Fühlst du dich oft matt, müde und ausgelaugt? Hast du Schwierigkeiten, Aufgaben zu erledigen, obwohl du weißt, was zu tun ist? Scrollst du stattdessen durch dein Handy, räumst die Küche auf oder machst dir noch einen Kaffee? Sagst du dir dann, dass du einfach zu faul bist? Es ist an der Zeit, Prokrastination aus einem völlig neuen Blickwinkel zu betrachten. Was, wenn dein scheinbares Nichtstun kein Ausdruck von Bequemlichkeit ist, sondern von Überforderung? Was, wenn dein Aufschieben nicht von mangelnder Disziplin kommt, sondern von einem Nervensystem, das in ständiger Alarmbereitschaft lebt?
Chronisches Aufschieben ist kein Willensproblem, sondern ein Stresssymptom, ein Ausdruck innerer Erschöpfung. Oft sind alte Prägungen, ungelöste emotionale Spannungen und ein überreiztes Nervensystem die eigentliche Ursache. Solange wir diese Ebenen nicht verstehen, greifen gut gemeinte Tipps wie einfach anfangen oder sich belohnen ins Leere oder machen es sogar schlimmer.
Die Ursachen für ein überlastetes Nervensystem
Seelische Wunden als Ursache für Überlastung
Die spirituelle Psychologin Lise Bourbeau erklärt, dass Probleme auf körperlicher, emotionaler und geistiger Ebene auf fünf Seelenwunden zurückgehen: Ablehnung, Verlassenwerden, Demütigung, Vertrauensbruch und Ungerechtigkeit. Diese Wunden und die Masken, die wir entwickelt haben, um sie zu verbergen, können die Ursachen für Probleme sein, die unser Leben hartnäckig zu verfolgen scheinen.
Dr. Doris Wolf erklärt, dass Kränkungen tiefe seelische Verletzungen sind, die dazu führen, dass wir uns in unser Schneckenhaus zurückziehen, Minderwertigkeitsgefühle entwickeln oder überreagieren.
Stress und das Lebenstempo
Dr. Matthias Marquardt beobachtet, dass sich immer mehr Menschen kraftlos und erschöpft fühlen. Die Ursachen dafür sind selten rein körperlich, sondern resultieren aus unserem stetig ansteigenden Lebenstempo.
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Emotionale Prägung in der Schwangerschaft
Andreas Winter betont, dass die Ursachen für viele Beschwerden in die frühe Kindheit oder sogar in die Zeit vor der Geburt zurückreichen. Embryonen reagieren auf die Wirkung von Hormonen und Neurotransmittern aus dem mütterlichen Blut. Stress, Wut, Trauer, Verliebtheit oder Hoffnung, Erwartungsdruck oder Verzweiflung - alles, was eine schwangere Frau spürt, spürt ihr Embryo genauso. Bereits ab der dritten Schwangerschaftswoche entwickeln sich die ersten Nervenzellen, die auf Reize reagieren und sich untereinander vernetzen, wodurch sie Informationen erfassen und speichern.
Hochsensibilität und Reizüberflutung
Viele hochsensible Menschen kennen den Zustand ständiger Erschöpfung, weil ihr Nervensystem ständig auf Empfang steht. Es nimmt alles auf, verarbeitet zu viel und lässt kaum Raum für echte Regeneration. Als feinfühliger Mensch verarbeitest du Reize intensiver als andere - Geräusche, Stimmungen, unausgesprochene Spannungen. Alles, was dich umgibt, wird aufgenommen, analysiert und innerlich weiterverarbeitet. So bleibt dein System dauerhaft aktiv - sogar im Schlaf.
Der Dauer-Alarmzustand des Nervensystems
Unser Körper ist darauf programmiert, auf Reize zu reagieren. Das Nervensystem arbeitet noch wie in der Zeit des Urmenschen. Damals bedeutete Alarm Gefahr - ein wildes Tier, ein Angriff, ein Überlebensmoment. Der Körper bereitete sich sofort auf Kampf oder Flucht vor: Muskeln spannen sich an, Adrenalin fließt, das Herz schlägt schneller. Durch das aktive Reagieren - (weg) Rennen oder Kämpfen - baute der Körper die aufgestaute Energie wieder ab. Erst nach dieser körperlichen Entladung konnte echte Entspannung einsetzen. Heute läuft derselbe Alarmmechanismus - nur dass wir ihn nicht mehr beenden. Wir bewegen uns kaum, während der Körper innerlich noch auf Hochtouren läuft. So bleibt die Energie, die früher abfließen durfte, im System stecken - und wird mit der Zeit zu innerer Unruhe, Schlafstörungen oder chronischer Erschöpfung. Solange dieser Modus aktiv bleibt, kann sich der Parasympathikus - dein Ruhe- und Regenerationssystem - nicht einschalten.
Lösungsansätze für ein überlastetes Nervensystem
Selbstfürsorge und Entschleunigung
Es ist wichtig, zu erkennen, dass chronisches Aufschieben kein Willensproblem ist, sondern ein Stresssymptom. Es geht darum, zu erkennen, warum du aufschiebst - und wie du dich selbst auf neue Weise begleiten kannst. Sanft. Klar. Und ehrlich.
Dieses Buch lädt dich ein, Prokrastination aus einem völlig neuen Blickwinkel zu betrachten. Es ist keine Anleitung, wie du dich noch härter antreiben kannst. Es ist kein weiterer Ratgeber, der dir beibringt, wie du effizienter wirst oder deine To-do-Listen optimierst. Stattdessen ist es eine Einladung zur Entschleunigung. Zur Selbsterkenntnis.
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Nervensystem regulieren und Sicherheit signalisieren
Der Ausweg beginnt mit bewusster Nerven-Regulierung. Erst wenn dein System spürt, dass es wirklich sicher ist - dass keine Gefahr mehr droht -, kann es umschalten auf Regeneration. Diese Signale von Sicherheit kannst du aktiv setzen: durch Atem, sanfte Bewegung, Berührung und die innere Erlaubnis, wirklich zur Ruhe zu kommen.
Drei Schritte zur Nerven-Regulierung
- Entladen - Überschüssige Energie loswerden: Schüttel deine Arme und Beine aus, als würdest du Wasser abschütteln. Mach dabei kleine Sprünge oder wiege dich sanft hin und her. Atme dabei frei und ungezwungen - nicht kontrolliert, einfach locker. Alternativ kannst du bewusst gähnen oder deinen Kiefer lockern.
- Füttern - Kleine Dosen Ruhe im Alltag: Such dir im Alltag winzige Inseln der Ruhe: den Duft deines Kaffees, das Sonnenlicht am Fenster, das Rascheln der Bäume. Bleib 20-30 Sekunden bei dieser Wahrnehmung. Spür, was in deinem Körper passiert: Wird dein Atem ruhiger? Wird dein Blick weicher?
- Erden - Den Tag bewusst abschließen: Schreib alles, was dich beschäftigt, auf. Keine Struktur, einfach raus aus dem Kopf. Ein warmes Fußbad, eine Wärmflasche oder eine beschwerte Decke signalisieren Sicherheit. Leg eine Hand auf deinen Bauch und atme ruhig ein (4 Sekunden) und langsam aus (6 Sekunden).
Selbstfürsorge ohne Schuldgefühle
Echte Erholung entsteht nur, wenn dein Körper spürt: „Ich bin sicher. Ich darf loslassen.“ Das sind die sogenannten Signale von Sicherheit - sie zeigen deinem Nervensystem, dass keine Gefahr mehr besteht. Viele feinfühlige Menschen haben diese Signale nie bewusst gelernt. Ihr Körper kennt Anspannung - aber nicht Entspannung, die sich sicher anfühlt. Darum ist Selbstfürsorge kein Luxus, sondern Training: Du übst, dich in Ruhe sicher zu fühlen.
Lege eine Hand auf dein Herz oder deinen Bauch. Atme tief ein und langsam aus - ohne etwas erzwingen zu wollen. Sag innerlich: „Ich bin hier. Ich bin sicher. Ich darf loslassen.“ Bleib für ein paar Atemzüge dabei und beobachte, wie dein Körper reagiert.
Die Rolle des Vagusnervs
Der Vagusnerv ist der Hauptnerv deines Parasympathikus, also des Ruhe- und Erholungssystems. Er steuert Herzschlag, Atmung, Verdauung und beeinflusst direkt deine Stressreaktionen. Wenn der Vagusnerv aktiv ist, senkt sich der Puls, die Atmung wird tiefer und dein Körper kann regenerieren.
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