verbindung wird über Nervenzellen und im Blut zirkulierende Botenstoffe hergestellt. Erkrankungen im Magen-Darm-Trakt können Hirnfunktionen beeinflussen, und umgekehrt können Hirnfunktionen Funktionszustände im Magen-Darm-Trakt steuern. Störungen in einem Organ haben somit spürbare Einflüsse auf das andere.

Das enterische Nervensystem (ENS): Das "Bauchhirn"

In unserem Bauch ist ein komplexes Geflecht von Nervenzellen verborgen, das enterische Nervensystem (ENS). Es liegt zwischen den Muskeln des Verdauungsapparates und zieht sich nahezu durch den gesamten Magen-Darm-Trakt, von der Speiseröhre bis zum Darmausgang. Mit seinen 100 bis 200 Millionen Neuronen ist es sogar größer als das Nervensystem im Rückenmark. Diese Bezeichnung ist gar nicht so abwegig, denn genaugenommen ist das ENS tatsächlich so etwas wie eine Kopie des Gehirns in unserem Kopf: Beide Nervensysteme besitzen dieselben Zelltypen und nutzen sogar dieselben Botenstoffe zur Kommunikation. So kommen Neurotransmitter wie Serotonin sowohl im Kopf- als auch im Bauchgehirn vor.

Autonome Steuerung der Verdauung

Für seine Hauptaufgabe, die Verdauung, braucht der Darm den Kopf jedenfalls nicht. Nach dem Schlucken übernimmt das Bauchgehirn das Kommando. Selbst wenn wir wollten, könnten wir die Verdauung nicht beeinflussen. Die Nervenzellen regulieren die Umsetzung der Nahrung, sie steuern die Darmbewegungen und sorgen dafür, dass sich der Darm regelmäßig leert - spätestens alle 72 Stunden. Dass der Bauch all das selbstständig regelt, hat den Vorteil, dass unser Kopf sich um anderes kümmern kann.

Das ENS analysiert die Zusammensetzung der zugeführten Nahrung, steuert die Darmbewegungen und kontrolliert, was der Körper aufnimmt und was nicht. All diese Funktionen übernimmt dieses Gehirn der anderen Art in Eigenregie. Es agiert völlig autonom und ist anders als viele andere Organe nicht auf eine Steuerung durch das Gehirn im Kopf angewiesen.

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Ein einfaches Beispiel für die Funktion des Bauchhirns ist die Reaktion auf verdorbene Lebensmittel. Das Bauchhirn meldet ans Kopfhirn, dass Gifte im Körper sind, die hier nicht hingehören. Das Gehirn wird über den Vagusnerv zur Situation im Darm, in anderen Organen des Bauchraumes und über den Zustand des Immunsystems informiert. Mindestens 80 Prozent der Nervenfasern des Vagusnervs verlaufen vom Bauchraum zum Gehirn.

Die Rolle des Darms für unsere Gesundheit

Der Darm spielt eine zentrale Rolle für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. Er beeinflusst nicht nur unsere Verdauung, sondern auch unser Immunsystem, unsere Stimmung und unser Verhalten.

Der Darm als Immunorgan

Zellen der Darmwand haben eine enorme immunologische Potenz, so dass der Darm mit dem größten Immunsystem im Körper wesentlich für eine gut funktionierende Abwehr ist. 70 Prozent der Immunabwehr werden im Darm organisiert. Denn das dunkle, warme Gebräu aus Nahrungsbrei und Schleim zieht auch gefährliche Keime an. Nicht die Haut, sondern die Darmschleimhaut stellt die größte Kontaktfläche des Körpers zur Außenwelt dar - und seine härteste Front, imprägniert mit bakterientötenden Eiweißen, und in der Darmwand sitzen Millionen Abwehrzellen des Immunsystems - T-Zellen, B-Zellen, Makrophagen.

Das Mikrobiom: Eine Welt voller Bakterien

Bei der Verdauung helfen dem Darm etwa zwei Kilogramm nützliche Bakterien, die sich aus bis zu 1000 verschiedenen Arten zusammensetzen. In jedem Gramm Darminhalt leben mehr Mikroben als Menschen auf der Erde. Das sogenannte "Mikrobiom" besteht aus insgesamt 100 Billionen Einzellern, mehr als der Körper selbst an Zellen besitzt. DNA-Analysen lassen über 1000 unterschiedliche Arten erkennen, pro Mensch sind es zwei- bis fünfhundert in einer höchst individuellen Mischung.

Das Mikroben-Organ im Darm spaltet unverdauliche Nahrung auf, liefert Vitamine, regt den Darm zu mehr Bewegung an, hilft der Darmschleimhaut zu regenerieren, hält Krankheitskeime fern und baut Giftstoffe ab. Jede Bakterienart hat ihren eigenen Fortpflanzungszyklus, ihren eigenen Stoffwechsel, scheidet andere Substanzen aus und tritt mit den bakteriellen Mitbewohnern des Darms, aber auch mit dem Nervengeflecht des Darms oder dem Immunsystem auf andere Weise in Wechselwirkung.

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Einfluss des Darms auf Psyche und Verhalten

Mikroorganismen, ihre Zusammensetzung und ihre Stoffwechselprodukte können über die Verbindung vom Darm zum Gehirn auch Einfluss auf Vorgänge im Gehirn nehmen. 95 Prozent des im menschlichen Körper produzierten Botenstoffs Serotonin stammen aus dem Magen-Darm-Trakt. Ein hoher Serotoninspiegel lässt die Stimmung steigen und vertreibt Aggressionen, Angst und schlechte Laune.

Die Darmbakterien können sogar die Gehirnleistungen ihres Wirtes beeinflussen. Je eingehender Wissenschaftler die Verhältnisse im Darm untersuchen, umso länger wird auch die Liste der Krankheiten, die möglicherweise irgendwie von den Bakterien im Darm beeinflusst werden: Dazu gehören chronisch entzündliche Darmkrankheiten wie Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Reizdarm oder der "löchrige Darm" - "leaky gut". Aber auf der Liste stehen auch Autoimmunerkrankungen an ganz anderen Stellen im Körper - multiple Sklerose, Arthritis, Rheuma, Diabetes.

Störungen des Darms und ihre Folgen

Ist jedoch das empfindliche Gleichgewicht der Darmflora, die aus etwa 100 Billionen Bakterien besteht, gestört, wird unser Wohlbefinden massiv beeinträchtigt. Es folgen Krankheiten, deren Auslöser zum Teil gar nicht mehr erkennbar ist, wie beispielsweise chronische Schmerzsyndrome. Störungen der Verdauung beeinflussen nicht nur metaphorisch die Stimmung - wenn uns "etwas auf den Magen schlägt" oder die "Schmetterlinge im Bauch" flattern, kommt die Wechselwirkung von Psyche und Darm zum Tragen.

Ein geschwächtes Immunsystem, die Anfälligkeit für Infektionen und andere Erkrankungen sowie Verstimmungen bis hin zu Depressionen können die Folge sein. Umso wichtiger sei es, den Darm zu stärken und zu schützen.

Forschung und therapeutische Möglichkeiten

Die Erforschung unseres „Bauchhirns“ befasst sich die Neurogastroenterologie. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse eröffnen ungeahnte therapeutische Möglichkeiten.

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Neue Therapieansätze

Die Erkenntnisse zur Darm-Hirn-Achse bieten erste Ansätze für Therapien. Zum Beispiel könnten mit Probiotika entsprechende Störungen behandelt werden. Auch inwiefern eine Transplantation von dem Stuhl gesunder Menschen in den Darm erkrankter Probanden helfen könnte, wird erforscht.

Der Vagusnerv im Fokus

Der Vagusnerv verschaltet Gehirn und Darm direkt miteinander. Heute ist klar: 90 Prozent der Informationen funkt der Darm nach oben. Der intime Kontakt zwischen Darm-Hirn und Kopf-Hirn ist überlebenswichtig: Nur im Team können die Nervensysteme den Energiehaushalt des Körpers optimal steuern.

Ernährung und Lebensweise für ein gesundes Bauchhirn

Eine abwechslungsreiche Ernährung mit einer Fülle von Vitaminen, Mineralstoffen, Spurenelementen, hochwertigen Eiweißen und die maßvolle Zufuhr von Kohlenhydraten scheint die beste Pflege für unser Bauchhirn zu sein. Insbesondere die Verwendung von nicht verarbeiteten Lebensmitteln entlastet den Darm und gibt unserem Bauchhirn die Information „hier ist nichts Schädliches im Umlauf“. Entsprechend positiv entwickelt sich die Darmflora, deren Informationen und Stoffwechselprodukte das Kopfhirn nicht negativ beeinflussen.

Eine ungesunde Ernährung und Lebensweise greifen die Schutzbarriere im Darm an und zerstören diese durch massiven Gebrauch von Genussgiften wie Alkohol, Nikotin oder Koffein.

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