Die diabetische Polyneuropathie (DPN) ist eine häufige und oft schmerzhafte Komplikation des Diabetes mellitus. Sie betrifft das periphere Nervensystem und kann zu einer Vielzahl von Symptomen führen, die die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Dieser Artikel beleuchtet die Pathophysiologie, die Ursachen und die verschiedenen Behandlungsansätze der diabetischen Polyneuropathie.
Was ist diabetische Polyneuropathie?
Diabetische Polyneuropathie bedeutet eine Schädigung vieler Nerven. Beim Diabetiker kann ein schlecht eingestellter Blutzuckerspiegel zu vielen Folgeerkrankungen des Diabetes führen. Nerven sind im Körper zuständig für die Übertragung von Signalen und Anweisungen zwischen dem Gehirn und den Muskeln. Sie steuern bewusste, aber auch unwillkürliche Körperfunktionen.
Entstehung der Neuropathie
Blutgefäße werden durch Blutzucker-Ablagerungen geschädigt. Die Blutgefäße können ihre Aufgabe, die Versorgung der Nervenzellen, nicht mehr leisten. Man kann sich diesen Zustand ähnlich dem eines mangelernährten Menschen vorstellen, dessen Körper zwar noch funktioniert, der jedoch zu Konzentrationsstörungen und damit zu Fehlhandlungen neigt. Mit zunehmendem Alter und zunehmender Dauer der Diabeteserkrankung tritt bei immer mehr Diabetikern eine Nervenschädigung auf. Bei Diabetikern mit einer Erkrankungsdauer von über zehn Jahren können bei etwa jedem zweiten Erkrankten Nervenschäden nachgewiesen werden. Nervenschäden können aber auch schon bei Beginn eines Diabetes auftreten.
Ursachen und Risikofaktoren
Die diabetische Polyneuropathie (dPNP) stellt die häufigste Ursache von Polyneuropathien dar. Chronische Komplikationen bei Diabetes mellitus und chronischer Alkoholkonsum sind für fast 50 % aller Polyneuropathien verantwortlich. Die meisten Fälle sind wahrscheinlich multifaktoriell.
Krankheitsbedingte Ursachen, inkl. Risikofaktoren und Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) für die Entwicklung einer diabetischen Polyneuropathie:
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- Diabetes mellitus (lange Dauer, schlechte Einstellung (Hyperglykämie/Unterzuckerung); ggf. Insulin als Folge einer Insulinresistenz.
- Androide Körperfettverteilung, das heißt abdominales/viszerales, stammbetontes, zentrales Körperfett (Apfeltyp) - es liegt ein hoher Taillenumfang bzw.
- Periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK; fortschreitende Stenosierung (Verengung) bzw.
- Hyperglykämie (Überzuckerung wg.
Ein schlecht eingestellter Blutzuckerspiegel beim Diabetiker kann zu Schäden an den Blutgefäßen führen. Durch Schädigung der Gefäßwände kann es zu einer Arteriosklerose (Gefäßverkalkung) kommen, die wiederum einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall sowie eine Durchblutungsstörung der Beine (sog. "Schaufensterkrankheit") nach sich ziehen kann. Es kann jedoch auch eine Schädigung der kleinen Blutgefäße erfolgen, die weit vom Körpermittelpunkt entfernt liegen. Die Schädigung dieser kleinen Gefäße tritt hauptsächlich dann auf, wenn der Blutzucker schlecht eingestellt ist. In diesen Fällen lagert sich der überschüssige Blutzucker an den Wänden der kleinen Gefäße ab und führt dort zu einer direkten Zerstörung der Blutgefäße.
Werden die Blutgefäße durch Anlagerung von Zucker in ihrer Funktion beeinträchtigt oder gar zerstört, werden die Nervenzellen nicht mehr richtig mit Blut versorgt und so mangelhaft ernährt. Aufgrund dieser mangelnden Versorgung sind die Nervenzellen in ihrer Funktion gestört. Es kommt zur Übertragung falscher Signale oder zum Ausfall der Übertragung von Signalen.
Weitere Ursachen und Risikofaktoren
- Alkoholbedingte Neuropathie: Übermäßiger Alkoholkonsum, der zu einer Beeinträchtigung der täglichen Leistungsfähigkeit führt. Labordiagnostisch kann chronischer Alkoholkonsum über ein erhöhtes Carbohydrate-Deficient-Transferrin (CDT) nachgewiesen werden.
- Guillain-Barré-Syndrom (GBS): immunvermittelte Polyneuropathie, die nach einer Campylobacter-jejuni-Infektion auftreten kann, selten durch andere Erreger hervorgerufen. Klassisch wird diese Krankheit mit einem kürzlichen Outdoor-Urlaub oder einer Reise in Verbindung gebracht.
- Kritische Erkrankungen: Sepsis und septischer Schock und Multiorganversagen auftreten. Diese Krankheit ist durch eine diffuse, schlaffe Muskelschwäche gekennzeichnet. In der Regel sind Atemmuskulatur und Gliedmaßen betroffen. Die Diagnose erfordert EMG sowie Untersuchungen der Nervenleitung.
- Medikamenteninduzierte Neuropathie: Therapieinduzierte Neuropathie durch übermäßig rasche Korrektur des HbA1c-Wertes/Blutzuckerlangzeitwert.
Pathophysiologie der Diabetischen Polyneuropathie
Die Pathophysiologie der diabetischen Polyneuropathie (DPN) ist komplex und noch nicht vollständig geklärt. Es gibt jedoch eine Vielzahl von Mechanismen, die als bewiesen gelten und zur Schädigung der Nerven führen.
- Mikroangiopathie: Eine Mikroangiopathie der Vasa nervorum, der kleinen Blutgefäße, die die Nerven versorgen, führt zu einer verminderten Blutversorgung und damit zu einem Sauerstoffmangel (Hypoxie) im Nervengewebe. Dies beeinträchtigt die Funktion und Regeneration der Nerven.
- Metabolische Toxizität: Beim gestörten Glucose-Stoffwechsel entstehen toxische Nebenprodukte wie Sorbit und Fructose, die in den Nerven akkumulieren und eine direkte toxische Wirkung auf die Neuronen haben.
- Entzündliche Prozesse: Chronische Hyperglykämie führt zur Bildung von advanced glycation end-products (AGE), die durch oxidative Mechanismen Gewebe- und Nervenschäden verursachen. Dies induziert einen oxidativen Stress, der DNA-Schäden, Zellnekrosen (Zelltod) und eine Störung der Mitochondrienfunktion hervorruft.
- Schädigung der Schwann-Zellen: Die Schwann-Zellen, die die Myelinscheide der peripheren Nerven bilden und für deren Regeneration verantwortlich sind, zeigen ebenfalls eine dysfunktionale Interaktion. Die Schädigung der Schwann-Zellen führt zu einer Demyelinisierung (Entmarkung) der Nervenfasern und zu einem Verlust der Nervenleitungsgeschwindigkeit.
Formen der Diabetischen Polyneuropathie
- Periphere sensomotorische diabetische Polyneuropathie (DSPN): Dies ist die häufigste Form der diabetischen Neuropathie. Sie manifestiert sich distal und symmetrisch, betrifft also vor allem Hände und Füße (distal-symmetrische Polyneuropathie). Typische Symptome sind Parästhesien (Missempfindungen), neurogene Schmerzen sowie eine Verminderung des Berührungs-, Schmerz- und Temperaturempfindens. Reflexe, wie der Achillessehnenreflex (ASR), sind oft abgeschwächt oder fehlen.
- Fokale Neuropathie: Diese Form umfasst Ausfälle einzelner peripherer und radikulärer Nerven, die meist durch Infarkte der Vasa nervorum verursacht werden.
- Es konnte nachgewiesen werden, dass die diabetische Polyneuropathie nicht nur die peripheren Nerven betrifft, sondern auch das zentrale Nervensystem (ZNS). Bildgebende Verfahren zeigen umschriebene Atrophien (Gewebeschwund) im Rückenmark, und mittels MR-Spektroskopie wurden neuronale Dysfunktionen im Thalamus nachgewiesen.
Symptome der Diabetischen Polyneuropathie
Nerven durchziehen den gesamten Körper, so dass eine Schädigung an ganz unterschiedlichen Stellen bzw. Organen auftreten kann. Die Erkrankung kann daher entsprechend unterschiedliche Ausfallserscheinungen zeigen. Man unterscheidet zwischen der diabetischen Polyneuropathie an den Beinen (siehe Diabetischer Fuss) und der autonomen Neuropathie an diversen Organen, wie dem Darm, der Haut und dem Genitalsystem.
Autonome Neuropathie
Sehr häufig treten bei einer autonomen Neuropathie Schäden am Herzen auf. Die Patienten leiden dann oft unter Herzrasen, können aber genauso einen zu niedrigen Blutdruck aufweisen, der bei schnellem Aufstehen bis zur Bewusstlosigkeit führen kann. Auch der gefährliche sog. "stumme" Herzinfarkt beim Diabetiker beruht auf dieser Nervenschädigung.
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Im Bereich des Magen-Darm-Traktes zeigt sich eine diabetisch bedingte Nervenschädigung durch Verdauungsstörungen, die sich sowohl durch Durchfall als auch durch Verstopfung und Völlegefühl bemerkbar machen. Auf der Haut führt die Nervenschädigung zu einer verminderten Schweißbildung. Die Haut wird trocken und rissig und es kann sich der sog.
Nicht zuletzt am Urogenitalsystem können bei Diabetikern gravierende Schäden auftreten. Im Bereich der Harnblase kommt es zu Störungen der Blasenentleerung, die wiederum zu Harnwegsinfekten führen können. Zudem treten bei fast jedem zweiten Diabetiker oft schon in den ersten zehn Jahren der Erkrankung Potenzstörungen auf.
Diagnose
Der Nachweis einer Schädigung des somatosensorischen Systems ist Voraussetzung für die Kategorisierung der Schmerzen als neuropathisch.
Therapie
Da es keine endgültige Heilung gibt, konzentriert sich die Therapie auf eine engmaschige Überwachung und Aufrechterhaltung des Blutzuckerspiegels.
Die Behandlung der Diabetische Polyneuropathie erfolgt in erster Linie durch eine Verbesserung der Blutzuckereinstellung. Ist ein Diabetiker an einer Polyneuropathie erkrankt, sollte der Blutzucker zur Vermeidung weiterer Nervenschäden möglichst auf unter 150 mg/dl auch nach dem Essen eingestellt werden. Schon die Verbesserung der Blutzuckereinstellung kann zu einer schlagartigen Verbesserung der polyneuropathischen Beschwerden und teilweise sogar zu einer Rückbildung der schon eingetretenen Nervenschäden führen.
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Medikamentöse Therapie
Bei Missempfindungen und Schmerzen können einige Medikamente helfen, die Symptome zu lindern. Wichtig an dieser Stelle: Übliche Schmerzmittel gegen Kopf-, Gelenk- oder Magenschmerzen (Aspirin, Ibuprofen und weitere) sind nicht geeignet. Stattdessen sollten Ärztinnen oder Ärzte bestimmte Medikamente verschreiben, die direkt auf das Nervensystem wirken, wie Pregabalin oder Duloxetin.
Die Dosierung dieser Medikamente sollte bis zum Wirkeintritt, aber nicht über die Maximaldosierung hinaus gesteigert werden, sofern sie vertragen werden. In der Praxis kommt es oft vor, dass mit einer niedrigen Dosis begonnen und dann vergessen wird, diese zu steigern, obwohl noch keine Linderung der Symptome eingetreten ist. Wichtig ist daher, die mögliche Dosierung auszureizen, bevor auf ein anderes Medikament gewechselt wird.
Bei Nebenwirkungen muss sorgfältig abgewogen werden, inwiefern diese vertretbar sind oder nicht. Abhängig von der Art der neuropathischen Symptome und der Begleiterkrankungen können gegebenenfalls auch mehrere Medikamente kombiniert werden. In schweren Fällen ist auch der Einsatz von Morphinen gerechtfertigt.
Neben diesen symptomatischen Therapien gibt es auch Ansätze, die Nervenschäden verursachenden Mechanismen durch Medikamente zu beeinflussen. Alpha-Liponsäure, ein frei verkäufliches und gut verträgliches Medikament, zeigte in diversen Studien einen günstigen Einfluss auf die Nervenfunktion und Symptome der peripheren diabetischen Polyneuropathie. Einige Studien berichten von einer recht früh eintretenden Verbesserung. Laut einer anderen Studie ist eher von einem langfristigen günstigen Effekt auszugehen. Der individuelle Behandlungserfolg ist deshalb weniger leicht feststellbar.
Ebenso wird vermutet, dass Benfotiamin, eine Vorstufe von Vitamin B1, günstige Effekte auf diese Mechanismen ausübt, die vermutlich an der Entstehung diabetischer Nervenschäden beteiligt sind. Es wird bereits bei nicht diabetischen Polyneuropathien eingesetzt. Bei diabetischen Nervenschäden gibt es bisher nur wenige Studien, die einen günstigen Einfluss nach mehreren Wochen Einnahme belegen. Da Benfotiamin und Alpha-Liponsäure beide in Apotheken frei verkäuflich sind, werden diese in Deutschland nicht von den Krankenkassen bezahlt.
Weitere Behandlungsansätze
Neben regelmäßig einzunehmenden Medikamenten gibt es noch weitere Behandlungsansätze. Manchen Betroffenen hilft eine Psychotherapie, die durch chronische Missempfindungen oder Bewegungseinschränkungen eingeschränkte Lebensqualität zu verbessern. Eventuell kann eine elektrische Stimulation mit speziellen Geräten die Beschwerden lindern. Fachleute nennen diese Behandlung TENS (Transkutane elektrische Nervenstimulation). Bei schwer zu behandelnden neuropathischen Schmerzen kann auch die lokale Anwendung von Capsaicin-Pflastern ausprobiert werden. Capsaicin wird aus Chili-Schoten gewonnen und ist dafür verantwortlich, dass wir deren Geschmack als scharf wahrnehmen. Bei Muskelschwäche, Bewegungsstörungen oder Lähmungen hilft regelmäßige Krankengymnastik oder Physiotherapie. Sehr wichtig ist es, ein bestimmtes Grundmaß an körperlicher Aktivität aufrechtzuerhalten, da sonst Bewegungsabläufe vom Körper verlernt und Muskeln übermäßig abgebaut werden.
Menschen, die durch die Polyneuropathie ein eingeschränktes Berührungs- und Schmerzempfinden in den Füßen haben, sollten auf jeden Fall ihre Füße und Schuhe häufig auf Druck- und Scheuerstellen kontrollieren.
Behandlung von Begleiterkrankungen
Leider sind die Organschädigungen sehr schwer zu behandeln. Man kann lediglich versuchen, die Symptome durch Einsatz entsprechender Medikamente zu bekämpfen. So gibt man bei einer autonomen Neuropathie beispielsweise je nach den Auswirkungen der Erkrankung Medikamente gegen Herzrasen, gegen zu niedrigen Blutdruck, gegen Verstopfung, Durchfall und Blähungen und rät zum Eincremen von rissiger Haut.
Für die Behandlung diabetischer Potenzstörungen existieren neben der Einnahme von Substanzen wie Viagra® zudem noch spezielle Therapieverfahren. Gut bewährt haben sich der Einsatz einer Vakuumpumpe als Erektionshilfesystem sowie die sog. "Skat-Methode", bei der bestimmte Medikamente vom Patienten selbst in die Schwellkörper injiziert werden.
Alternativ zu Medikamenten
Einige Patienten berichten nach der Verabreichung von starken Infusionen mit Liponsäure über eine Dauer von mindestens zwei bis drei Wochen von einer Beschwerdelinderung. Die Gabe von Liponsäure in Tablettenform oder in Form von Vitamin B hat jedoch bislang keinen Nutzen gezeigt. Erst bei anhaltenden starken Schmerzen sollte der Einsatz von nervenschmerzlindernden Medikamenten (Saroten®, Tegretal®) erwogen werden, da diese in ihrer Wirkung sehr stark sind und eine Reihe von unerwünschten Nebenwirkungen verursachen können. In spezialisierten Rehakliniken konnte weiterhin durch den regelmäßigen Einsatz von Zweizellen- bzw. Vierzellenbädern (sog. "Stangerbäder") ein zusätzlicher Erfolg erzielt werden.
Prävention
Bei Typ-1-Diabetes kann ein sehr gutes Blutzuckermanagement das Fortschreiten verzögern oder aufhalten. Sobald eine Neuropathie festgestellt wird, sollten Betroffene zusammen mit der Ärztin oder dem Arzt gemeinsam entscheiden, welche Behandlungsmöglichkeiten in Frage kommen. Diese können von Mensch zu Mensch sehr verschieden sein. In jedem Falle ist es wichtig, andere Ursachen für Nervenschäden, wie zum Beispiel einen erhöhten Alkoholkonsum oder einen Mangel an Vitamin B12, so weit wie möglich zu reduzieren.
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