Der Rahmen: Ein Blick des Gehirns auf unser Ich – Eine Erklärung

Die moderne Hirnforschung hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht und ermöglicht uns faszinierende Einblicke in die Funktionsweise unseres Gehirns. Dabei rückt immer stärker in den Fokus, wie unser Gehirn unsere Wahrnehmung, unser Denken, unser Handeln und letztendlich unser Selbstverständnis prägt. Dieser Artikel beleuchtet das Thema "Der Rahmen: Ein Blick des Gehirns auf unser Ich" und versucht, komplexe neurobiologische Prozesse verständlich zu erklären.

Die Maschinenmetapher und die Organisation des Gehirns

Seit Descartes' Teilung des Menschen in Geist und Körper ist die Maschinenmetapher ein Leitprinzip wissenschaftlichen Denkens. Im Zeitalter von Hochleistungsrechnern beeinflussen Begriffe wie Netzwerk, Modul und Rechenleistung stark die Betrachtung geistigen Verhaltens. Wenn diese Begriffe mehr als Metaphern sind, müssen sich die zugrundeliegenden Prozesse in der physischen Organisationsstruktur des Gehirns wiederfinden.

Visuelle Reizverarbeitung als Beispiel für neuronale Rechenleistung

Botond Roska, ein renommierter Wissenschaftler, präsentierte in einem Vortrag seine Forschungsergebnisse zu den frühen Schritten der visuellen Reizverarbeitung. Er beschrieb, wie Säugetiere bestimmte Reize wahrnehmen und darauf reagieren. Beginnend mit den grundlegenden Strukturen der Retina, den Stäbchen und Zapfen, die durch visuelle Reize stimuliert werden, sieht Roska die Struktur ihrer Verbindungen als erste Ebene neuraler Rechenleistung. Diese wird unter anderem durch die Verteilung von Aufgaben auf 70 Arten von Zellen in der Netzhaut abgewickelt.

Der optokinetische Reflex und seine genetische Grundlage

Visuelle Reize lösen nicht nur passive Empfindungen aus, sondern auch Verhaltensreaktionen. Um die genetische Grundlage dieser Verbindung zu erforschen, nutzte Roskas Forschungsgruppe den "horizontalen optokinetischen Reflex" als einfaches und messbares Verhaltensmuster. Dieser Reflex ist beispielsweise aktiv, wenn wir aus dem Zugfenster schauen und die Landschaft vorbeiziehen lassen.

Bei einem menschlichen Gendefekt, dem "kongenitalen Nystagmus", ist dieser Reflex gestört. Die Betroffenen können die horizontale Bewegung ihrer Augen nicht kontrollieren. Das Problem wurde mit Defekten an einem Gen namens FRMD7 in Verbindung gebracht. Die Forscher fanden heraus, dass das Protein FRMD7 speziell in sogenannten Starburst-Amakrinzellen gebildet wird, die die Netzhaut mit richtungssensitiven Ganglienzellen verbinden. Mutationen von FRMD7 können die Struktur der Verbindungen zwischen diesen Zelltypen stören und den Reflex unterbrechen, der das Auge entlang der horizontalen Achse leitet. Dies zeigt, dass spezialisierte Zelltypen ganz bestimmte Aufgaben bei der Informationsverarbeitung und der Abwicklung von Verhaltensreaktionen übernehmen.

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Neurobildgebung und das Selbstverständnis des Menschen

Die moderne Neurobildgebung ermöglicht es, in das Gehirn zu blicken und Einblicke in die neuronalen Prozesse zu gewinnen, die mit unseren Gedanken, Gefühlen und unserem Verhalten einhergehen. Der Deutsche Ethikrat befasste sich auf seiner Herbsttagung mit der Frage, was die neuen Bilder vom Gehirn mit unserem Selbstverständnis zu tun haben. Dem Gehirn wird eine große Erklärungskraft zugesprochen, was zu einer "Zerebralisierung" unseres Menschenbildes führen könnte.

Die Bedeutung der Wechselwirkungen zwischen Gehirn, Körper und Umwelt

Thomas Fuchs betont, dass nicht das Gehirn allein sieht, denkt und fühlt, sondern der Mensch als Ganzes. Bewusstes Erleben ist die Beziehung eines Lebewesens zu seiner Umwelt, vermittelt durch den gesamten Organismus. Die "Gehirnzentrierung" der Neurowissenschaften vernachlässigt die Wechselwirkungen zwischen Gehirn, Körper und Umwelt.

Neurobildgebung in Psychiatrie und Strafrecht

In der Psychiatrie werden bildgebende Verfahren bereits eingesetzt, um organische Ursachen für psychische Erkrankungen auszuschließen oder neurodegenerative Erkrankungen zu erkennen. In Zukunft könnten sie auch in der Diagnostik, Therapieplanung und Prognostik psychischer Erkrankungen eine wichtige Rolle spielen. Allerdings müssen ethische Rahmenbedingungen geschaffen werden, um insbesondere mit prädiktiven Aussagen verantwortungsvoll umzugehen.

Auch im Strafrecht zeichnet sich ab, dass die Neurobildgebung zum Zwecke der Verteidigung eingesetzt wird, beispielsweise zur Lügendetektion oder zur Feststellung der Schuldfähigkeit. Sie kann die klassisch-psychiatrischen Gutachten jedoch nicht ersetzen, sondern vorerst nur ergänzen.

Das Lesen als Kulturtechnik und seine Auswirkungen auf das Gehirn

Das Lesen ist eine der unnatürlichsten Tätigkeiten für unser Gehirn, da es von Natur aus nicht dafür vorgesehen war. Es ist eine von Menschen erfundene Kulturtechnik, die unser Gehirn "missbraucht", indem sie neuronale Programme neu gestaltet und fremd bestimmt.

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Zwei Formen des Lesens: Alphabetschriften und Piktogrammschriften

Es haben sich im Wesentlichen zwei Formen des Lesens entwickelt: Alphabetschriften, die eine Eins-zu-eins-Zuordnung von Sprachlauten und Buchstaben versuchen, und bildliche Schriften, wie Hieroglyphen oder Piktogrammschriften. Alphabetschriften beanspruchen stärker die linke Gehirnhälfte, während Piktogrammschriften in größerem Maße Areale der rechten Gehirnhälfte beschäftigen.

Die kulturellen Konsequenzen der Erfindung der Schrift

Die Erfindung der Schrift hatte erhebliche kulturelle Konsequenzen, über deren Ausmaße wir uns oft keine hinreichenden Vorstellungen machen. Bestimmte philosophische Fragestellungen, insbesondere das Leib-Seele-Problem, könnten Artefakte der Schriftsprache sein.

Drei Formen des Wissens: Wortwissen, bildliches Wissen und Handlungswissen

Es gibt mindestens drei Formen des Wissens, die komplementär zueinander stehen: explizites Wortwissen, bildliches Wissen und implizites, intuitives und emotional aufgeladenes Handlungswissen. Der Verzicht auf die Gleichberechtigung des bildlichen und des impliziten Wissens ist eine Konsequenz der Erfindung des Lesens.

Das Leib-Seele-Problem als Sprachfalle

Das Leib-Seele-Problem kann als Artefakt der Verschriftlichung von gesprochenen Worten verstanden werden. Durch die Verselbstständigung der Begriffe werden wir dazu verführt, ihnen eigene Identitäten im Gehirn zuzuordnen. Doch Abläufe des Gehirns sind immer prozessual zu sehen.

Die Verarbeitung visueller Reize und die Rolle der Aufmerksamkeit

Trotz vieler Forschungsarbeiten zum Sehen wissen wir noch wenig über die Verarbeitung visueller Reize in höheren Gehirnarealen. Eine wichtige Forschungsfrage, die lange ignoriert wurde, ist die Selektion von Informationen durch Aufmerksamkeit. Wir sind weitgehend blind für unsere Umgebung und nehmen nur wahr, worauf unsere Aufmerksamkeit gerichtet ist.

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Die V1-Saliency-Hypothese

Die V1-Saliency-Hypothese (V1SH) besagt, dass der primäre visuelle Kortex (V1) eine Saliency-Map erstellt, um Blickwechsel für die Aufmerksamkeitsselektion zu steuern. Diese Hypothese wird durch Ergebnisse aus der Verhaltensbiologie und Physiologie untermauert.

Die zentral/peripher-Dichotomie

Die zentral/peripher-Dichotomie besagt, dass durch Änderungen der Blickrichtung die für die Weiterverarbeitung ausgewählten visuellen Eingangssignale vom peripheren ins zentrale Gesichtsfeld verschoben werden. Die höheren Areale des visuellen Kortex nutzen das Wissen des Gehirns, um fiktiven visuellen Input zu erzeugen, der zu den anfänglichen Interpretationen passt.

Hirnasymmetrien und Umweltstimulation

Die Asymmetrie des Gehirns ist ein zentrales Organisationsprinzip, das sich auch bei Tieren findet. Genetische Gründe spielen eine Rolle, aber auch die Umweltstimulation während der Reifung des Gehirns beeinflusst die Hirnasymmetrien. Beispielsweise drehen Vogelembryonen im Ei ihren Kopf so, dass ihr rechtes Auge mehr Licht bekommt als das linke, was die Hirnentwicklung asymmetrisch beeinflusst.

Framing: Die Macht der Deutungsrahmen

Framing bedeutet das sprachliche Einrahmen von Fakten. Es beeinflusst, wie wir Informationen wahrnehmen und interpretieren. Frames sind Deutungsrahmen, die in unserem Gehirn Wissen organisieren und Informationen einen Sinn zuordnen.

Wo lässt sich Framing beobachten?

Framing kommt vor allem in der Politik und in der Werbebranche zum Einsatz. Ein bekanntes Beispiel ist die Verwendung des Ausdrucks "Flüchtlingswelle", der Geflüchtete mit einer unkontrollierbaren Naturgewalt gleichsetzt. Auch in der Corona-Pandemie wurden unterschiedliche Frames verwendet, beispielsweise der Vergleich mit einem "Krieg".

Wie funktionieren die Mechanismen des Framings?

Die Metaphoriktheorie von Max Black besagt, dass unser Gehirn visuell orientiert ist und in Metaphern denkt. Durch die Wiederholung von Metaphern setzen sich diese in unserem Gehirn fest und schaffen unbewusst Realitäten.

Die kognitive Linguistik unterscheidet zwischen Surface Frames (Deutungsrahmen auf der sprachlichen Ebene) und Deep Seated Frames (tief verankerte Frames, die unser generelles Verständnis von der Welt strukturieren). Fakten, die unseren Deep Seated Frames widersprechen, werden oft ignoriert.

Was können wir tun?

Es lohnt sich, Framing im Alltag und im Job zu entlarven. Achten Sie auf Ihre eigene Wortwahl und die Ihres Gegenübers. Hinterfragen Sie die Intention des gewählten Sprachgebrauchs. Erweitern Sie Ihren Wortschatz und üben Sie den Perspektivenwechsel ("Re-Framing").

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