Das menschliche Gehirn ist ein faszinierendes und komplexes Organ, dessen vollständiges Verständnis nach wie vor eine der größten Herausforderungen der Wissenschaft darstellt. Um die Funktionsweise unseres Gehirns besser zu verstehen, müssen wir uns mit verschiedenen Aspekten auseinandersetzen, von der Verbindung zwischen Gehirn und Körper bis hin zu den neuesten Erkenntnissen der Neurowissenschaften und der Anwendung von maschinellem Lernen. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über den aktuellen Stand der Forschung und beleuchtet die vielfältigen Möglichkeiten, die sich aus einem tieferen Verständnis des Gehirns ergeben.
Die Gehirn-Körper-Verbindung: Ein Schlüssel zum Verständnis von Angst und Trauma
Ein wichtiger Aspekt beim Verständnis des Gehirns ist die enge Verbindung zwischen Gehirn und Körper. Wenn wir verstehen, wie unser Gehirn und unser Körper tatsächlich funktionieren, so hilft uns das sehr, mit der Angst umzugehen, die durch jene unangenehmen körperlichen und emotionalen Symptome entsteht, die wir alle von Zeit zu Zeit erleben. Robert Scaer erläutert in seinem neuen Buch die komplexen Zusammenhänge der Verbindung zwischen Gehirn und Körper und hilft so allen Leidenden, sich über Wesen und Ursachen ihres Zustandes klar zu werden. Indem der Autor die der Gehirn-Körper-Verbindung zugrunde liegenden neurobiologischen Konzepte und die Ursprünge der mit Streß und Traumata einhergehenden körperlichen und emotionalen Symptome erläutert, erschließt er die wissenschaftliche Sicht auch Laien. Unter anderem erklärt er, inwiefern "Gefühle" physische Empfindungen sind, die uns über das Wesen unserer Gehirn-Körper-Konflikte informieren. Außerdem beschreibt er praxistaugliche und leicht anwendbare Strategien zur Stärkung motorischer Fertigkeiten und erklärt, wie wir lernen können, uns an unseren Bauchgefühlen zu orientieren, um unsere Gefühle einzuschätzen, uns in die Gegenwart einzustimmen, unsere persönlichen Grenzen wiederherzustellen, Symptome zu lindern und den Weg zur Genesung zu beschreiten.
ROBERT SCAER, M.D., ist Facharzt für Neurologie und praktizierte 36 Jahre, davon 20 Jahre als Medical Director of Rehabilitation Services am Mapleton Center in Boulder/USA. Sein Interesse gilt primär traumatischen Hirnverletzungen, chronischen Schmerzen und der Erforschung traumabedingter Belastungszustände und ihrer Auswirkung auf körperliche und emotionale Symptome und Krankheiten. Nach seinem Ausscheiden aus der klinischen Praxis widmet er sich der Tätigkeit als Autor und Dozent im Bereich der Traumaheilkunde.
Scaers spezielle neurologische Sicht ist aufgrund ihres von Hoffnung geprägten und empathischen Charakters einzigartig. Robert Scaers neues Buch erschließt die Welt der Neurowissenschaften auf eine ebenso benutzerfreundlich einfache wie fachlich kompetente Weise, wobei die Relevanz älterer und neuester Erkenntnisse über Struktur und Formbarkeit des Gehirns für die klinische Praxis den roten Faden bildet, der die Darstellung durchzieht.
Die Arbeitsweise des Gehirns: Zwischen Ordnung und Chaos
Wie genau das riesige Neuronennetzwerk unseres Gehirns Informationen über die Welt verarbeitet, ist für Neurowissenschaftler nach wie vor ein Rätsel. Ein zentrales Teil des Puzzles ist dabei die Frage, wie eine einzelne physische Struktur beschaffen sein muss, um mit den unzähligen Anforderungen des Lebens zurechtzukommen.
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»Wäre das Gehirn völlig ungeordnet, könnte es gar keine Informationen verarbeiten«, sagt Mauro Copelli, Physiker an der Bundesuniversität von Pernambuco in Brasilien. »Wäre es jedoch zu geordnet, würde ihm die Flexibilität fehlen, um mit der Vielfalt der Welt fertigzuwerden.«
Der Physiker Per Bak stellte in den 1990er Jahren die Hypothese auf, das Gehirn ziehe seine erstaunlichen Fähigkeiten aus einem Zustand namens »Kritikalität«. Das Konzept stammt aus der statistischen Mechanik und beschreibt Systeme, die zwischen Ordnung und Chaos schweben. Stellen Sie sich zum Beispiel einen schneebedeckten Hang im Winter vor. Am Anfang besteht lediglich Gefahr durch kleinere Schneerutsche, später im Jahr können Schneestürme dann regelrechte Lawinen auslösen. Irgendwo zwischen Ordnung (feste Schneedecke) und Chaos (Schneerutsch/Lawine) liegt ein Zustand, in dem alles möglich ist: Die kleinste Störung kann einen Schneerutsch oder eine Lawine auslösen oder irgendetwas dazwischen. Doch nicht all diese Ereignisse sind gleich wahrscheinlich.
Kognitive Räume: Wie das Gehirn Informationen speichert und verarbeitet
Sie ist eine der fundamentalsten Fragen überhaupt: Wie funktioniert das menschliche Denken? Bisher gibt es darauf keine schlüssige Antwort. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und des Kavli-Instituts für Systemische Neurowissenschaften in Trondheim, Norwegen, darunter auch Nobelpreisträger Edvard I. Moser, haben jedoch wichtige Erkenntnisse gewonnen.
Wenn wir uns in unserer Umgebung orientieren, geschieht das vor allem durch die Arbeit zweier Zelltypen in unserem Gehirn: Die Ortszellen im Hippocampus und die Rasterzellen in einem benachbarten Hirnareal, dem entorhinalen Kortex. Gemeinsam bilden sie einen Schaltkreis im Gehirn zur räumlichen Orientierung.
„Wir nehmen an, dass das Gehirn alle Informationen, die wir aus der Umgebung aufnehmen, in sogenannten kognitiven Räumen speichert. Als kognitive Räume werden dabei innere Karten bezeichnet, in denen wir mental die komplexe Realität vereinfacht anordnen und abspeichern. Jedes Objekt, egal ob Personen oder Gegenstände, trägt verschiedene Eigenschaften, die sich entlang von Skalen einordnen lassen. „Wenn ich etwa an ein Auto denke, dann kann ich es gedanklich entlang der Stärke seines Motors und entlang seines Gewichts einstufen. So ergeben sich Rennwagen mit hoher Leistung und geringem Gewicht genauso wie Wohnmobile mit geringer Leistung und hohem Gewicht - und alle dazwischenliegenden Variationen“, so Doeller weiter. Ähnliches würde geschehen, wenn wir an Freunde oder Verwandte denken, die wir ebenfalls entlang von Größenachsen ordnen, etwa entlang ihrer Körpergröße, ihres Humors oder auch ihres Einkommens, sodass wir sie dann als eher groß oder klein, humorvoll oder humorlos, mehr oder weniger wohlhabend abspeichern.
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Zu diesen Erkenntnissen gelangten Doeller und sein Team anhand einzelner Befunde der vergangenen Jahre, die sie zu einem Modell des menschlichen Denkens kombinierten. Ausgangspunkt waren dabei zwei später mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Entdeckungen aus den Jahren 1971 und 2005 zur Rolle der Orts- und Rasterzellen im Gehirn von Nagetieren während der Orientierung. Sie zeigen jeweils ein einzigartiges Aktivitätsmuster, je nachdem wo sich das Tier gerade in einem Raum aufhält, während es nach Futter sucht. Diese sehr regelmäßigen Aktivitätsmuster der Rasterzellen zeigen sich auch beim Menschen - und zwar nicht nur, wenn er durch geografische Räume navigiert, sondern auch während er sich geistige Konzepte erschließt.
Aufmerksamkeit und Timing: Der Schlüssel zur selektiven Informationsverarbeitung
Forschende der Universität Bremen haben erstmals gezeigt, dass der exakte Zeitpunkt, zu dem ein Signal auf aufnahmebereite Nervenzellen trifft, über seine Verarbeitung entscheidet - und dass Aufmerksamkeit diese Taktung gezielt für die Verarbeitung relevanter Informationen nutzt.
Dass das Gehirn Informationen bevorzugt verarbeitet, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten, ist seit Langem bekannt - ein klassisches Beispiel ist der sogenannte Cocktailparty-Effekt: „In einer Umgebung voller Stimmen, Musik und Nebengeräusche gelingt es dem Gehirn, sich auf eine einzelne Stimme zu konzentrieren. Die übrigen Geräusche sind objektiv nicht leiser, werden aber in diesem Moment weniger stark wahrgenommen“, erläutert Hirnforscher Dr. Eric Drebitz von der Universität Bremen. Das Gehirn richte seine Verarbeitung auf die gerade relevanten Informationen aus - in diesem Fall die Stimme des Gesprächspartners oder der Gesprächspartnerin -, während andere Signale zwar eintreffen, jedoch nicht in gleichem Maße weitergeleitet und verarbeitet würden.
Drebitz: „Unklar war bislang, wie dieser überlebenswichtige Mechanismus der Auswahl relevanter Informationen gesteuert wird: Wenn man eine Straße überquert und plötzlich ein Auto von der Seite auftaucht, richtet das Gehirn seine Verarbeitung sofort auf diese eine visuelle Information - die Bewegung des Fahrzeugs - aus. Andere Eindrücke wie Schilder, Passanten oder Werbetafeln treten in den Hintergrund, weil sie die Aufmerksamkeit ablenken und die Reaktion verlangsamen würden. Nur durch diese gezielte Priorisierung ist es möglich, schnell zu reagieren und auszuweichen.“
Zeitliche Abstimmung: der Schlüssel zur Informationsverarbeitung
Das Team um Neurowissenschaftler Andreas Kreiter und Eric Drebitz hat nun erstmals kausal nachgewiesen, wie das Gehirn relevante Informationen weiterleitet und verarbeitet: „Ob ein Signal im Gehirn weiterverarbeitet wird, hängt entscheidend davon ab, ob es im richtigen Moment - in einer kurzen Phase erhöhter Empfänglichkeit der Nervenzellen - eintrifft“, erläutert der Neurowissenschaftler Drebitz: „Nervenzellen arbeiten nicht kontinuierlich, sondern in einem schnellen Takt: Für wenige Millisekunden sind sie besonders aktiv und empfänglich, dann folgt ein Zeitfenster geringerer Aktivität und Erregbarkeit. Dieser Zyklus wiederholt sich etwa alle 10 bis 20 Millisekunden. Nur wenn ein Signal kurz vor dem Höhepunkt dieser aktiven Phase eintraf, veränderte es das Verhalten der Neurone.“ Diese zeitliche Abstimmung sei der grundlegende Mechanismus der Informationsverarbeitung. Die Aufmerksamkeit nutze diesen Mechanismus gezielt, indem sie die Taktung der Nervenzellen so ausrichte, dass relevante Signale genau in diesem Zeitfenster ankämen, während andere außen vor blieben.
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Experimentelle Beweisführung
Um die Ursache für diesen grundlegenden Mechanismus unseres Gehirns nachweisen zu können, wurde die selektive Reizweiterleitung bei Rhesusaffen untersucht - einer Art, die dem Menschen in der Organisation der Großhirnrinde stark ähnelt. Die Tiere lösten am Bildschirm eine visuelle Aufgabe, während in einem frühen Abschnitt des visuellen Verarbeitungswegs (Areal V2) sehr schwache elektrische Reize erzeugt wurden. Diese künstlichen Signale hatten keinen Bezug zur Aufgabe und dienten ausschließlich als Testreize. Anschließend analysierte das Team, wie sich diese Signale auf ein nachgeschaltetes Areal (Areal V4) auswirkten.
„Die künstlich ausgelösten Signale beeinflussten die Aktivität der Nervenzellen in V4 nur dann, wenn sie in einer kurzen Phase erhöhter Empfänglichkeit eintrafen. Kam dasselbe Signal zu früh oder zu spät, blieb es wirkungslos. Traf es im sensiblen Zeitfenster ein, veränderte es nicht nur die Aktivität der Nervenzellen, sondern auch das Verhalten der Tiere: Sie reagierten langsamer und machten mehr Fehler - woraus sich schließen lässt, dass das Testsignal, das keine Informationen für die Aufgabe enthielt, Teil der Verarbeitung wurde und so die Durchführung der eigentlichen Aufgabe störte“, sagt Drebitz.
Bedeutung für das Verständnis des Gehirns und die Behandlung von Krankheiten
„Die Ergebnisse bieten eine Grundlage für präzisere Modelle des Gehirns. Sie zeigen, wie Informationen ausgewählt und gewichtet werden, bevor sie zu Wahrnehmung, Lernen und Verhalten führen“, so Drebitz. Dieses Wissen sei jedoch nicht nur für die Grundlagenforschung von Bedeutung, sondern etwa auch für die Medizin, „da Krankheiten wie zum Beispiel Alzheimer oder ADHS mit Problemen bei der selektiven Verarbeitung und Speicherung von relevanten Informationen einhergehen. Und für neue Technologien wie Brain-Computer-Interfaces, die direkt mit dem Gehirn kommunizieren.“ Damit solche Systeme zuverlässig arbeiteten, müssten sie Informationen exakt getaktet einspeisen und die Muster der Nervenzellen korrekt auslesen. Auch die Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) könne von diesen Prinzipien profitieren, da sie als Vorlage für besonders flexible und effiziente Verarbeitung dienen könne.
Binokulare Rivalität: Ein Fenster zum visuellen Bewusstsein
Mit wehendem Mantel, das rechte Auge fest zugekniffen, beobachtet Captain Blackbeard mit dem linken durch sein Fernrohr das Meer. Als der Pirat auch das rechte öffnet, verschwindet plötzlich das Meer. Vor sich sieht er nur noch das Fernrohr in seiner Hand. Und dann ist das Meer, genauso plötzlich, wieder da. Was hier geschieht ist ein Wahrnehmungswechsel. Normalerweise rechnet das Gehirn die leicht unterschiedlichen Bilder der beiden Augen zu einem stimmigen Bild um. Wenn sich die Sehinformationen jedoch widersprechen, wird nacheinander nur das Gesehene des einen und dann des anderen Auges wahrgenommen. Dieses Phänomen nennen Wissenschaftler "binokulare Rivalität".
Forscher um Andreas Bartels am Werner Reichardt-Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) und am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen haben dieses Phänomen nun genutzt, um einige der Schaltkreise im parietalen Kortex, die zum bewussten Sehen beitragen, zu entziffern.
Nicht alles was wir sehen, nehmen wir bewusst wahr. Die vielen Informationen, die täglich auf uns einströmen, zwingen unser Gehirn, sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Unsere Wahrnehmung ist ein nie endender Prozess: Unser Gehirn selektiert, gruppiert und interpretiert. Obwohl wir zwei Augen haben, die unterschiedliche Dinge sehen, verschmelzen die Seheindrücke beider zu einem einzigen Bild - binokulares Sehen nennen es die Experten. Dass hier auch einmal etwas nicht glatt läuft, kommt vor: Spontane Wahrnehmungswechsel können dann auftreten, wenn sich die Sehinformationen der beiden Augen widersprechen. Dann wird nacheinander nur das Gesehene eines Auges wahrgenommen, während das des anderen unterdrückt wird. Unsere Wahrnehmung ändert sich in kurzen, aufeinander folgenden Intervallen. Das geschieht automatisch, wir können es nicht steuern.
Die Rolle des posterioren parietalen Kortex
Die Wissenschaftler Natalia Zaretskaya, Axel Thielscher, Nikos Logothetis und Andreas Bartels haben jetzt die Aktivität der Nervenzellen bei 15 Probanden im posterioren parietalen Kortex gestört, einem Areal der Großhirnrinde, welches unter anderem an der Zielauswahl von Augenbewegungen beteiligt ist. Während der Versuche wurde den Probanden jeweils ein Haus auf das eine und ein Gesicht auf das andere Auge projiziert. Das löste eine Wechselwahrnehmung aus, da das Gehirn die beiden Bilder nicht in Einklang bringen konnte. Wurde währenddessen der parietaler Kortex kurzzeitig mittels nicht-invasiver Magnetstimulation gestört, berichteten die Probanden über deutlich weniger Wahrnehmungswechsel.
"Unsere Versuche zeigten, dass der posteriore parietale Kortex ursächlich an der Auswahl beteiligt ist, welche Informationen von uns bewusst wahrgenommen werden", erklärt Natalia Zaretskaya. "Dies beweist, dass er eine große Rolle in unserem visuellen Bewusstsein spielt."
"Wenn wir die Nervenschaltkreise verstehen, die unserer Wahrnehmung zugrunde liegen, verstehen wir vielleicht etwas besser, wie Bewusstsein funktioniert", sagt Andreas Bartels, Wissenschaftler am Centrum für Integrative Neurowissenschaften.
Das INM-7: Ein umfassender Ansatz zur Erforschung des Gehirns
Ein umfassendes Verständnis des menschlichen Gehirns und seiner Individualität ist der Schlüssel zur Erkenntnis, was uns als Menschen ausmacht. Das übergeordnete Ziel des INM-7 ist es, die Organisation und die Funktion des Gehirns zu charakterisieren und zu untersuchen wie sich dies von Mensch zu Mensch unterscheidet, um die Veränderungen des Gehirns im Alter sowie bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen besser zu verstehen.
Um der enormen Komplexität des menschlichen Gehirns gerecht zu werden, besteht unser Ansatz in der Entwicklung von Vorhersagemodellen mithilfe des maschinellen Lernens. Diese werden darauf trainiert, Zusammenhänge zwischen Bildgebungsdaten des Gehirns und Eigenschaften von Personen (z.B. Alter, Geschlecht, Persönlichkeitseigenschaften etc.) zu finden. Damit erhalten wir nicht nur Erkenntnisse über Zusammenhänge der Variabilität von Gehirn und Verhalten, sondern auch die Möglichkeit Rückschlüsse auf die entsprechenden Eigenschaften einer individuellen Person zu ziehen. Aus diesem Wissen heraus erfolgt eine Translation in die klinische Anwendung, um neue Ansätze zur verbesserten Diagnose und Verlaufsabschätzung auf der Ebene individueller Patienten zu entwickeln.
Die sich abzeichnende Möglichkeit der individuellen Diagnostik mittels maschinellen Lernens wirft eine Reihe ethischer aber auch rechtlicher und gesellschaftlicher Fragen auf, denen wir uns gezielt widmen. Das INM-7 ist somit in der einmaligen Lage, Grundlagenforschung, Methodenentwicklung, neurowissenschaftliche und klinische Anwendung, sowie die Betrachtung ethisch-gesellschaftlicher Implikationen miteinander zu verzahnen.
Forschungsschwerpunkte des INM-7
Das INM-7 widmet sich einer Vielzahl von Forschungsschwerpunkten, darunter:
- Angewandtes Maschinelles Lernen: Entwicklung und Bewertung von Algorithmen und Pipelines für das maschinelle Lernen, insbesondere in den Bereichen psychische Gesundheit und psychiatrische Störungen.
- Biomarkerentwicklung: Identifizierung, Validierung und Integration neuartiger neurobildgebender und digitaler Biomarker zur Früherkennung und Behandlungsbewertung von Veränderungen der Gehirnorganisation im fortgeschrittenen Alter sowie bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen.
- Kognitive Neurogenetik: Untersuchung, wie angeborene und umweltbedingte Faktoren die Struktur und Funktion des Gehirns prägen.
- Kognitive und Affektive Biopsychologie: Erforschung, wie das Gehirn zum menschlichen Verhalten beiträgt, einschließlich ethischer Fragen in der Therapie und Erforschung psychiatrischer Erkrankungen.
- Psychoinformatik: Kombination klassischer experimenteller Methodik mit maschinellen Lernmethoden.
- Schlaf, Gehirn, Verhalten: Verbesserung des Verständnisses von Schlafstörungen und deren Auswirkungen auf das Gehirn und das Verhalten.
- Variabilität des Gehirns: Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der Variabilität der strukturellen und funktionellen Gehirnorganisation und individuellen Unterschieden in Erfahrung, Informationsverarbeitung und Verhalten.
- Research and Infrastructural Software Engineering in/for ML (RiseML): Entwicklung und Erweiterung des Forschungsfelds innerhalb des maschinellen Lernens, das mit Forschungssoftwareentwicklung zu tun hat.
Memristoren: Elektronische Nachbildung von Gedächtnis und Synchronisation im Gehirn
Wie erfasst, verarbeitet und speichert das menschliche Gehirn den ständig einwirkenden Datenstrom? Wie bewältigt es kognitive Aufgaben, die eine komplexe Interaktion zwischen verschiedenen Hirnarealen erfordern und die viel schneller arbeitende Hochleistungsrechner überfordern? Warum kann das Gehirn dies alles mit einem extrem geringen Energieaufwand bewältigen?
Diese beeindruckende Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns technisch nachzuvollziehen und seine Arbeitsweise in künstlichen neuronalen Netzwerken umzusetzen, ist das Ziel eines Kieler Forschungsteams um Professor Hermann Kohlstedt, Leiter des Fachbereichs Nanoelektronik an der Technischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und Sprecher des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten überregionalen Verbundforschungsprojekts „Memristive Bauelemente für neuronale Systeme“ (FOR 2093).
Den Kieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ist es nun gelungen, zwei grundlegende Arbeitsprinzipien des menschlichen Gehirns, Gedächtnis und Synchronisation, elektronisch nachzubilden. Ihre Ergebnisse publizierten sie vor kurzem in der Fachzeitschrift Applied Physics Letters.
Energieeffizienz und neuronale Plastizität
Das menschliche Gehirn ist ein Meister der Energieeffizienz. Seine rund 100 Milliarden Nervenzellen, auch Neuronen genannt, kommen mit einer Leistung von nur rund 20 Watt aus. Um ähnlich komplexe Rechenoperationen durchzuführen, wie sie das Gehirn bewältigt, benötigen moderne Hochleistungsrechner das Vieltausendfache an Energie.
Die Neuronen des Gehirns sind durch Synapsen miteinander verknüpft und bilden ein hochkomplexes Netzwerk. Unter dem Begriff „Lernen“ im neurologischen Sinne versteht man, dass die synaptischen Verbindungen im Gehirn nicht statisch festgelegt sind. Stattdessen passen sie sich ständig auf Grund von Umwelteinflüssen, zum Beispiel Sinneseindrücken, neu an. Damit wird eine lokale Speicherung neuer Gedächtnisinhalte möglich, man spricht von der neurologischen Plastizität des Gehirns.
Synchronisation von Neuronenverbänden
Neben dieser räumlichen Anpassungsfähigkeit neuronaler Verbindungen existiert ein weiterer wichtiger Baustein für die Informationsverarbeitung im Gehirn: die Synchronisation von Neuronenverbänden. Elektrische Impulse, sogenannte Aktionspotenziale, bilden die Grundeinheit der Informationsverarbeitung im Gehirn. Diese Impulse übermitteln permanent Informationen zwischen den Neuronen, dabei überqueren und beeinflussen sie die synaptischen Verbindungen des Gehirns.
„Im Falle von bewussten Sinneswahrnehmungen verändert sich das räumlich unregelmäßige Auftreten von neuronalen Impulsen plötzlich und zeitlich begrenzt hin zu geordneten Strukturen“, sagt Professor Thorsten Bartsch, Neurologe an der CAU und Mitglied in der Forschungsgruppe. Die zuvor unabhängigen Impulse der Neuronen synchronisieren sich in diesem Fall selbst über weit entfernte Hirnbereiche hinweg. Dieses synchronisierte „Feuern“ lässt sich auch am lebendigen Menschen mittels Hirnstrommessungen (Elektroenzephalografie, EEG) nachweisen. „Schon seit langem wird diskutiert, ob das menschliche Bewusstsein eng mit dieser Synchronisation der neuronalen Impulse verknüpft ist. Möglicherweise liegt darin der Schlüssel zum besseren Verständnis der Gehirnfunktionen“, so Bartsch weiter.
Memristoren als Gedächtniselemente
Die Kieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern haben nun diese beiden Prinzipien der Arbeitsweise des Gehirns, also die Speicherung von Gedächtnisinhalten in den Synapsen und die Synchronität der neuronalen Impulse innerhalb eines elektronischen Schaltkreises nachgebildet. „Dabei haben wir neuartige elektronische Bauelemente verwendet, mit deren Hilfe sich Gedächtnisprozesse nachbilden lassen“, erklärt Kohlstedt. Diese Bauelemente werden als Memristoren (von englisch „memory“ für Gedächtnis und „resistor“ für Widerstand) bezeichnet. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass ihr elektrischer Widerstand von der zuvor geflossenen Ladung abhängt. „Auf diesem Weg lassen sich analog zu den ‚Gedächtniselementen‘ in biologischen Netzwerken unterschiedliche Zustände abspeichern“, ergänzt Dr. Martin Ziegler, Wissenschaftler im Fachbereich Nanoelektronik und Teilprojektleiter in der Forschungsgruppe.
In ihrer elektronischen Schaltung koppelten die Kieler Forschenden nun zwei Oszillatoren miteinander über Memristoren. Oszillatoren sind Schaltungen, die periodische Spannungsimpulse erzeugen - analog zum „Feuern“ der Neuronen im Gehirn. Anfangs verliefen ihre Impulse asynchron, die beiden Oszillatoren waren also zunächst entkoppelt. Dank der adaptiven „Gedächtniselemente“ synchronisierten sich ihre Schwingungen jedoch nach kurzer Zeit. Die Forschenden konnten so eine elektrische Schaltung mit denselben grundlegenden Eigenschaften ausstatten, die auch ein biologisches neuronales Netzwerk kennzeichnen.
Die nun vorliegende Publikation bildet ein erstes Etappenziel für das aus rund zwanzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Physik, Elektrotechnik, Materialwissenschaft und Medizin bestehende Verbundforschungsprojekt FOR 2093.
Nanotechnologie und das Gehirn: Die Zukunft der Neurowissenschaften
Im Nanokosmos herrschen andere, nämlich quantenphysikalische, Gesetze als in der makroskopischen Welt. Durch eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Materialwissenschaft, Chemie, Physik, Biologie, Elektrotechnik, Informatik, Lebensmitteltechnologie und verschiedenen medizinischen Fächern zielt der Schwerpunkt darauf ab, die Systeme in dieser Dimension zu verstehen und die Erkenntnisse anwendungsbezogen umzusetzen. Molekulare Maschinen, neuartige Sensoren, bionische Materialien, Quantencomputer, fortschrittliche Therapien und vieles mehr können daraus entstehen.
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