Die Nerven, eine feste Größe im deutschen Post-Punk, melden sich mit ihrem sechsten Album "Wir waren hier" zurück. Ein Album, das die Hörer*innen packt, ihre Körper mit Melancholie durchzieht und dabei musikalisch zwischen Dystopie und Hoffnung oszilliert. "Wir waren hier" ist ein kreatives Bollwerk der Kontraste über das Leben, die Psyche und den Verstand.
Apokalypse als Sehnsuchtsort
In einer Welt, in der die alten weißen Männer die Welt zugrunde richten, wird das Ende zum Sehnsuchtsort. Die Nerven stehen mit dem Titelsong ihres sechsten Albums "Wir waren hier" in der Tradition von Pop-Apokalyptikern, die mal fröhlich, mal wehmütig, mal stoisch auf das bevorstehende Ende warten. Es ist ein dystopischer Noise-Rock-Abgesang auf unseren turbokapitalistischen Gefräßigkeitsmotor. Die Songs oszillieren erschütternd präzise zwischen Trotz, Resignation und Wut, zwischen Noise-Rock und Post-Punk, New Wave und Indie-Pop, zwischen Adorno und Tocotronic: Kapitulation jetzt!
Ein Bollwerk der Kontraste
Die Nerven stehen als Bollwerk des deutschen Post-Punks für durchdachte Texte, drückende Sounds und immer wiederkehrende abstruse Kontraste. Schon der Beginn vom Opener „ALS ICH DAVON LIEF“ bereitet Hörer*innen eindrücklich auf den Rest vor. Wie eine startende Achterbahn schiebt der Bass und die restliche Lautstärke jedem in das gewählte Sitzmöbelstück. Verzogene Gitarren und ein melodischer Refrain treffen auf eine raue und melancholische Stimme, welche über die eigene Flucht vor dem Realen singt. Die nächsten Songs, die folgen, lassen sich als komplette Gegensätzlichkeit beschreiben: „DAS GLAS ZERBRICHT UND ICH GLEICH MIT“, als schneller, fast waviger Song, „GROßE TATEN“ mit leiser Strophe und schallendem Refrain und dann der Titeltrack „WIR WAREN HIER“ als wohl klassischster Die Nerven-Song, was auch immer das bedeuten mag. Mit „ACHTZEHN“ stimmt das Trio aus Stuttgart eine waschechte Ballade an, welche zurückgefahrener und trauriger kaum sein könnte, mit einem Blick in die eigene Vergangenheit. Der letzte Teil des Albums ist dann erneut sehr laut. Keine Ruhe, keine halben Sachen, geballter Post-Punk in Reinform inklusive verzogener Gitarren, pompösem Aufbau und stimmgewaltiger Lyrik. Mit „DISRUPTION“ endet das Album auf einem Höhepunkt. "WIR WAREN HIER" ist erneut eine perfektionsnahe Manifestierung der absoluten Genialität von Die Nerven. Die lauten Momente machen Platz für die Ruhe, machen Platz für das Chaos, machen Platz für alles zusammen.
Eskapismus und die Angst
"Auf der Flucht vor der Wirklichkeit ist mir kein Weg zu weit." Kein Wunder also, dass das sechste Album von Die Nerven mit einem panisch anmutenden Marsch-Getrommel startet, und überhaupt treibt "Wir waren hier" mehr als nur Eskapismus an. Die Angst ist allgegenwärtig, sie sitzt in jeder Pore dieser Platte, kriecht aus dem prägnanten Bassspiel von Julian Knoth, Kevin Kuhns cholerischen Drums und aus Max Rieger, bei dem man nie ganz weiß, ob seine Riffs oder sein Gesang mehr Galle versprühen. Dass Die Nerven es dennoch schaffen, in fast jedem Song trotzdem einen Killerrefrain unterzubringen, ist nur die Hand, die sie zum Schein reichen, um damit wenig später eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Nein, auch die Vorgänger wie "Fake" oder das selbstbetitelte Album waren sicher keine Feelgood-Platten. Aber so elend schlechtwettrig, so buchstäblich apokalyptisch wie auf "Wir waren hier" war das Trio noch nicht unterwegs.
Lieder vom Ende der Welt
"Wir waren hier / Keine Pflanze, kein Tier / War so wertvoll wie wir." Lieder vom Ende der Welt singen sie, von der arroganten Selbstabschaffung der Menschheit, und wenn der Titeltrack den unfassbar wuchtigen Anfangslauf mit verhalltem Lärm abschließt, kann man nur noch staunen. "Warum hab ich Angst, aber Du nicht?", fragt Rieger im programmatisch betitelten "Das Glas zerbricht und ich gleich mit" zu einem instrumentalen Backing, das die Frage beantwortet, was passiert, wenn Shoegaze Paranoia und Fluchtreflexe entwickeln würde. "Wir nehmen die letzten Stunden fette Jahre gerne mit." Wenn überhaupt so viel bleibt, denn alles klingt wie fünf vor zwölf. Da muss die bassbetonte Hasstirade "Grosse Taten" kurz gehalten und auf einem ziemlich klaren Punkt gebracht werden: "Hab' ich Dir schon gesagt / Dass ich Dich gar nicht mag? Im Anschluss werden die Zügel gelockert, die Stücke weitläufiger. "Wie man es nennt" atmet Schwermut, erinnert an manche Momente von Riegers Projekt All Diese Gewalt und taucht aber ebenfalls in einen dreidimensionalen Sound ein. Fatalismus allerorten: "Ein Hoch auf die Jugend / Zum Glück ist sie vorbei." Man will nie mehr "Achtzehn" sein, lieber noch etwas mehr The Cures Hochphase einfließen lassen. "Nie mehr war ich so voll / Nie mehr so leer." Auch "Wir waren hier" behält die großen Gesten von "Die Nerven" bei und kann es sich noch mehr leisten.
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Selbstsabotage oder Genialität?
Sechs Songs lang ist es mit Abstand ihre beste Platte und vielleicht passt es ja zur Selbstsabotage, dass Die Nerven danach zwar nicht den Faden verlieren, aber eben nicht mehr den Eindruck vermitteln, sie spielten gerade um Leben und Tod. "Irgendwo zwischen jetzt und hier / Bin ich ganz bei mir", heißt es in "Bis ans Meer". "Ich will nicht mehr funktionieren", äh, funktioniert dann eben doch als eine dieser energischen Hymnen, die sie im Schlaf in hoher Qualität aus dem Ärmel schütteln können. "Ich bin mir ziemlich sicher, man kann hier noch Prozesse optimieren / […] / Ich hab' mich nie weniger für Eure ganze Scheiße interessiert" - fast fühlt man sich als Rezensent schon angesprochen. Weil's ja Quatsch ist, jetzt hier rumzukritteln, zu bemängeln, dass "Schritt für Schritt zurück" mit etwas zu banalem Lyrics - "Denn ich mache ständig nichts / Immer weiter" - genau das tut, was sein Titel andeutet, weil der intensive, mit schier unerbittlicher Gewalt plattdrückende Closer "Disruption" ja doch wieder das Feuer aus den Kohlen holt. "Ich steige aus der Unterwelt / Lockere den Druck, der mich zu ersticken droht / Frei sein ist so ungewohnt." Voller und voller wird der Sound, bis tatsächlich die beschriebene Lockerung durch verglühendes Feedback eintritt. Die folgende Stille macht es unmissverständlich deutlich: Sie waren hier.
Umstrittenes Potenzial
Die Nerven und ihr schier unerschöpfliches Potenzial sind in der Redaktion völlig umstritten - ob die letzten Bandversuche schlechter waren als die Solobemühungen der Bandmitglieder jedoch nicht, zumindest vertrete ich diese abweichende Meinung. Es spricht für die heiße Liebe zu einer Band, wenn man jeder Veröffentlichung selbst nach Enttäuschungen entgegenlechzt, wenn man jede All Diese Gewalt-B-Seite abhören muss, jede Peter Muffin-Bandcamp-Veröffentlichung, jedes Wolf Mountains-Vinyl (mit ihren wunderschönen Covern), weil einem drei junge Typen aus Esslingen auf "FUN", "Fluidium" und "Out" dermaßen den Pelz abgezogen haben, dass man seitdem nackig und frierend durch die Welt laufen muss.
Kompromissloser Beginn
Die Gerbergesellen beginnen "Wir Waren Hier" in kompromissloser Art und Weise und schnell kommt das bekannte, vermisste, ungute Gefühl hoch. Max's Gitarre dient als wogende Wellenwand, den Song tragen aber Sänger Knoth und Kuhn; das tun sie hier in exzellenter Art und Weise. Der Song wirkt viel simpler, als er tatsächlich ist, er unterhält lediglich eingängig, man verpasst vieles, weil sich die Abschnitte so organisch hintereinanderlegen. Die verspielte Strophe mit dröhnendem Bass und scharfem Knoth wechselt sich ab mit dräuendem Refrain, auf dem Julian fast schon losgelöst sing-grölt. Der singt abstrakt über seinen Fluchtwunsch aus der Gesellschaft, garniert mit Anklage ("Kannst du mich retten?").
Zweifel und Sprachbilder
"Das Glas Zerbricht Und Ich Gleich Mit" übernimmt Max Rieger am Mikrofon, und man fühlt sich auch bei ihm gleich zuhause. Schneller, mehr Rhythmusgitarre, schnellerer Bass und simpleres Schlagzeug, weniger Lärmwand, viel, viel mehr Zweifel, wenn er singt "Warum hab' ich Angst / aber du nicht?". Einzige Schwäche ist der Refrain, in dem Riegers Gesang zu weit nach hinten gemischt wird und der Song im Wesentlichen einfach fortgesetzt wird, nur durch etwas Filter gejagt. Weder die Filter noch die Anpassung in der Produktion wären notwendig, denn der Song ist in seiner Struktur variabel und schlicht gut geschrieben. Knoth begeht danach "Grosse Taten" und erzählt von einem veränderungsunwilligen Laberkopf; die Kehligkeit der ersten Minute ist grandios, nach dem ersten Refrain wird der Song aber zunächst nur fortgesetzt, ohne an Qualität einzubüßen, aber auch ohne den Schwung weiter auszubauen. Der Titeltrack findet in den Strophen sehr viel schönere Sprachbilder als im etwas abgeschmackten Refrain, dessen Nach-Oben-Treiben auch musikalisch nicht astrein durchdacht wirkt und nicht zum lauernden Beginn passt. Bärenstark fällt das letzte Drittel des Songs aus. Es ist das erste Mal, dass man die Quasi-Live-Aufnahmesituation des Albums, für das sich die Bandmitglieder in ihrer Heimat in Klausur begaben, deutlich vernimmt.
Pop mit Ecken und Kanten
"Wie Man Es Nennt": sehr gute Musik, so nennt man das. Knoth ersäuft gekonnt im Zweifel und gibt dem Song eine Stringenz, die fasziniert und in den Bann zieht. "Meine Haut / wie zerkratzter Lack", singt der Bassist, und immer an genau den richtigen Stellen lässt die Musik los, zieht wieder an, kommt Kuhn von hinten mit einer seiner nie übertriebenen Figuren. Das Ding schunkelt im Midtempo nach Hause, ohne sich irgendwie falsch anzufühlen; eigentlich ist das Pop. "Und ich fühl' mich so fremd / Weiß nicht wie / Man das nennt" sollten bei dieser Eingängigkeit die Auswärtsfans singen. Das wird kaum passieren, dafür entschädigt das tolle Saitenduett zu Beginn von "Achtzehn". So wirklich schlechter will das auch danach partout nicht werden, während Rieger mit einer unerschütterlichen Glaubhaftigkeit skandiert: "Ich will nie mehr achtzehn sein!". Wie der Vorgängertrack verlässt der Song nie das Parkett einer gewissen Samtigkeit, ohne je gekünstelt rüberzukommen. Wo das Vorgängeralbum meiner Meinung nach zu oft entweder mit angezogener Handbremse oder billiger Eskalation agierte, zeigt ein "Achtzehn", welche Songwriter-Kapazitäten diese drei Musiker haben. Wie viele andere starke Tracks des Albums geht es immer organisch weiter, und doch kommt man ganz woanders raus, als man angefangen hat.
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Flucht ans Meer
Mit "Bis Ans Meer" folgt der nächste Killer-Beginn eines Tracks, Knoth übernimmt mit einer abartig tanzbaren Bassline und wie so oft auf "Wir Waren Hier" flieht die Band vor sich selbst, diesmal halt ans Meer, wo sie das Wasser anbrüllen. Wieder ist der Refrain gut, während die Strophe, in der Rieger zwischen Knoth schießt und ihn ungeduldig antreibt, wahrnehmbar besser, nämlich perfekt ist. Die organische Verbindung der beiden Parts gelingt wie auf "Das Glas Zerbricht Und Ich Gleich Mit" und "Grosse Taten" nicht nahtlos. Wie unnötig das ist, zeigt auch "Bis Ans Meer" im letzten Drittel, in dem Knoth nicht nur alles am Bass abreißt, Kehligkeit und Bruch in seiner Stimme zulässt und damit unmittelbar brilliert, sondern im freieren Umgang mit dem Refrain, ein freieres Hinführen, das zu einer Weltklasseleistung führt, für die der Beginn eben nicht notwendig war, sondern der einfach schwächer komponiert ist. Manchmal legen sich Die Nerven Korsette im Sound an, obwohl ihre Hüften doch natürlich wunderschön geformt wären.
Verweigerung und Pop-Appeal
"Ich Will Nicht Mehr Funktionieren" stellt Kevin Kuhn in den Vordergrund, der handwerklich sowieso über jeden Zweifel erhaben ist und zuverlässig die Stellen identifiziert, in denen er mit Kleinigkeiten Mehrwert liefert. Hier hätte sein freieres Spiel, mit dem er dem Track seinen Stempel aufdrückt, auch im Refrain gutgetan. Der Titel richtet den Finger auf das Albumthema Eskapismus; in dieser Gesellschaft fühlt sich das nächste "Schritt Für Schritt Zurück" ebenfalls wohl. Musikalisch nähern sich die Nervenenden dem Pop, indem sie ihm fest die Hand drücken und zum Tanz auffordern, ohne den eigenen Charakter einzubüßen. Für die Gitarre in den Strophen hätte jede 80er-Band getötet, geschweige denn die 00er-Emos; das wirkliche Highlight ist aber die Gitarre im Refrain, die in ihrer Poppigkeit eigenhändig den Song hebt. Alles fließt in rasender Geschwindigkeit, aber ohne Schärfe, nicht in die Gegenrichtung. Ein ziemlich perfekter Gitarren-Popsong.
Ein versöhnlicher Abschluss
"Disruption" macht den Sack zu, und dafür, dass Die Nerven mal der Inbegriff von disruptiv, anstrengend und nicht absehbar losschlagend waren, ist es beachtlich, wie völlig at ease man ist nach mehreren Hördurchgängen. Auf dem Closer zeigt Knoth, wer der Bassbabo ist, bis Rieger die Gitarren für ein letztes Donnerwetter zusammenruft, das dann nicht kommt, sondern in den Wolken verharrt: "Frei sein ist so ungewohnt" singt Max dazu. Diese Freiheit der Nerven spürt man und sie macht so viel Lust auf mehr.
Fazit
"Wir Waren Hier" ist ein tolles Album. Die talentierteste deutsche Band der U35er (sechstes Album, wohlgemerkt!) lässt die Muskeln spielen und zerreißt dabei die eigenen T-Shirts. Die Band sagt, es sei das erste Album gewesen, dass keine Verbindung zum letzten spüren ließ und da stimme ich zu, da der Ansatz so offensichtlich unterschiedlich war. Der Sommer neigt sich dem Ende. Draußen wird es früher dunkel, die Kleidung wird länger und dicker, da kann die Musik auch mal wieder etwas düsterer werden. Genug Fun-Punk und Gute Laune-Ska. Vielleicht hat sich die Band das ähnlich gedacht und passenderweise ihr sechstes Studioalbum veröffentlicht. Das hört auf den Titel Wir Waren Hier und kommt mit dem gewohnten melancholischen Indie/Post-Punk daher. Mal etwas ruhiger und mal etwas wilder. Mal gesellschaftskritisch und auch mal einfach persönlicher. Dabei wird immer eine leichte düstere Stimmung verbreitet. Auf Wir Waren Hier gibt es keine großen stilistischen Überraschungen, aber das ist auch gut so. Wer die Band kennt, weiß, was hier auf einen zukommt: Düstere Sounds und Texte, aber perfekt in Einklang gebracht. Und wem das alles nicht genug ist, dem bleibt die Single Achtzehn. Die Nerven ist ein ernstes, melancholisches Album gelungen, wie man es von der Band kennt und auch erwartet. Es muss nicht immer gute Laune und heile Welt sein. Ein bisschen Pessimismus ist auch ok.
Die große Verweigerung
Die große Verweigerung geht weiter: Die Nerven liefern mit ihrem mittlerweile sechsten Album »Wir waren hier« den Soundtrack gewordenen Mittelfinger in Richtung Gegenwart. »Mein Körper ist ein Tempel, ich reiße ihn ein«, heißt es bei den Stuttgartern dieses Mal. Ja, klar, wieso auch nicht? Ist eben alles scheiße, unübersichtlich, unverständlich. Entsprechend stellt sich »Ich will nicht mehr funktionieren« weniger als Statement, sondern mehr als Lebensgefühl heraus. Entsprechend zeigen diese zehn Songs Die Nerven auf dem Höhepunkt ihres Schaffens. Mit jedem Durchgang drängen sich mehr und mehr Zeilen auf, die im Geist kleben bleiben: »Warum habe ich Angst, aber du nicht?« Unterfüttert mit panischen Gitarren und Drums, in eine unverwechselbare Dringlichkeit gegossen. Mit diesem Album lässt sich die Welt nicht besser verstehen. Aber man fühlt sich weniger allein. Gegen alle Selbstoptimierungen, gegen alle Verklärungen, gegen alle Schönmalerei.
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Kreativer Schaffensprozess
Für ihre neue Platte haben sich Julian Knoth, Max Rieger und Kevin Kuhn für vier Wochen zurück nach Stuttgart gewagt. Gegenüber der Oper nehmen sie 2023 im holzgetäfelten Gastraum eines ehemaligen Sterne-Restaurants, der Zirbelstubel, die kreativen Arbeiten für ihr sechstes Album auf. „Wir waren hier“, so lautet der Titel einer Platte, die mit dem Blick auf die Hochkultur in einem Raum entstanden ist, der Aspekte von Spießigkeit und Konsum symbolisiert. Dort spielt das Trio, nach eigenen Angaben mühelos und leicht wie in der Frühphase, eine Platte ein, die sich aus live bewährten Fragmenten und aus der besonderen Magie zusammensetzt, die dann entsteht, wenn sich die drei ausdrucksstarken Individuen unter der Flagge DIE NERVEN zusammentun.
Themen des Albums
Thematisch dreht sich das Album um das fragile Zusammenspiel von Mensch und Natur, handelt von der Tatsache, dass sich beides grausam und wunderschön präsentieren kann. Beides kann zerstören und einzigartige, heilsame Momente schaffen. Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der sich zwangsläufig anschließt, ist der Faktor Zeit. Die Zeit regelt, genauso wie die Natur. Nachträglich erscheint einiges anders und so kann eine Rückschau auf die Jugend („Achtzehn“) erst mit Abstand und der Möglichkeit zur Erkenntnis erfolgen. Fundamentale Themen wie Depressionen, das Selbstverständnis des Patriarchats, Selbstkonfrontation, Vor- und Nachteile von Vergänglichkeit und Prokrastination, bringen Julian und Max auf „Wir waren hier“ deutlich stärker mit sich selbst in Verbindung. Besonders Julian Knoth (EINERBANDE, PETER MUFFIN TRIO, DIE BENJAMINS …) hat im Verlauf der letzten beiden Platten eine enorme Entwicklung seiner Performance hingelegt, singt jeden seiner Parts, als sei es sein letzter, und transportiert eine einzigartige Aufrichtigkeit, die tief berührt. Auch Kevin Kuhn, der bekanntlich viel zu tun hat (SCHARPING, live bei SHITNEY BEERS …), findet seine Momente, weiß genau, wann er mit den Drums etwas an der Stimmung drehen, sie sublimieren oder eskalieren lassen kann. Und passend zum Kernthema Zeit katapultieren uns DIE NERVEN auf angenehme Weise mit Songs wie „Wie man es nennt“ und „Bis ans Meer“ wieder zurück in ihre Anfangstage. Max Rieger (auch ALL DIESE GEWALT) spielt von Melancholie durchtränkte Gitarrenmelodien, die sofort den Raum verdunkeln und leicht den Hals zudrücken. Mit ihrer letzten, titellosen Platte hatten sich DIE NERVEN bewiesen, dass sie konzentriert und akzentuiert komponieren und aufnehmen können. Dieses Mal fokussieren sie sich auf die Schwingungen innerhalb der Band. Alle drei Musiker sind gereift und scheinen blind zu wissen, wie man diese einmaligen DIE-NERVEN-Hits schreibt.
Dystopischer Sound und Texte
Postpunk und Noise-Rock über „die Risse dieser Welt“: Die Nerven sind zurück mit dystopischen Texten und düsterem Sound. Wenn es nach dem selbstbetitelten „schwarzen Album“ von 2022 - also der Platte mit dem schönen Hund auf dem Cover - noch irgendwelche Zweifel daran gab, sind sie jetzt definitiv beseitigt: Die Nerven sind die derzeit wichtigste, klügste, beste Rockband des Landes. So, das musste jetzt mal in aller Deutlichkeit raus. Denn auch „Wir waren hier“ ist ein Postpunk-trifft-Schmerz-Wunderwerk, das „die Risse dieser Welt“ (so die „Rolling Stone“-Review-Überschrift, eine Songzeile des monumental wütenden Titelstücks zitierend) grell und düster zugleich ausleuchtet wie kein anderes Album im deutschsprachigen Raum. „Wir haben uns verewigt in den Rissen der Welt“, heißt es also in besagtem titelgebenden, Richtung Metal abbiegenden Dampfhammer-Song des Indie-Trios. „Wir waren hier/Wir waren hier/Keine Pflanze, kein Tier war so wertvoll wie wir/Nach uns kommt die Sintflut/Wir fressen vorher alles auf.“ Puh, gute Laune macht das nicht. Aber wie auch in Zeiten, die überlebenswichtige Themen wie Umweltzerstörung, ökologischer Fußabdruck des Menschen und Klimakatastrophe an den Rand gedrängt haben zugunsten von rechtspopulistischem Migranten-Bashing, irrsinnigen Schuldenbremsen und Putin-Arschkriecherei. Wenn die beiden Nerven-Sänger Max Rieger und Julian Knoth in Tracks wie „Bis ans Meer“ irgendwann nur noch brüllen („Irgendwo, zwischen jetzt und hier/bin ich ganz bei mir“, „Ich schrei lauter als die Wellen/ich schrei lauter als das Meer“), stellen sich unweigerlich die Nackenhaare aufrecht angesichts von so viel eindringlicher Verzweiflung. „Das Album sollte aus allen Nähten platzen, auch wenn es auf Zimmerlautstärke abgespielt wird“, sagte Rieger dem Schreiber dieser Review vor zwei Jahren zur damals sensationell einschlagenden Vorgängerplatte. Diese Devise galt auch für „Wir waren hier“.
Bewährte Cleverness
Die Label-PR hat für dieses so angenehm vertraute wie clever weiterentwickelte Songwriting- und Sound-Erlebnis ein schönes Bild gefunden: „In ihrer Musik fliegt man immer noch über Halden voll Schrott, über dürre Heiden, wüste Länder und öde Städte. Die neuen Songs hat das Trio „in einer vierwöchigen Session in einem ehemaligen Sterne-Restaurant am Stuttgarter Schlossgarten mit Blick auf die Oper geschrieben“, heißt es. „Wir waren wieder alle gemeinsam in einem Raum, und plötzlich ging alles wieder wie von alleine. „Es ist das erste Album, das wir machen, das sich nicht so anfühlt wie unser letztes Album“, teilt die Band mit. Gut so. „Wir waren hier“ ist ihr drittes Meisterwerk in Folge nach „Fake“ (2018) und „Die Nerven“ (2022) - das muss ihnen erstmal jemand nachmachen.
Eskapismus und Sinnlosigkeit
Erst der Weltuntergang, dann die Schönheit in der Gefahr. One, two, three, four - aber noch geht’s nicht los. Die Nerven stoppen, starten, stoppen, stolpern, stampfen. Es läuft „Als ich davon lief“ vom sechsten Album der Band aus Berlin und Stuttgart, es handelt von der Flucht aus der Wirklichkeit: Eskapismus bitte, bevor man uns diese Möglichkeit auch noch nimmt. In „Das Glas zerbricht und ich gleich mit“ muss dann schon der Alkohol helfen, wissend: Noch einmal Tagesschau gucken, und auch das funktioniert nicht mehr. Die Nerven waren nun wirklich nie Optimisten, doch WIR WAREN HIER setzt zu Beginn noch einmal einen drauf.
Der Titelsong zieht die Bilanz des menschlichen Daseins, eine Spur der Sinnlosigkeit, der Zerstörung. Nach uns die Sintflut - und schnell noch den Castor ins Meer schmeißen, damit der Spiegel schneller steigt und alles Leben im Wasser verreckt. Die Musik zum Elend bietet ein paar mehr Doom-Anleihen, passt ja. Um ein Haar hätte dieser Abgesang gelangweilt. Bei „Achtzehn“ schaut Sänger Max Rieger zurück, sucht nach Spuren in der Vergangenheit, es gibt ein Cello, das Lied ist schön. Schreibt man selten über die Musik dieser Band. Danach „Bis ans Meer“ mit einem Groove, der Bewegung einfordert. Erst danach führen die Lieder wieder in die Verweigerung, in den Rückschritt, in die Zerstörung. Aber der Sound dazu ist anders, der Elefant im Raum heißt The Cure: „Schritt für Schritt zurück“ verweist auf deren ganz frühe Phase, in „Disruption“ ist DISINTEGRATION angelegt.
Hoffnungskritisch
"Und wenn euch gar nichts mehr einfällt, um Produzenten von eurem Projekt zu überzeugen", riet der Regisseur Steven Soderbergh einmal Filmstudierenden, "dann sagt einfach: Das wird ein Film über Hoffnung. Die zieht immer." Hoffnung, dieses komische Gefühl, das selbst beinharte Apokalyptiker mit einer Tube Kleber in der Hand auf ein Rollfeld laufen lässt, dieses magische Siegel, mit dem Bundestrainer auf Pressekonferenzen ihre Hoffnungsträger adeln, diese uralte Technik des Wunschdenkens, ist thematisch der heimliche Kontrapunkt der Band Die Nerven. Seit 14 Jahren macht die einst in Stuttgart gegründete Gruppe Musik, die zwar nicht hoffnungslos ist, dafür aber bockig, zynisch, nihilistisch - hoffnungskritisch, könnte man sagen. Wir waren hier heißt das sechste Album der Band, und es klingt eigentlich wie immer.
Balanceakt
Musikalisch ist nach wie vor beeindruckend, wie Die Nerven allein mit Gitarre, Bass und Schlagzeug einen derartigen Wumms erzeugen. Im Song Disruption etwa gibt es ab der Hälfte ein Crescendo mortale, im Hobby-Punker-Slang würde man sagen: einen Abgehpart, der sich gewaschen hat. Es ist der alte Nerven-Trick: die Balance zwischen dem Gitarrenpathos ihrer Musik und dem latent altklugen Lamento ihrer Texte. Form und Inhalt brechen sich beständig gegenseitig. Eher zartbesaitete Songtexte bewahren die Musik davor, zu sehr nach Proteinriegel zu klingen, und der kompromisslose Sound holt die Texter Rieger und Julian Knoth aus ihren Moleskine-Heften in den Rockclub. Wenn also Knoth den nicht ganz unprätentiösen Zweizeiler "Auf der Flucht vor der Wirklichkeit/ Ist mir kein Weg zu weit" singt, dann kümmern sich Rieger an der Gitarre und Schlagzeuger Kevin Kuhn darum, dass sich das garantiert nicht nach Poetry-Slam anhört.