Vergiss Mein Nicht: Eine Dokumentation über Demenz, Liebe und Familie

Der Dokumentarfilm „Vergiss mein nicht“ von David Sieveking ist mehr als nur eine Auseinandersetzung mit der Krankheit Demenz. Es ist ein zutiefst persönliches und ehrliches Porträt seiner Familie, insbesondere seiner Mutter Gretel, die an schwerer Demenz leidet. Der Film, der auf dem 65. Festival del Film in Locarno 2012 mit dem Preis „Bester Film“ ausgezeichnet wurde, begleitet David bei seiner Rückkehr ins Elternhaus, um seinen Vater Malte bei der Pflege von Gretel zu unterstützen. Dabei entsteht ein bewegendes Zeugnis über die Herausforderungen, aber auch die überraschenden Momente der Freude und Nähe, die diese schwierige Zeit mit sich bringt.

Eine persönliche Reise

David Sieveking nimmt den Zuschauer mit auf eine sehr persönliche Reise durch die Demenzerkrankung seiner Mutter. Um seinen Vater zu entlasten, zieht David für einige Wochen wieder bei seinen Eltern ein, während sein Vater neue Kraft tankt. Er begleitet die Pflege und das Leben seiner Mutter mit der Kamera. Obwohl sich Gretels Krankheit immer wieder deutlich zu erkennen gibt, verliert die Frau nicht ihren Lebensmut und steckt damit auch ihren Sohn an. Durch ihre offene und ehrliche Art lernt David seine Mutter noch einmal ganz neu und von einer ganz anderen Seite kennen.

Mehr als nur eine Krankheitsgeschichte

Wie schon in seiner ersten Dokumentation „David Wants to Fly“ erzählt Regisseur David Sieveking auch im Nachfolger „Vergiss mein nicht“ eine persönliche Geschichte. Erneut steht der Regisseur selbst vor die Kamera, der Fokus liegt jedoch auf einer anderen Person: seiner Mutter. Aus einer ebenso privaten, jedoch weitaus intimeren Sicht als in seinem Debütfilm zeigt er die fortschreitende Demenz von Gretel Sieveking und zeichnet das Porträt einer bemerkenswerten Frau. David Sievekings Eltern Gretel und Malte gehören zur politisierten Generation der 68er. Weil sie sich in einer kommunistischen Organisation engagierte, wurde Gretel sogar durch den Schweizer Staatsschutz überwacht. Das Paar führte eine offene Ehe, die immer wieder durch Affären auf die Probe gestellt wurde, doch die Beziehung hielt.

Die Krankheit als Spiegel der Vergangenheit

Der Film ist nicht nur eine Dokumentation der Demenz, sondern auch eine Reise in die Vergangenheit der Familie Sieveking. David entdeckt durch die Krankheit seiner Mutter den Schlüssel zu ihrer Vergangenheit, zur Geschichte ihrer Ehe und zu den Wurzeln der gemeinsamen Familie. Er erfährt von Gretels politischem Engagement in den 1970er Jahren, ihrer Überwachung durch den Schweizer Staatsschutz und den Herausforderungen ihrer offenen Ehe.

Eine neue Perspektive auf die Mutter

Während Gretel früher eine eher intellektuelle, kühl-distanzierte Frau und Mutter war, ist sie durch ihre Demenz nun herzlich und offen geworden. Sie verfügt über einen rührenden Kindercharme und Wortwitz und lebt ganz im Jetzt. So kommt sie im Verlauf des Films auch ihrem Mann wieder näher, mit dem sie eine »offene Ehe« führte, wie wir im Film erfahren, was für beide Ehepartner nicht immer einfach war. Der Vater, ein Mathematiker, dem seine Freiheit immer wichtig war, genießt es am Ende, von seiner Frau kindlich geliebt und gebraucht zu werden. Kurios: Erst durch die Krankheit der Mutter beginnt der Sohn sich für die Vergangenheit der Eltern zu interessieren, eine Vergangenheit, an die sich die Mutter jetzt kaum noch erinnern kann.

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Die Würde des Augenblicks

Sieveking reist - eine Idee Gretels! - in die Schweiz, wo der Vater den Urlaub verbringt und das Ehepaar früher lebte. Dort erfährt der Sohn nicht nur vom politischen Engagement der Mutter, die überzeugte Sozialistin war und sich für Frauenrechte einsetzte, er trifft auch einen früheren Weggefährten und Liebhaber. Fast scheint es, als würde Sieveking erst durch diesen Film seine Eltern richtig kennenlernen. Die Reise in die Vergangenheit wird mit Bildern kontrastiert, die den Augenblick feiern und die Flüchtigkeit des Gesehenen unterstreichen. So beginnt der Film mit grieseligen Amateuraufnahmen der Familie. Es folgen Kamerablicke aus dem Fenster eines fahrenden Zugs. Vergiss mein nicht ist ein leichter, kein schwerer Film. Das Unappetitliche, das Gretels Krankheit mit sich bringt, wird nur angedeutet. Das verzerrt vielleicht die Realität, aber eine andere Möglichkeit konnte es nicht geben, schließlich war die Mutter zu verwirrt, um in den Film einzuwilligen. Um ihre Würde nicht zu verletzen, zeigt Sieveking nun sehr diskret die pflegerischen Details.

Eine Liebeserklärung an das Leben und die Familie

Die Pflege Gretels und die Dreharbeiten erweisen sich über eine Reise in die Vergangenheit hinaus zu einer Liebeserklärung an das Leben und die Familie. David Sieveking gelingt es, mit seiner verwirrten Mutter wunderbar lichte Momente zu erleben. Ein Ausflug zu Gretels Schwester wird zur emotionalen Reise in die Familiengeschichte. Nach und nach lernt David das Leben seiner Mutter besser kennen und entdeckt ihre rebellisch-politische Vergangenheit. Wie ein Puzzle setzt er das beeindruckende Leben einer Frau zusammen, die Sprachwissenschaftlerin, Frauenrechtlerin, Revolutionärin, Lehrerin, Ehefrau und Mutter war.

Die Frage der Voyeurismus

"Vergiss mein nicht" ist ohne Frage ein sehr einfühlsamer, respektvoller Film. Sieveking will das langsame Sterben seiner Mutter nicht für sensationalistische Zwecke ausbeuten, viel mehr will er ihr ein Denkmal setzen und schreibt ihr dabei einen rührenden, filmgewordenen Liebesbrief. Trotzdem macht er den Zuschauer zwangsläufig zum Voyeur, weil er intimste Details über jemanden preisgibt, der nicht mehr versteht, was das bedeutet, der nicht einmal einschätzen kann, dass er gerade die Hauptfigur in einem Kinofilm wird.

Ein Film, der berührt und zum Nachdenken anregt

„Vergiss mein nicht“ ist ein mutiger, ehrlicher und sehr emotionaler Film, der die jeweilige Beziehung und nicht die Krankheit in den Mittelpunkt stellt. Als Zuschauer wird man fast zum Familienmitglied, zum Vertrauten und spürt vor allem das Vertrauen, das der Filmemacher dem Publikum gegenüber hat. Der Film zeigt, wie Gretels Erkrankung die Familie enger zusammenrücken und sich Gefühlen öffnen lässt, die vorher unterdrückt waren.

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