Dysreguliertes Nervensystem: Ursachen, Symptome und Wege zur Regulation

Nervensystemarbeit ist heutzutage ein viel diskutiertes Thema. Der Begriff "dysreguliertes Nervensystem" taucht immer wieder auf und vermittelt oft den Eindruck, dass etwas nicht in Ordnung ist oder man etwas falsch macht. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass es völlig normal ist, dass unser Nervensystem in Stressphasen aus dem Gleichgewicht gerät. Besonders in unserer heutigen, schnelllebigen Welt, in der wir ständig unter Druck stehen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass unser Nervensystem in einen Überlastungsmodus gerät.

Was ist ein dysreguliertes Nervensystem?

Unser Nervensystem fungiert als der "Manager" unseres Körpers. Es steuert eine Vielzahl von Funktionen, von der Verdauung bis hin zu unseren emotionalen Reaktionen. Das Nervensystem besteht aus zwei Hauptkomponenten:

  • Sympathikus: Aktiviert den "Kampf-oder-Flucht"-Modus in Stresssituationen.
  • Parasympathikus: Versetzt uns in einen Zustand der Ruhe und Verdauung.

Ein dysreguliertes Nervensystem liegt vor, wenn die Balance zwischen diesen beiden Zuständen gestört ist. Dies kann sich auf zwei Arten äußern:

  • Überaktiver Sympathikus: Führt zu einem Gefühl von ständigem Stress, Reizbarkeit oder Getriebenheit.
  • Überaktiver Parasympathikus: Führt zu einem Gefühl von Überforderung, Müdigkeit und Ausgelaugtheit.

Es ist entscheidend, diesen Unterschied zu verstehen, da Nervensystem-regulierende Strategien oft ins Leere laufen, wenn sie nicht auf den spezifischen Zustand des Nervensystems abgestimmt sind.

Symptome eines dysregulierten Nervensystems

Ein dysreguliertes Nervensystem kann sich auf vielfältige Weise äußern. Häufige Symptome sind:

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  • Chronische Erschöpfung: Trotz ausreichend Schlaf fühlt man sich ständig müde.
  • Reizbarkeit: Kleinigkeiten bringen einen schnell auf die Palme, und man ist emotional schnell aufgewühlt.
  • Schlafprobleme: Einschlafen oder Durchschlafen wird schwierig, weil der Geist nicht zur Ruhe kommt.
  • Verdauungsprobleme: Ständiger Stress kann die Verdauung beeinträchtigen und zu Magenbeschwerden führen.
  • Angst oder Panikattacken: Ein überaktiver Sympathikus kann einen in einen ständigen Alarmzustand versetzen, was Angstgefühle verstärkt.
  • Gedächtnis- und Konzentrationsschwierigkeiten: Das Gehirn hat Schwierigkeiten, klar zu denken und Informationen zu verarbeiten, weil es mit der Stressbewältigung überfordert ist.

Ursachen für ein dysreguliertes Nervensystem

Es gibt viele Faktoren, die unser Nervensystem aus der Balance bringen können. Hier sind einige der häufigsten Ursachen:

1. Chronischer Stress

Unser Nervensystem ist nicht darauf ausgelegt, langfristig unter Stress zu stehen. Ob ausgelöst durch berufliche Anforderungen, familiäre Verpflichtungen oder finanzielle Sorgen - dauerhafter Stress versetzt den Sympathikus in einen Dauermodus. Dadurch fällt es uns schwer, uns zu entspannen und den Parasympathikus zu aktivieren.

2. Traumatische Erlebnisse

Traumata, ob groß oder klein, können unser Nervensystem nachhaltig beeinflussen. Oft bleibt der Körper auch lange nach dem traumatischen Ereignis im Überlebensmodus, was zu einer andauernden Dysregulation führen kann. Viele Erlebnisse werden von uns gar nicht als traumatisch im Sinne einer Nervensystem-Überforderung wahrgenommen. Wir greifen oftmals auf den Shutdown oder den Freeze zurück, dessen typische Merkmale ja sind, dass wir erstmal gar nichts mehr fühlen, um uns zu schützen. Die negativen Spätfolgen können wir dann oft nicht mehr mit dem traumatischen Erlebnis in Zusammenhang bringen, weil wir das ja überstanden haben. Hier macht es Sinn sich professionelle Hilfe zu suchen, um diese Blindspots aufzudecken, die oft Unmengen an Energie binden.

3. Überstimulation durch Technologie

Ständige Benachrichtigungen, soziale Medien und das immer präsente Smartphone führen dazu, dass unser Nervensystem nie wirklich abschalten kann. Diese dauerhafte Überstimulation führt dazu, dass wir uns erschöpft und überfordert fühlen. Ein typischer Großstädter begegnet am Tag mehr Menschen, als ein Steinzeitmensch im ganzen Leben. Zudem wird es in Großstädten nie richtig dunkel, es ist nie absolut still.

4. Ungesunde Lebensgewohnheiten

Schlechter Schlaf, ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel wirken sich negativ auf unser Nervensystem aus. Ohne die richtigen "Ruhephasen" kann sich das Nervensystem nicht erholen und bleibt in einem angespannten Zustand.

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5. Zu viel oder die falsche Arbeit

Arbeit tut uns gut, aber nur unter den richtigen Umständen. Wir dürfen uns durchaus körperlich und geistig anstrengen und wir mögen es auch, wenn unser Können und Wissen gefordert wird. Allerdings müssen unsere Aufgaben lösbar sein, damit wir uns nach getaner Arbeit zufrieden und gut fühlen. Solche Tätigkeiten werden in unserer Zeit leider immer seltener. Selbst Berufe, die wir aus einer inneren Berufung heraus wählen, unterliegen immer mehr wirtschaftlichen Zwängen. Es gibt für den Einzelnen immer mehr zu tun - was oft in der regulären Arbeitszeit kaum zu schaffen ist.

6. Zu wenig Nähe

Durch das zugewandte Zusammensein mit anderen Menschen, den Austausch über alles Erlebte und die Verbindung mit Menschen, die wir gernhaben oder auch durch eine liebevolle Berührung wird unser ventraler Parasympathikus (Zustand der Sicherheit und Erholung) am stärksten natürlich aktiviert. Man nennt diese Art der Nervensystemregulierung auch Co-Regulierung.

7. Ständige Anpassung

Unter all den Erwartungen und Vorstellungen, wie wir heutzutage zu sein haben, geht unser wahres Ich komplett unter. Wir tun ständig Dinge, die wir eigentlich gar nicht wollen. Schlucken jeglichen Unmut runter und sagen nur selten mal wirklich unsere Meinung. Es wird erwartet, dass wir funktionieren und uns anpassen. Welche Entscheidungen treffen wir wirklich bewusst? Wie oft unterdrücken wir dagegen unsere Gefühle?!

8. Dauererreichbarkeit

Neben dem Druck, ständig erreichbar sein zu müssen oder zu wollen, löst gerade Social Media aus, dass wir uns ständig mit anderen vergleichen. Wir streben nach Dingen von denen wir denken, wir bräuchten/ wollen das auch alles und doch kommen wir dabei gefühlt immer schlechter weg, als andere.

9. Multitasking

Das Gehirn kann sich nicht parallel auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren, sondern switcht immer zwischen den Aktivitäten hin und her. Das kostet nicht nur sehr viel Energie, man macht auch Fehler und schafft nichts richtig.

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10. Unausgewogene Ernährung

Da der Darm eine direkte Verbindung über den Vagusnerv zum Nervensystem hat, spielt auch die Ernährung eine große Rolle. Längerfristige schlechte Ernährung bringt deinen Darm und das Nervensystem aus der Balance.

11. Missachtung der physiologischen Bedürfnisse

Viele physiologische Bedürfnisse wurden uns bereits als Kinder abtrainiert. Äußere Autoritäten sagten uns, wann wir essen, trinken, schlafen und auf Toilette gehen dürfen. Das Problem ist nur, dass wenn wir diesen körperlichen Bedürfnissen nicht umgehend nachgehen, unser Nervensystem davon ausgeht, dass wir uns in Gefahr befinden, sonst würden wir ja essen und trinken etc. Daher fährt es die Energie runter um uns möglichst lange überleben zu lassen, oder versetzt uns in einen Kampf- und Fluchtmodus.

Wie du dein dysreguliertes Nervensystem wieder ins Gleichgewicht bringst

Ein dysreguliertes Nervensystem muss nicht dein Alltag bleiben. Es gibt bewährte Strategien, um dein Nervensystem zu beruhigen und die Balance wiederherzustellen.

1. Nervensystem-Test

Bevor du mit der Regulierung deines Nervensystems beginnst, ist es wichtig, herauszufinden, auf welche Art dein Nervensystem dysreguliert ist. Ohne diese Erkenntnis ist es schwierig, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen.

2. Atemtechniken und Meditation

Atemübungen und Meditation sind nachweislich wirksame Methoden, um den Parasympathikus zu aktivieren und dein Nervensystem zu beruhigen. Indem du deinen Atem kontrollierst und dich auf das Hier und Jetzt konzentrierst, signalisierst du deinem Körper, dass er sich entspannen darf. Eine der effektivsten Methoden ist die 4-7-8-Atemtechnik: Atme 4 Sekunden ein, halte 7 Sekunden die Luft an und atme 8 Sekunden aus.

3. Bewegung und Natur

Regelmäßige Bewegung und Zeit in der Natur helfen, den Stress abzubauen und dein Nervensystem wieder in Balance zu bringen. Schon ein Spaziergang im Grünen kann Wunder wirken, um das Nervensystem zu beruhigen.

4. Gesunde Ernährung und ausreichend Schlaf

Gib deinem Körper die nötigen Nährstoffe und achte auf ausreichenden Schlaf. Wenn dein Körper gut versorgt und ausgeruht ist, kann auch dein Nervensystem besser arbeiten und sich erholen. Dazu sollte die Schlafumgebung eine Temperatur von etwa 18 Grad haben und sich gut abdunkeln lassen. Ebenso wichtig ist ein ruhiges Schlafumfeld.

5. Traumaverarbeitung

Wenn deine Dysregulation auf ein Trauma zurückzuführen ist, kann es hilfreich sein, therapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Traumatherapien, die auf das Nervensystem ausgerichtet sind, helfen, tiefliegende Stressmuster zu lösen und das Gleichgewicht wiederherzustellen.

6. Körperorientiertes Coaching

Der Körper sagt das, was der Verstand nicht ausdrücken kann. Und genau damit können wir wunderbar arbeiten, denn hier gibt es keinen Verstand, der uns sabotieren kann.

7. Vagusnerv-Stimulation

Der Vagusnerv, der größte Nerv des Parasympathikus, spielt eine entscheidende Rolle bei der Beruhigung des Nervensystems. Du kannst ihn durch kaltes Duschen, gezielte Atemübungen oder bestimmte Meditationsformen stimulieren. Die Zwerchfellatmung (auch Diaphragmatic Breathing genannt) gilt als Goldstandard für Stressreduktion. Studien zeigen, dass Zwerchfellatmung den Cortisol-Spiegel reduzieren kann.

8. Stress aus dem Körper schütteln

Nachdem die Gazelle in Sicherheit ist und die unmittelbare Gefahr nicht mehr präsent ist, beginnt sie sich für eine kurze Weile stark zu schütteln. Dies ist eine instinktive Reaktion, um den verbleibenden Stress und die angesammelte Energie loszuwerden. Auch wir Menschen können so unseren Stress loswerden, wenn wir für ein paar Minuten den Stress aus uns herausschütteln.

9. Emotionen zulassen

Manchmal kann es richtig guttun, einfach mal die angestauten Emotionen herauszulassen. Mach dir traurige Musik an, such dir einen Ort, an dem du ungestört bist, und erlaube dir, einfach mal für ein paar Minuten zu weinen.

10. Freundliche Interaktionen

Lockere, freundliche und liebevolle soziale Interaktionen sind ein gutes äußeres Zeichen, dass die Welt ein sicherer Ort ist. Mach vielleicht jemandem ein unerwartetes Kompliment.

Vegetative Dystonie: Eine Sonderform der Dysregulation

Eine Störung des vegetativen Nervensystems kann eine Vielzahl an Problemen verursachen, die oft unter der Bezeichnung der vegetativen Dystonie zusammengefasst werden. Das vegetative Nervensystem unterteilt sich in das sympathische Nervensystem (Sympathikus) und das parasympathische Nervensystem (Parasympathikus). Während der Sympathikus das Nervensystem in Stresssituationen aktiviert und die körperliche Leistungsfähigkeit steigert, setzt der Parasympathikus in Entspannungsphasen ein und reguliert allgemeine Körperfunktionen: Er senkt den Blutdruck, kurbelt den Stoffwechsel an, fördert die Verdauung und unterstützt die Regeneration des Körpers.

Gerät dieses Wechselspiel von Sympathikus und Parasympathikus aus dem Gleichgewicht, stört das den Ablauf lebenswichtiger Prozesse und Fachleute sprechen von einer vegetativen Dystonie oder von somatoformen Störungen. Liegt eine Störung des vegetativen Nervensystems vor, kann sich diese auf unterschiedliche Weise äußern.

Zu den häufigsten Symptomen gehören:

  • Herzbeschwerden wie Herzstechen oder Herzklopfen/-rasen
  • Schwindel oder Ohnmacht beim Aufstehen
  • Übermäßiges Schwitzen oder mangelndes Schwitzen
  • Sexuelle Funktionsstörungen beim Mann
  • Probleme beim Entleeren der Blase
  • Verdauungsbeschwerden wie Verstopfung oder Durchfall inkl. Magenlähmung
  • Schluckbeschwerden

Für eine vegetative Dystonie gibt es oft keine konkrete Ursache. Es können sowohl körperliche, als auch psychische Faktoren eine Rolle spielen. Nicht selten ist es eine Kombination aus beiden.

Je nach Ursache und Schweregrad der Störung kann eine vegetative Dystonie ernsthafte gesundheitliche Probleme verursachen, doch lässt sie sich in den meisten Fällen erfolgreich behandeln. Die Behandlung erfordert eine individuelle Herangehensweise, die sich an der eigentlichen Ursache und der Lebenssituation der Patienten orientiert.

Bei einer vegetativen Störung ist es wichtig, die Balance zwischen Körper und Psyche wiederherzustellen. Helfen können dabei verschiedene Entspannungsmethoden, eine ausgewogene Ernährung sowie eine gesunde Schlafroutine.

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