Die diabetische Neuropathie ist eine häufige und potenziell schwerwiegende Komplikation des Diabetes mellitus. Sie manifestiert sich als klinisch erkennbare oder subklinische Erkrankung der peripheren Nerven, die als direkte Folge von Diabetes mellitus auftritt, ohne dass andere Ursachen vorliegen. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) definiert sie als eine Erkrankung, die sowohl das somatische als auch das autonome Nervensystem betreffen kann. Schätzungsweise leidet etwa jeder dritte Mensch mit Diabetes mellitus an dieser Form der Neuropathie.
Was ist Diabetes Mellitus?
Diabetes Mellitus ist eine Bezeichnung für Stoffwechselerkrankungen, bei denen der Blutzuckerspiegel dauerhaft erhöht ist. Die häufigsten Formen sind Typ-1- und Typ-2-Diabetes.
Wie die Blutzuckerregulation funktioniert
Kohlenhydrate werden im Körper zu Zucker (Glukose) abgebaut. Damit dieser Zucker in die Körperzellen gelangt, wird Insulin benötigt, ein Hormon, das in der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) gebildet wird. Insulin wirkt dabei wie ein Schlüssel: Es bindet an spezifische Rezeptoren auf der Oberfläche von Körperzellen und „öffnet” so die Zelle für den Zucker. Die Zellen nutzen den Zucker entweder direkt zur Energiegewinnung oder speichern ihn für später. Zwischen den Mahlzeiten oder bei Bewegung sinkt der Blutzucker wieder. Dann schütten die α-Zellen der Bauchspeicheldrüse ein anderes Hormon aus: Glukagon. Es sorgt dafür, dass gespeicherter Zucker wieder ins Blut zurückkommt. Durch diese Mechanismen wird der Blutzuckerspiegel in gesunden Menschen zwischen ca. 70-140 mg/dl gehalten. Alles darüber wird als Hyperglykämie (Überzucker), alles darunter als Hypoglykämie (Unterzucker) bezeichnet. Bei Diabetes ist diese Regulation des Blutzuckers gestört.
Typen von Diabetes
Typ-1-Diabetes ist eine autoimmune Erkrankung: Das körpereigene Immunsystem greift die β-Zellen in der Bauchspeicheldrüse an und zerstört sie - Betroffene müssen lebenslang Insulin zuführen. Diese Form von Diabetes tritt häufig im frühen Kindesalter auf. Typ-2-Diabetes hingegen entwickelt sich meist schleichend durch eine Kombination aus genetischer Veranlagung, Bewegungsmangel und Übergewicht. Zum einen kommt es zur verringerten Insulinproduktion in der Bauchspeicheldrüse, zum anderen reagieren die Zellen zunehmend unempfindlich auf Insulin (Insulinresistenz), was zu einem Anstieg des Blutzuckers führt. Neben diesen beiden Hauptformen gibt es weitere Typen, z. B. den Schwangerschaftsdiabetes, sowie seltene genetische Diabetesformen.
Ursachen der diabetischen Neuropathie
Die diabetische Neuropathie wird als eine Schädigung der peripheren Nerven beschrieben, die entweder klinisch offensichtlich oder subklinisch ist und ausschließlich aufgrund eines Diabetes mellitus auftritt, ohne dass andere Ursachen vorliegen. Ursächlich spielt bei der Entstehung der distal-symmetrischen sensomotorischen Polyneuropathie (DSPN) die Hyperglykämie eine bedeutende Rolle, die wiederum erhöhten oxidativen Stress oder die Bildung toxischer Produkte, z. B. Advanced Glycation Endproducts (AGE), fördert.
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Neuropathien durch AGEs
Ein zentraler Mechanismus bei der Entstehung diabetischer Neuropathien ist die Bildung sogenannter AGEs (Advanced Glycation Endproducts). Diese entstehen, wenn sich Zuckermoleküle dauerhaft an Eiweiße, Fette oder genetisches Material in unserem Körper anlagern und dadurch deren Struktur und Funktion verändern. Dies geschieht vor allem, wenn der Blutzucker über einen längeren Zeitraum erhöht ist. Besonders problematisch ist, dass AGEs an bestimmte Rezeptoren auf der Oberfläche von Nervenzellen und Blutgefäßen binden, sogenannte RAGEs (Receptors for Advanced Glycation Endproducts). Im Fall von RAGEs werden vor allem Entzündungsprozesse ausgelöst. Diese Bindung führt außerdem zur vermehrten Bildung von reaktiven Sauerstoffverbindungen - sogenannten ROS (Reactive Oxygen Species). Dieser Zustand wird als oxidativer Stress bezeichnet. Nervenzellen sind besonders empfindlich gegenüber solchen Belastungen und können dabei dauerhaft geschädigt werden.
Neuropathien durch Schädigung der Blutgefäße
Unsere Nervenzellen sind auf eine kontinuierliche Versorgung mit Nährstoffen und Sauerstoff angewiesen. Diese erfolgt über feinste Blutgefäße, die sogenannten Kapillaren. Bei dauerhaft erhöhtem Blutzucker können diese empfindlichen Gefäße jedoch geschädigt werden. So lagern sich beispielsweise die bereits erwähnten AGEs in den Gefäßwänden ab. Das behindert den Blutfluss und verringert die Durchblutung der Nerven, besonders in den weiter vom Körperkern entfernten Bereichen wie den Füßen. Dadurch erhalten die Nervenzellen nicht mehr ausreichend Sauerstoff und Nährstoffe. In der Folge kann es zu Funktionsstörungen, strukturellen Schäden und schließlich zum Absterben der Zellen kommen.
Schwankungen im Blutzucker als Ursache
Nicht nur dauerhaft hohe Blutzuckerwerte, sondern auch starke Schwankungen zwischen hohen und niedrigen Blutzuckerspiegeln, wie sie vor allem bei schlecht eingestelltem Diabetes auftreten, können den Nerven schaden. In einer Studie, in der Patienten mit Typ-2-Diabetes untersucht wurden, fand man heraus, dass Schwankungen des Blutzuckerspiegels zu einem höheren oxidativen Zellstress führten als ein dauerhaft erhöhter Blutzuckerspiegel. Menschen mit den größten Schwankungen im Nüchternblutzucker hatten ein deutlich höheres Risiko für schmerzhafte diabetische Neuropathie - unabhängig vom durchschnittlichen HbA1c-Wert (Chang et al., 2024).
Neuropathien bei Prädiabetes
Neuropathien sind nicht nur bei Diabetes zu beobachten, sondern auch bei Prädiabetes. Studien zeigen, dass DSPN bei etwa 11 % bis 25 % der Menschen mit Prädiabetes vorkommt. Neuropathische Schmerzen treten in 13 % bis 21 % der Fälle auf (Papanas et al., 2011).
Symptome der diabetischen Neuropathie
Die Symptome der diabetischen Neuropathie können vielfältig sein und hängen davon ab, welche Nerven betroffen sind. Die distal-symmetrische sensomotorische Polyneuropathie (DSPN) macht etwa drei Viertel aller diabetischen Neuropathien aus und kennzeichnet sich durch Symptome und/oder Defizite:
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- Quälende Schmerzen und Missempfindungen, meistens in den unteren Extremitäten, die insbesondere in Ruhe vorkommen, können die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Von einer schmerzhaften Form der Erkrankung sind 13-26 % der Diabetiker betroffen.
- In bis zu 50 % der Fälle kann die DSPN aber auch asymptomatisch verlaufen. In diesem Fall kommt es zur Abnahme der Empfindung etwa für Schmerz-, Temperatur-, Vibration oder Berührungsreize.
- Viele Betroffene spüren Berührungen, Schmerzen oder Temperaturen nur noch abgeschwächt. Auch der sogenannte Lagesinn - also das Gefühl dafür, wo sich die Füße oder Hände im Raum befinden - ist gestört.
- Es kann zu Muskelschwäche und sichtbarem Muskelabbau kommen.
- Da das autonome Nervensystem beteiligt sein kann, treten manchmal Kreislaufprobleme beim Aufstehen, Verdauungsstörungen, Blasenprobleme oder verändertes Schwitzen auf.
Viele Betroffene berichten, dass sie sich im Alltag unsicher auf den Beinen fühlen. Das liegt nicht nur am fehlenden Gefühl in den Füßen, sondern auch an der verminderten Muskelkraft - beides zusammen erhöht das Sturzrisiko deutlich. Auch kleine Handgriffe werden schwieriger: Knöpfe schließen, ein Glas festhalten oder Kleingeld aufheben erfordert plötzlich volle Konzentration. Dazu kommen oft nächtliche Schmerzen, die den Schlaf rauben. Wer schlecht schläft, fühlt sich am nächsten Tag erschöpft, gereizt und hat weniger Energie - ein Kreislauf, der die Lebensqualität zusätzlich belastet.
Frühzeichen und Verlauf
Erste Anzeichen einer Polyneuropathie sind oft feine Veränderungen im Gefühl. Viele Betroffene spüren ein Kribbeln oder beschreiben es als „Ameisenlaufen“. Häufig treten auch brennende Fußsohlen auf - im Fachjargon „Burning Feet“ genannt. Typisch ist auch, dass sich die Beschwerden nachts verstärken, wenn man zur Ruhe kommt. Ein weiteres wichtiges Signal ist der Verlust des Vibrationsempfindens. Neuropathische Schmerzen sind oft besonders quälend und schwer zu beschreiben. Sie können als Brennen, als plötzliches elektrisches Einschießen oder wie kurze Stromstöße empfunden werden. Schon leichte Reize, die eigentlich nicht weh tun sollten - etwa das Gewicht einer Bettdecke oder ein sanfter Luftzug - können Schmerzen auslösen. Wenn ein ohnehin schmerzhafter Reiz als übertrieben stark empfunden wird, spricht man von Hyperalgesie. Viele Formen der Polyneuropathie entwickeln sich langsam über Jahre - die Beschwerden beginnen oft in den Füßen und nehmen allmählich zu. Doch es gibt auch akute Verläufe, die sich innerhalb von Tagen oder wenigen Wochen deutlich verschlechtern.
Das diabetische Fußsyndrom
Gleichwohl ist die DSPN ein bedeutender Risikofaktor für die Entstehung eines diabetischen Fußsyndroms (DFS). So ist in 85-90 % der Fälle die Nervenschädigung an der Ätiologie des DFS beteiligt und hat damit einen erstrangigen Stellenwert in der Risikokonstellation für DFS und Amputationen, zusammen mit der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK). Weil die Betroffenen ihr Schmerzempfinden aufgrund der Nervenschäden einbüßen, bemerken sie Wunden oder Verletzungen am Fuß nicht oder nicht rechtzeitig. Solche Wunden können zum Beispiel durch drückendes, zu enges Schuhwerk entstehen. Das Gewebe stirbt ab und offene Wunden sind ein idealer Nährboden für Bakterien und andere Krankheitserreger - sie lösen schwerwiegende Entzündungen aus. Das diabetische Fußsyndrom ist in Deutschland ein häufiger Grund für Amputationen.
Diagnose der diabetischen Neuropathie
Die Diagnose DSPN ist eine Ausschlussdiagnose. Frühzeichen wie Kribbeln, Brennen oder Taubheit sollten Betroffene nicht ignorieren - je eher eine Polyneuropathie erkannt wird, desto besser lässt sich ihr Fortschreiten bremsen. Für Menschen mit Diabetes gilt: jährliches Screening - bei Typ 2 ab der Diagnose, bei Typ 1 ab dem 5. Krankheitsjahr. Die Basis sind einfache Tests in der Praxis: ein Arztgespräch (Anamnese), der Drucktest mit dem Monofilament, das Vibrationsgefühl mit der Stimmgabel und die Reflexe. Bei Auffälligkeiten folgen weiterführende Untersuchungen.
Mit neurologischen Untersuchungen können Sie bei den meisten Ihrer Patienten eine solide klinische Diagnose einer diabetischen Polyneuropathie erstellen.
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Untersuchungsmethoden
- Anamnese: Erhebung der Krankengeschichte und aktueller Beschwerden.
- Klinische Untersuchung:
- Neurologische Stimmgabel nach Rydel-Seiffer: Zur Untersuchung des Vibrationsempfindens.
- 10-g-Monofilament: Zur Untersuchung des Druck- und Berührungsempfindens. Der Hauptzweck des 10-g-Monofilament-Tests ist die Beurteilung des Risikos für diabetische Fußgeschwüre.
- Untersuchung der Muskeleigenreflexe: Der Achillessehnenreflex ist von besonderer Bedeutung bei der Ermittlung des Neuropathie-Defizit-Scores (NDS).
- Einwegnadeln (NeurotipsTM): Werden zur Untersuchung des Schmerzempfindens eingesetzt.
- Untersuchung des Temperaturempfindens: Nutzt die unterschiedlichen Wärmeleiteigenschaften von Kunststoff und Metall.
- Weiterführende Tests (falls nötig):
- Nervenleitgeschwindigkeit
- Small-Fiber-Diagnostik
Labordiagnostik
- Nüchternblutzucker, HbA1c, oraler Glukosetoleranztest
- GOT, Gamma-GT, CD-Transferrin
- TSH, CRP
- Vitamin B1 und B6 Spiegel
- Vitamin B12 Spiegel, evtl. Holotranscobalamin
- Hepatitis C Virus Antikörper, HIV-Test
- Immunelektrophorese
- ANA, RF, ds-DNA-AK, Anti-Sm-Antikörpern, Anti-Ro/SSA , Anti-La/SSB
- Eventuell genetische Diagnostik (Bei Verdacht auf Natriumkanalmutationen)
- Alpha-Galaktosidase-Aktivität im Blut, GLA-Gentest (Trockenblusttest-insbesondere bei Frauen)
- Erregernachweis Trypanosoma cruzi (Blutausstrich (akute Erkrankung) , Antikörpertest (chronische Phase der Erkrankung)
- Gliadin-IgG- und IgA-Antikörper, Anti-Endomysium- Antikörper (EMA-IgA)
- Liqourdiagnostik
Therapie der diabetischen Neuropathie
Ziel der Therapie ist es, die Symptome zu lindern, das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen und Komplikationen zu vermeiden.
Medikamentöse Therapie
Für die pathogenetisch orientierte medikamentöse Therapie stehen das Antioxidans Alpha-Liponsäure und das fettlösliche Benfotiamin zur Verfügung. Für die symptomatische Schmerzbehandlung werden nach Expertenkonsens als Analgetika der ersten Wahl die Antikonvulsiva Gabapentin sowie Pregabalin und die Antidepressiva Duloxetin sowie Amitriptylin empfohlen. Zweite Wahl ist Tramadol und dritte Wahl sind stärkere Opioide.
Nicht-medikamentöse Therapie
- Gute Stoffwechselführung: Bei diabetesbedingter Neuropathie kann eine gute Stoffwechselführung das Risiko senken und den Verlauf bremsen; bereits geschädigte Nerven erholen sich jedoch nur begrenzt - frühes Handeln ist entscheidend.
- Bewegung: Studien zeigen Vorteile für Symptome, Gleichgewicht, Mobilität und Sturzrisiko-Marker; Bewegung unterstützt außerdem die Blutzuckerkontrolle.
- Komfortable Schuhe: Tragen von komfortablen, nicht zu engen Schuhen. Bei Bedarf sind die Patienten mit Diabetesschutzschuhen mit Weichpolstersohle zu versorgen.
Wann sollte man einen Arzt aufsuchen?
Bei anhaltendem Brennen/Kribbeln/Taubheit, Gangunsicherheit, rascher Verschlechterung, asymmetrischen oder motorischen Ausfällen sowie bei Wunden/Ulzera an den Füßen.
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