Dysreguliertes Nervensystem: Psychologie, Definition, Ursachen und Behandlung

In der heutigen schnelllebigen Welt, in der Stress und Belastungen allgegenwärtig sind, wird die Bedeutung der Regulation des Nervensystems für unsere psychische Gesundheit immer deutlicher. Ein gut reguliertes Nervensystem ermöglicht es uns, mit Herausforderungen umzugehen, Belastungen zu bewältigen und ein erfülltes Leben zu führen. Doch was passiert, wenn dieses System aus dem Gleichgewicht gerät? Dieser Artikel beleuchtet das Konzept des dysregulierten Nervensystems, seine Ursachen, Symptome und Behandlungsmöglichkeiten.

Was ist ein dysreguliertes Nervensystem?

Ein dysreguliertes Nervensystem ist ein Zustand, in dem das autonome Nervensystem nicht mehr in einem ausgewogenen Rhythmus arbeitet. Das bedeutet konkret, dass das Nervensystem nach einer Stressreaktion nicht wieder von alleine in den Zustand der Entspannung zurückfindet. Es befindet sich in einem Zustand erhöhter Aktivierung, was zu unregelmäßigen und ungleich verteilten Ausschlägen führt.

Das autonome Nervensystem (ANS), auch als vegetatives Nervensystem bezeichnet, reguliert lebenswichtige Körperfunktionen, die nicht bewusst steuerbar sind. Es besteht aus zwei Hauptkomponenten:

  • Sympathikus: Steuert die "Kampf-oder-Flucht"-Reaktion bei Stress. Er ist immer dann aktiv, wenn wir aktiv sind oder uns in Gefahr begeben. Er sorgt dafür, dass wir unseren Körper mobilisieren, um entweder fliehen oder angreifen zu können.
  • Parasympathikus: Verantwortlich für Ruhe, Erholung und Verdauung. Er steuert alle Entspannungsvorgänge in unserem Körper und ist dann aktiv, wenn wir uns im Ruhemodus befinden. Er fungiert als eine Art Bremspedal und sorgt dafür, dass unser Motor nicht überhitzt.

Ein gesundes Nervensystem befindet sich im Gleichgewicht zwischen diesen beiden Komponenten. Es kann auf die verschiedenen Anforderungen im Alltag angemessen reagieren und nach einer Stressreaktion wieder in einen entspannten Zustand zurückkehren.

Ursachen eines dysregulierten Nervensystems

Die Ursachen für ein dysreguliertes Nervensystem sind vielfältig und oft auf eine Kombination von Faktoren zurückzuführen.

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  • Trauma: Bindungstrauma, Entwicklungstrauma, Schocktrauma, pränatales Trauma, transgenerationales Trauma. In der frühen Kindheit kann sich das Nervensystem eines Menschen noch nicht selbst regulieren und ist auf die Regulation durch Bezugspersonen angewiesen (sog. Co-Regulation).
  • Langanhaltender chronischer Stress: Sind wir im chronischen Stressmodus, gewöhnt sich der Körper an diesen Zustand und sieht ihn als das "neue Normal" an.
  • Unzureichende Fähigkeit der Regulation: Du hast z.B. nicht gelernt, wie du mit Herausforderungen, Gefühlen… gut umgehen kannst.
  • Tiefere seelische Probleme
  • Eine ungesunde Lebensweise sowie mangelnde Regeneration
  • Langanhaltende psychische Belastungen, wie ungelöste emotionale Konflikte
  • Fehlende Selbstregulationsmechanismen - also die Fähigkeit, nach Stress wieder in einen entspannten Zustand zurückzukehren

Symptome eines dysregulierten Nervensystems

Ein dysreguliertes Nervensystem kann sich durch eine Vielzahl von Symptomen äußern, die sowohl körperliche, emotionale als auch mentale Aspekte betreffen können.

Körperliche Symptome:

  • Innere Unruhe
  • Das Gefühl, ständig angetrieben zu werden
  • Nicht präsent im Hier und Jetzt sein können
  • Nicht im Körper zu Hause sein
  • Verkopft sein
  • Schlafstörungen
  • Antriebslosigkeit, Schwere
  • Energielosigkeit, Kraftlosigkeit
  • Körperliche Probleme (z.B. Migräne, Verdauungsprobleme, Reizdarm, Asthma, Tinnitus, Neurodermitis, chronische Schmerzen, häufige Infektionen)
  • Schnelle Überforderung
  • Vegetative Dystonie (Herz-Kreislauf-Beschwerden, Kopfschmerzen, zitternde Hände, Durchfall)
  • Erschöpfung und Müdigkeit, selbst nach ausreichendem Schlaf
  • Chronische Schmerzen und Verspannungen, besonders im Nacken- und Schulterbereich
  • Herz-Kreislauf-Beschwerden wie Herzstechen oder Herzklopfen/-rasen
  • Schwindel oder Ohnmacht beim Aufstehen
  • Übermäßiges Schwitzen oder mangelndes Schwitzen
  • Sexuelle Funktionsstörungen beim Mann
  • Probleme beim Entleeren der Blase
  • Verdauungsbeschwerden wie Verstopfung oder Durchfall inkl. Magenlähmung
  • Schluckbeschwerden

Emotionale Symptome:

  • Angst, Panikattacken
  • Von Gefühlen überrollt werden
  • Übermäßige Reizbarkeit
  • Stimmungsschwankungen

Mentale Symptome:

  • Overthinking und Konzentrationsprobleme
  • Entscheidungsschwierigkeiten
  • Gefühl der Überwältigung

Die Polyvagal-Theorie und ihre Bedeutung für das Verständnis von Sicherheit

Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges versucht zu erklären, was physiologisch in uns abläuft, wenn wir in dauerhaftem und überforderndem Stress leben müssen oder mit Schocksituationen konfrontiert sind, für die wir keine Copingmechanismen besitzen. Die Theorie besagt, dass das autonome Nervensystem nicht nur in einen parasympathischen und einen sympathischen Teil aufgeteilt wird, sondern dass es noch einen eher unbekannten Teil des autonomen Nervensystems (ANS) innerhalb des "vagalen Systems" gibt: einen Teil des Vagusnervs, der als „soziales Nervensystem“ bezeichnet wird.

Der ventrale Vagus, auch als soziales Nervensystem bezeichnet, ist phylogenetisch der neueste Teil des Nervensystems. Er reguliert alle Nerven im Bereich des Gesichts, also alle Teile, die hauptsächlich in der Kommunikation aktiv sind. Normalerweise reagieren Menschen zuerst mit diesem Teil des autonomen Nervensystems auf Stress und Gefahr. Man versucht, wenn möglich, die Gefahr durch soziale Interaktion abzuwenden.

Die Polyvagal-Theorie ist insofern wichtig, dass sie zeigt, welche sozialen Auswirkungen ein abgeschaltetes soziales Nervensystem mit sich bringt. Traumatisierungen können dazu führen, dass das Gesicht bei weitem nicht so ausdrucksvoll in seiner Mimik ist und die Stimme kaum noch Schwingung hat. Menschen wirken dann gemäß Polyvagal-Theorie affektarm und ausdrucksschwach. Dies führt leider dazu, dass andere Menschen Betroffene als unangenehm erleben oder sie nicht sympathisch finden.

Behandlungsmöglichkeiten für ein dysreguliertes Nervensystem

Es gibt viele Möglichkeiten, um dein Nervensystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Es ist ein Prozess und geht nicht von heute auf morgen. Die schnelle Lösung gibt es also nicht. Stelle dich vielmehr darauf ein, neue Gewohnheiten und ein neues Lebensgefühl zu entwickeln.

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Selbsthilfetechniken:

  • Sanfte Körperübungen: Sanfte Körperübungen, die du in Ruhe ausführst, bringen dein Nervensystem zur Ruhe und es lernt mit der Zeit sich zu entspannen und loszulassen. Hierfür eignet sich z.B. Yin Yoga super.
  • Atemübungen: Mit unserer Atmung können wir direkt auf unseren Parasympathikus (der für Entspannung zuständig ist) einwirken. Eine simple Atemübung ist die 3-6-Atemübung. Hier atmest du für drei Zählzeiten ein und anschließend für sechs Zählzeiten aus. Wiederhole das in deinem Tempo für ca. 5 min. Mit dem Fokus auf der langen bewussten Ausatmung entspannt sich unser System.
  • Schütteln / Wackeln / Wippen: Stelle dich hüftbreit mit lockeren Knien hin und beginne sanft aus den Knien heraus zu wippen. Wenn du magst, intensiviere die Übung bis hin zu einem starken Schütteln des ganzen Körpers. Ganz unkompliziert kannst du auch einfach intuitiv zu deiner Lieblingsmusik tanzen. Nach einigen Minuten wirst du spüren, wie sich Stress und Verspannungen gelöst haben.
  • Singen / Summen: Auch Singen und Summen wirken entspannend und regulierend.
  • Erden: Übe im Sitzen oder besser im Stehen und nimm bewusst deine Füße auf dem Boden wahr. Stelle dir vor, wie aller Stress, alle Anspannung aus deinem Körper über die Füße in den Boden fließt. Spüre, wie du getragen wirst und geerdet bist.
  • 4-7-8-Atemtechnik: Atme 4 Sekunden ein, halte 7 Sekunden die Luft an und atme 8 Sekunden aus.
  • Vagusnerv-Stimulation: Durch kaltes Duschen, gezielte Atemübungen oder bestimmte Meditationsformen kannst du den Vagusnerv stimulieren.
  • Bewegung und sanfte Sportarten: Regelmäßige Bewegung hilft, überschüssige Stresshormone abzubauen und das Nervensystem zu entspannen. Besonders effektiv sind sanfte Bewegungsarten wie Yoga, Tai Chi oder einfache Spaziergänge.
  • Schlafhygiene: regelmäßiger Wach-/Schlafrhythmus, angenehme und schlaffördernde Schlafumgebung (Temperatur, Licht, Geräusche) schaffen, Mittagsruhe (Nickerchen, „Siesta“) ideal 20 Minuten, max.

Professionelle Unterstützung:

  • Körperorientiertes Coaching: Der Körper sagt das, was der Verstand nicht ausdrücken kann.
  • Psychotherapie: Einige Psychotherapeuten sind auf somatoforme Störungen beziehungsweise vegetative Dystonie spezialisiert. Mit dieser Unterstützung lernen viele Betroffene, ihre Beschwerden besser einzuordnen und mit ihnen im Alltag umzugehen - dies geschieht zum Beispiel im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie. Besonders hilfreich ist es, die Gründe und Gefühle aufzuarbeiten, die hinter den Symptomen stehen.
  • Somatic Experiencing (SE)®: Eine evidenzbasierte Methode, die entwickelt wurde, um Traumafolgen zu heilen und das Nervensystem zu regulieren. Durch die Wiederherstellung des Gleichgewichts im Nervensystem ermöglicht SE den Menschen, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten und ihre Auswirkungen zu überwinden.
  • eIRT (energetisch-integrative Regulationstechnik): zentral abgespeicherte alte Verletzungsmuster können neben der Fehlansteuerung von Muskeln mit entsprechenden Beschwerden in den dazugehörigen Gelenken ebenso zu biochemischen, emotionalen Störungen aber zu einer vegetativen Dysregulation führen, die mittels eIRT behandelt werden können.
  • Medikamente: In den meisten Fällen sind Medikamente nicht notwendig, werden bei großem Leidensdruck aber eingesetzt, um die Symptome zu behandeln. Dazu gehören zum Beispiel Schmerzmedikamente sowie verschiedene moderne Antidepressiva.

Weitere unterstützende Maßnahmen:

  • Hydrotherapie: Wechsel von Wärmereiz und Kältereiz regen Regulation an.
  • Ausgewogene Ernährung: Vitaminmangel, insbesondere ein Mangel an Vitamin B12, kann die Funktion des Nervensystems beeinträchtigen. Eine ausgewogene Ernährung mit viel Obst, Gemüse, Vollkornprodukten und gesunden Fetten kann die Gesundheit des autonomen Nervensystems unterstützen. Um möglichen Beschwerden vorzubeugen, empfiehlt es sich außerdem, auf Alkohol und Koffein zu verzichten.
  • Pflanzliche oder homöopathische Mittel: Die Passionsblume kann bei Unruhezuständen oder Schlafstörungen helfen. Gelber Jasmin und Schlangenwurzel können bei Schwindel, nervlich bedingtem Bluthochdruck oder Herz-Kreislauf-Beschwerden Linderung verschaffen. Und die gelbe Nieswurz kann Kreislaufproblemen vorbeugen.

Vegetative Dystonie: Eine spezielle Form der Dysregulation

Unter vegetativer Dystonie versteht man ein Ungleichgewicht im vegetativen Nervensystem. Dieses durchzieht den ganzen Körper und regelt alle lebensnotwendigen Grundfunktionen des Körpers. Die Aktivierung des vegetativen Nervensystems ist Teil der Stressreaktion. Problematisch wird die Stressreaktion, wenn sie zu oft direkt aufeinander folgt und dazwischen keine Phasen der Entspannung mehr vorhanden sind. Der Körper bleibt dann in einem Zustand der Daueranspannung.

Die vegetative Dystonie ist allerdings nicht zu verwechseln mit der Dystonie: Dies ist ein Sammelbegriff für verschiedene Bewegungsstörungen, etwa eine schiefe Kopfhaltung oder Verkrampfungen in verschiedenen Körperregionen.

Symptome der vegetativen Dystonie:

Eine Vielzahl sehr verschiedener Symptome lässt sich mit dem Begriff vegetative Dystonie in Verbindung bringen. Die Beschwerden sind oft nur schwer einzuordnen.

  • Kopfschmerzen
  • Schwindel
  • Durchfall
  • Verstopfung
  • Schlafstörungen
  • Krämpfe
  • Vermehrtes Schwitzen
  • Erhöhter oder erniedrigter Pulsschlag
  • Leichtes Zittern der Hände
  • Kribbeln in den Gliedmaßen

Diagnose der vegetativen Dystonie:

Einen spezifischen Test auf vegetative Dystonie gibt es wegen der Vielzahl der mögliche Symptome nicht. Die Diagnose stellen Mediziner in der Regel dann, wenn keine körperlichen Ursachen zu finden sind. Mit Hilfe der VNS-Analyse können wir Veränderungen des vegetativen Nervensystems (vegetative Dysregulation) messen und unsere Therapien mit derselben Methode auch überprüfen und kontrollieren und wenn notwendig, verändern.

Behandlung der vegetativen Dystonie:

Wie eine vegetative Dystonie am besten behandelt wird, hängt von ihrem jeweiligen Auslöser und ihrer Ausprägung ab. Bleibt die körperliche Diagnostik ohne Ergebnis, raten Ärzte häufig dazu, zunächst abzuwarten und den Verlauf der Beschwerden zu beobachten - somatoforme Störungen legen sich häufig nach einer Weile von alleine wieder. Ist dies nicht der Fall, empfiehlt der Arzt meist eine Psychotherapie.

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