Dysreguliertes Nervensystem und Trauma: Definition, Symptome und Behandlungsmöglichkeiten

Das menschliche Nervensystem ist ein komplexes Netzwerk, das aus Milliarden von Nervenzellen (Neuronen) besteht und in das zentrale Nervensystem (ZNS) und das periphere Nervensystem (PNS) unterteilt ist. Ein wichtiger Bestandteil des PNS ist das vegetative Nervensystem, auch autonomes Nervensystem genannt. Dieses System reguliert lebenswichtige Körperfunktionen, die nicht bewusst gesteuert werden können, wie Herzfrequenz, Blutdruck, Atmung, Verdauung, Stoffwechsel, Körpertemperatur und sexuelle Reaktion. Eine Störung des vegetativen Nervensystems kann eine Vielzahl von Problemen verursachen, die oft als vegetative Dystonie zusammengefasst werden.

Was ist eine vegetative Dystonie?

Die vegetative Dystonie, auch als autonome Dysregulation bekannt, beschreibt ein Ungleichgewicht zwischen den beiden Hauptkomponenten des vegetativen Nervensystems: dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Der Sympathikus aktiviert den Körper in Stresssituationen und steigert die körperliche Leistungsfähigkeit, während der Parasympathikus in Entspannungsphasen aktiv wird und allgemeine Körperfunktionen wie Blutdrucksenkung, Stoffwechselanregung, Verdauungsförderung und Körperregeneration reguliert.

Gerät dieses Wechselspiel aus dem Gleichgewicht, kann dies zu einer Störung lebenswichtiger Prozesse führen. Fachleute sprechen dann von einer vegetativen Dystonie oder somatoformen Störungen. Somatoforme oder funktionelle Störungen beschreiben Beschwerden, für die es keine organische Ursache gibt. Für die Betroffenen geht damit oft ein hoher Leidensdruck einher.

Symptome eines überreizten Nervensystems

Eine Störung des vegetativen Nervensystems kann sich auf unterschiedliche Weise äußern. Zu den häufigsten Symptomen gehören:

  • Herzbeschwerden wie Herzstechen oder Herzklopfen/-rasen
  • Schwindel oder Ohnmacht beim Aufstehen
  • Übermäßiges Schwitzen oder mangelndes Schwitzen
  • Sexuelle Funktionsstörungen beim Mann
  • Probleme beim Entleeren der Blase
  • Verdauungsbeschwerden wie Verstopfung oder Durchfall inkl. Magenlähmung
  • Schluckbeschwerden

Die Vielfalt an unspezifischen Symptomen macht es oft schwierig, ein überreiztes Nervensystem unmittelbar zu erkennen. Daher ergibt sich das Krankheitsbild einer vegetativen Dystonie in der Regel über das Ausschlussverfahren anderer Erkrankungen. Grundsätzlich gilt: Wenn einzelne oder mehrere der genannten Symptome über einen längeren Zeitraum bestehen, sollten diese unbedingt ärztlich abgeklärt werden, um eine ernsthafte Erkrankung auszuschließen.

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Ursachen einer vegetativen Dystonie

Für eine vegetative Dystonie gibt es oft keine konkrete Ursache. Es können sowohl körperliche als auch psychische Faktoren eine Rolle spielen, nicht selten in Kombination. Zu den häufigsten körperlichen Ursachen zählt Diabetes mellitus (Typ 2), da diese Stoffwechselerkrankung das autonome Nervensystem, einschließlich des Sympathikus, schädigen kann.

Ebenso kann die vegetative Dystonie durch neurologische Erkrankungen wie Parkinson oder Erkrankungen des peripheren Nervensystems ausgelöst werden. Weitaus seltener sind Verletzungen des Rückenmarks, Medikamente oder Virusinfektionen die Ursache für eine Funktionsstörung des vegetativen Nervensystems.

Da Körper und Psyche über das vegetative Nervensystem eng miteinander verbunden sind, können sich auch psychologische und soziale Faktoren wie Stress, Sorgen oder Überforderung auf das vegetative Nervensystem auswirken. Oftmals lösen die Beschwerden weitere Ängste bei den Betroffenen aus, da sie befürchten, es könne eine schwerwiegende Erkrankung zugrunde liegen. Auf diese Weise können sich die Symptome zusätzlich verschlimmern.

Behandlung der vegetativen Dystonie

Je nach Ursache und Schweregrad der Störung kann eine vegetative Dystonie ernsthafte gesundheitliche Probleme verursachen, doch lässt sie sich in den meisten Fällen erfolgreich behandeln. Die Behandlung erfordert eine individuelle Herangehensweise, die sich an der eigentlichen Ursache und der Lebenssituation der Patienten orientiert. Während beispielsweise die Behandlung von Typ-2-Diabetes-Patienten auf eine optimale Blutzuckereinstellung abzielt, benötigen Parkinson-Patienten andere Medikamente.

Wenn kein Hinweis auf eine organische Ursache zugrunde liegt, zählen sowohl psycho- und physiotherapeutische Maßnahmen als auch der Einsatz bestimmter Medikamente zu den möglichen Behandlungsmethoden. Pflanzliche oder homöopathische Mittel können hierbei eine unterstützende Therapieoption sein, da sie eine gute Verträglichkeit bei geringem Gewöhnungspotenzial aufweisen, dies trifft jedoch nicht auf alle pflanzlichen Arzneimittel zu. Zur Linderung der Beschwerden bei innerer Anspannung durch Stress haben sich vor allem homöopathische Arzneipflanzen bewährt:

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  • Die Passionsblume kann bei Unruhezuständen oder Schlafstörungen helfen.
  • Gelber Jasmin und Schlangenwurzel können bei Schwindel, nervlich bedingtem Bluthochdruck oder Herz-Kreislauf-Beschwerden Linderung verschaffen.
  • Die gelbe Nieswurz kann Kreislaufproblemen vorbeugen.

Vorsorge: Das vegetative Nervensystem stärken

Bei einer vegetativen Störung ist es wichtig, die Balance zwischen Körper und Psyche wiederherzustellen. Helfen können dabei verschiedene Entspannungsmethoden, eine ausgewogene Ernährung sowie eine gesunde Schlafroutine.

  • Entspannungsmethoden erlernen und anwenden: Entspannungsmethoden wie Yoga, Meditation oder andere Achtsamkeitsübungen können dabei helfen, das Stresslevel zu senken und das Nervensystem wieder zu beruhigen. Ebenso fördert regelmäßige Bewegung wie Ausdauertraining oder Krafttraining den Stressabbau.
  • Ausgewogen ernähren: Vitaminmangel, insbesondere ein Mangel an Vitamin B12, kann die Funktion des Nervensystems beeinträchtigen. Eine ausgewogene Ernährung mit viel Obst, Gemüse, Vollkornprodukten und gesunden Fetten kann die Gesundheit des autonomen Nervensystems unterstützen. Um möglichen Beschwerden vorzubeugen, empfiehlt es sich außerdem, auf Alkohol und Koffein zu verzichten.
  • Ausreichend schlafen: Ein gesunder Schlaf ist unerlässlich für die Stressbewältigung und Regeneration des Nervensystems. Dazu sollte die Schlafumgebung eine Temperatur von etwa 18 Grad haben und sich gut abdunkeln lassen. Ebenso wichtig ist ein ruhiges Schlafumfeld. Fernseher oder mobile Geräte wie Smartphones sollten abends ausgeschaltet werden, um Ablenkung und laute Geräusche zu vermeiden. Deftiges Essen, Alkohol und Stress am Abend können die Schlafqualität erheblich beeinträchtigen. Besser sind daher leicht verdauliche Speisen und warme Getränke wie Tee am Abend. Ebenso unterstützen regelmäßige Zubettgehzeiten und Aufstehzeiten, regelmäßige Bewegung und eine ergonomische Matratze einen gesunden Schlaf und stärken damit auch indirekt das vegetative Nervensystem.

Somatic Experiencing (SE) als Therapieansatz

Bei Long Covid, Post-Vac oder ME/CFS kann Somatic Experiencing (SE) helfen, das Nervensystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen. SE ist eine körperorientierte Traumatherapie, die von Dr. Peter Levine entwickelt wurde. Körperorientiert bedeutet in diesem Fall, dass mit dem Nervensystem gearbeitet wird und die Therapeutin die Patientin mit speziellen Fragen durch den Körper begleitet.

Ein großer Unterschied zu klassischer Gesprächs- oder Verhaltenstherapie ist, dass beim SE nicht kognitiv mit dem Trauma gearbeitet wird. Patientinnen werden nicht mit dem Trauma konfrontiert. Stattdessen bleibt man immer im Hier und Jetzt und fragt nach, was die Patientin jetzt im Moment gerade im Körper wahrnimmt. Es kann auch sein, dass in einer Sitzung Bewegung eingebaut wird. Dies passiert natürlich immer im Einklang mit dem, was sich für die Patient*in gut anfühlt, und basiert meistens auf Impulsen, die ich als Therapeutin bei meinem Gegenüber wahrnehme.

Wann ist SE hilfreich?

SE kann hilfreich sein, um Sympathikus und Parasympathikus wieder in die Balance zu bringen. Bei Long COVID, Post Vac oder ME/CFS ist das Nervensystem häufig dysreguliert. Der Schlaf ist weniger erholsam und man hat vielleicht das Gefühl einer permanenten inneren Unruhe - auch, wenn man liegt und sich ausruht. Man nennt das auch „tired but wired“. Das Gefühl, zu unruhig zu sein, um sich selbst zu beruhigen, ist ganz typisch für ein dysreguliertes Nervensystem. Der Sympathikus, der Kampf oder Flucht regelt, ist permanent aktiv, und der Parasympathikus, der für Entspannung sorgen sollte, schafft es nicht, einen Ausgleich zu schaffen.

Beispielsituationen, in denen SE helfen kann:

  • Abends unruhig im Bett: Gedanken kreisen und man fühlt sich wie unter Spannung. SE kann helfen, diese innere Alarmbereitschaft sanft zu regulieren.
  • Reizüberflutung: Geräusche oder visuelle Eindrücke tun innerlich weh und überfluten. SE schärft die Aufmerksamkeit auf den Körper, sodass man früher Stresssymptome erkennt.
  • Brainfog: SE kann helfen, die Signale des Körpers besser wahrzunehmen und das Energiemanagement (Pacing) zu unterstützen.

Grenzen von Somatic Experiencing

SE ist nicht geeignet bei akuten Krankheiten (körperlich oder psychisch) wie Fieber, Atemnot, einer akuten schweren depressiven Phase, einer akuten PTBS, Epilepsie oder Schizophrenie. SE kann aber später begleiten - wenn die akute Krise vorbei ist und dein Nervensystem langsam wieder Stabilität aufbauen darf. Ebenso sollte man keine Heilungserwartung haben, da SE keine organische Krankheit heilen kann, sondern den Heilungsprozess unterstützen und das Nervensystem regulieren kann.

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Selbstregulation mit SE-Übungen

Es gibt einfache SE-Übungen, die man selbst ausprobieren kann, um das Nervensystem zu beruhigen:

  • Orientierung: Sich langsam im Raum umschauen und alles genau wahrnehmen. Dies signalisiert dem Gehirn, dass man in Sicherheit ist.
  • Ausatmung mit "Wuuuu": Durch die Nase einatmen, durch den Mund ausatmen und dabei ein „Wuuuuu“ tönen. Dies bringt das Zwerchfell in Schwingung und verlangsamt die Ausatmung, was den Parasympathikus einschaltet.

Wichtig ist, dass man nach jeder Übung Zeit gibt und in sich hineinspürt. Der sogenannte „innere Beobachter“ ist eines der wichtigsten Tools bei SE. Je länger man SE praktiziert (allein oder mit professioneller Begleitung), desto mehr trainiert man seinen inneren Beobachter.

Wann braucht man zusätzliche Unterstützung?

Die Übungen zur Selbstregulierung kann man gut allein zu Hause machen. Wenn man jedoch merkt, dass eine Emotion einen nicht mehr loslässt und man immer wieder in diese Emotionen hineingerät bzw. nicht allein herauskommt oder man mit traumatischen Inhalten in Kontakt kommt, dann sollte man sich Unterstützung holen. Traumaarbeit gelingt am besten mit einem darin ausgebildeten Gegenüber!

Weitere Übungen zur Regulation des Nervensystems

Neben Somatic Experiencing gibt es noch weitere Übungen, die im Alltag helfen können, das Nervensystem zu regulieren und kritische Momente zu überwinden:

  1. Längere Ausatmung: Länger ausatmen als einatmen dämpft das Nervensystem.
  2. Ausatmen in einen Strohhalm: Beim Ausatmen vorstellen, in einen Strohhalm pusten zu müssen.
  3. Vokalübung: Langsam durch die Nase einatmen, wobei man sich das rechte Nasenloch leicht zuhält und dann mit allen Vokalen (a, e, i, o, u) ausatmet.
  4. Füße spüren: Die Aufmerksamkeit auf die Füße richten, die Füße auf dem Boden spüren und sich vorstellen, dass die Schwerkraft die Füße am Boden hält.
  5. 5-4-3-2-1 Übung: Aufmerksam im Raum umschauen und Gegenstände laut benennen, dann Geräusche in der Umgebung laut benennen, dann alles, was man im Körper oder um den Körper herum spürt, benennen.
  6. Brainspotting Übung: Den Blick auf einen Zeigefinger oder Stift in angenehmer Entfernung fixieren (Nahsicht), dann den Blick auf einen weit entfernten Punkt an der Wand hinter Stift oder Finger richten (Weitsicht) und diese Übung im Wechsel etliche Male wiederholen.
  7. Zunge entspannen: Die Zunge entspannen und darauf konzentrieren, dass sie im Mund ganz leicht an den oberen Zähnen liegt.

Die Polyvagal-Theorie

Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges bietet ein weiteres wichtiges Rahmenwerk für das Verständnis des Nervensystems und seiner Reaktion auf Stress und Trauma. Die Theorie beschreibt drei hierarchisch organisierte Wege des autonomen Nervensystems, die unsere Reaktionen auf Sicherheit und Gefahr steuern:

  • Ventraler Vagus-Komplex: Der jüngste und komplexeste Teil des Vagusnervs, der für soziale Interaktion, Ruhe und Sicherheit zuständig ist.
  • Sympathisches Nervensystem: Dieser Weg wird bei der Wahrnehmung von Gefahr aktiviert und bereitet den Körper auf Kampf oder Flucht vor.
  • Dorsaler Vagus-Komplex: Der älteste Teil des Vagusnervs, der bei extremer, lebensbedrohlicher Gefahr aktiviert wird, wenn Kampf oder Flucht nicht möglich sind.

Trauma stört diese hierarchische Ordnung. Anstatt flexibel zwischen den Zuständen zu wechseln, verharrt ein traumatisiertes Nervensystem oft in einem Verteidigungszustand (sympathisch) oder in einem Zustand der Abschaltung (dorsaler Vagus).

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