Die Nerven, ein Trio aus Stuttgart, haben sich mit ihren furiosen Live-Shows und ihrer kompromisslosen Haltung zu einer der wichtigsten deutschsprachigen Bands entwickelt. Ihre Musik, die sich zwischen Post-Punk, Noise-Rock und Indie bewegt, ist ein Spiegelbild der gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände, voller Wut, Verzweiflung und einer gehörigen Portion Zynismus.
Die Entwicklung der Band
Die Band wurde 2010 in Esslingen bei Stuttgart von Kevin Kuhn (Drums), Max Rieger (Gitarre, Gesang) und Julian Knoth (Bass, Gesang) gegründet. Bereits ihr erstes Album "Fluidium" (2012) erregte mit seiner treibenden Rohheit und räudigen Direktheit Aufmerksamkeit. Der Durchbruch gelang ihnen mit dem Zweitling "Fun", das als eine der wichtigsten und besten deutschsprachigen Platten des Jahrzehnts gefeiert wurde.
In ihren frühen Werken experimentierten Die Nerven mit Punk, DIY und Dekonstruktion. Sie legten Wert auf Uneindeutigkeiten und Interpretationsspielräume in ihren Texten. Alle Mitglieder widmen sich zudem spannenden Solo-Aktivitäten.
Das "schwarze Album" und der Blick auf Europa
Das selbstbetitelte fünfte Album, oft als "schwarzes Album" bezeichnet, markiert einen Höhepunkt in der Karriere der Band. Es verhandelt mit viel Wut und Post-Punk im Bauch gesellschaftspolitische Themen und wurde als das dringlichste und dichteste deutschsprachige Album des Jahres 2022 gefeiert. Musikalisch vielfältig aus Indie-, Noise- und Punkrock geflochten, arbeiten sich die Texte an unserer disparaten und destruktiven Welt ab.
Ein zentrales Thema des Albums ist die Auseinandersetzung mit Europa. In dem Song "Europa" artikuliert sich das Erstaunen darüber, dass es ernsthaft Leute gibt, die an dieser grandiosen Idee zweifeln, als auch die Angst davor, dass es damit bald zu Ende sein könnte. Direkt im Anschluss erteilen Die Nerven Nationalstaaten eine Absage. "Ich sterbe jeden Tag in Deutschland" reiht sich ein auf der Liste der großen Abarbeitungen an einem Land, das für die dunkelste Stunde der Menschheit verantwortlich ist.
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"Wir waren hier": Ein Abgesang auf die Menschheit?
Mit ihrem sechsten Album "Wir waren hier" setzen Die Nerven ihren düsteren Kurs fort. Das Album, das im September 2024 bei Glitterhouse erscheint, ist ein melancholisches Indie/Post-Punk-Werk, das mal etwas ruhiger, mal etwas wilder daherkommt. Mal gesellschaftskritisch und auch mal einfach persönlicher. Dabei wird immer eine leichte düstere Stimmung verbreitet.
Der Titelsong zieht die Bilanz des menschlichen Daseins, eine Spur der Sinnlosigkeit, der Zerstörung. Nach uns die Sintflut - und schnell noch den Castor ins Meer schmeißen, damit der Spiegel schneller steigt und alles Leben im Wasser verreckt. Die Musik zum Elend bietet ein paar mehr Doom-Anleihen, passt ja. Um ein Haar hätte dieser Abgesang gelangweilt.
Thematisch dreht sich das Album um das fragile Zusammenspiel von Mensch und Natur, handelt von der Tatsache, dass sich beides grausam und wunderschön präsentieren kann. Beides kann zerstören und einzigartige, heilsame Momente schaffen. Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der sich zwangsläufig anschließt, ist der Faktor Zeit.
Musikalische Vielfalt und Eigenständigkeit
Die Nerven zeichnen sich durch ihre musikalische Vielfalt und Eigenständigkeit aus. Sie scheuen sich nicht, Elemente aus verschiedenen Genres zu integrieren und ihren Sound immer wieder neu zu erfinden. Auf "Die Nerven" kommen Streicher in den Songs "Ein Influencer weint sich in den Schlaf" und "180º" zum Einsatz, während Kuhn in seinen Fills klingt, als hätte er das aktuelle Kvelertak-Album in Dauerrotation gehört.
Auf "Wir waren hier" ist der Sound der Nerven gereift. Da ist immer noch die Systemkritik, die bockige Verweigerungshaltung, das "Ich will nicht mehr funktionieren", eingebettet in die seit jeher farbfeindliche Bildsprache Riegers. Und trotzdem ist sich diese Attitüde inzwischen ihrer selbst deutlich bewusster als früher. Das Prinzip Hoffnungslos hat bei Die Nerven fast schon wieder aktivierendes Potenzial.
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