Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die das Gehirn und Rückenmark betrifft. In Deutschland sind etwa 250.000 Menschen an MS erkrankt, wobei die Erkrankung zumeist im jungen Erwachsenenalter auftritt. Die MS ist eine Erkrankung mit tausend Gesichtern, da die Symptome und der Verlauf individuell sehr unterschiedlich sein können. Es gibt verschiedene Verlaufsformen der MS, darunter die schubförmig-remittierende MS (RRMS), die sekundär progrediente MS (SPMS) und die primär progrediente MS (PPMS).
Schubförmig-remittierende MS (RRMS)
Bei der RRMS erleben die Betroffenen Schübe oder Verschlimmerungen der Symptome, die dann abklingen oder verschwinden (Remission). Die Symptome können neu auftreten oder bestehende Symptome können sich verschlimmern. Schübe können unterschiedlich lange andauern - von einigen Tagen bis zu Monaten - und danach kann die Krankheit für Monate oder Jahre inaktiv sein. Bei etwa 85 Prozent der Menschen mit MS wird zunächst eine schubförmige MS diagnostiziert. Die schubförmige MS kann auch danach kategorisiert werden, ob sie aktiv oder nicht aktiv ist (jemand, der aktive MS hat, erlebt Schübe und/oder Anzeichen neuer MRT-Aktivität). Sie kann auch als sich verschlimmernd (eine bestätigte Zunahme der Behinderung über einen bestimmten Zeitraum nach einem Schub) oder nicht verschlimmernd klassifiziert werden.
Zur Behandlung der schubförmig-remittierenden MS (milde oder moderate Form) werden folgende Wirkstoffe (Medikamente 1. Wahl) eingesetzt:
- Beta-Interferone (Avonex®, Betaferon®, Extavia®, Plegridy®, Rebif®)
- Glatirameracetat (Copaxone®, Clift®)
- Dimethylfumarat (Tecfidera®, Dimethylfumarat Mylan®, Dimethylfumarat Accord®, Dimethylfumarat Neuraxpharm®)
- Diroximelfumarat (Vumerity®)
- Teriflunomid (Aubagio®, Teriflunomid Accord®, Teriflunomid Mylan®)
- Azathioprin (Imurek®)
Definition der Sekundär Progredienten MS (SPMS)
Die sekundär progrediente MS (SPMS) ist eine Verlaufsform der Multiplen Sklerose, die sich typischerweise aus der schubförmig-remittierenden MS (RRMS) entwickelt. Etwa jeder dritte MS-Patient in Deutschland hat die MS-Verlaufsform SPMS oder befindet sich im Übergang zur SPMS.4 Wesentliches Merkmal der SPMS ist eine langsam fortschreitende Krankheitsverschlechterung, die oft nicht gleich bemerkt wird. Klinische Merkmale der SPMS sind die schubunabhängige Progression mit oder ohne aufgesetzte Schübe und das Fehlen einer vollständigen Remission. Leitlinienkonform ist sie charakterisiert durch eine schubunabhängige stetige Zunahme klinischer Symptome und neurologischer Beeinträchtigungen über mindestens sechs Monate hinweg. Unterschieden wird zwischen einer aktiven und einer inaktiven SPMS anhand der Krankheitsaktivität in Form überlagerter klinischer Schübe oder entzündlicher Aktivität in der Magnetresonanztomographie (MRT) des Gehirns bzw. Rückenmarks.
Im Gegensatz zur RRMS, bei der es zu klar definierten Schüben mit anschließender teilweiser oder vollständiger Erholung kommt, ist die SPMS durch eine kontinuierliche Verschlechterung der neurologischen Funktionen gekennzeichnet. Die Symptome zwischen den Schüben bilden sich nicht mehr zurück oder verstärken sich über die Zeit. Dies bedeutet, dass sich die körperlichen und kognitiven Fähigkeiten der Betroffenen allmählich verschlechtern, was zu einer zunehmenden Beeinträchtigung im Alltag führt. Es treten keine typischen Schübe mehr auf, stattdessen verschlechtern sich die Symptome langsam und kontinuierlich. Dies kann zu einer allmählichen Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Funktionen führen. Es ist wichtig zu betonen, dass der Übergang von der schubförmig remittierenden MS zur sekundär progredienten MS nicht bei allen Betroffenen eintritt. Manche bleiben viele Jahre in der RRMS-Phase, während andere früher oder später in die SPMS übergehen. Da der Verlauf meist schleichend ist, wird die Diagnose oft erst rückblickend gestellt.
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Symptome der Multiplen Sklerose
Die Symptome der MS sind vielfältig und können je nach betroffenem Hirnareal unterschiedlich sein. Häufige Symptome sind:
- Motorische Störungen: Muskelschwäche, Spastik, Koordinationsstörungen, verlangsamte Bewegungsabläufe, Schwierigkeiten beim Gehen, Zittern (Tremor).
- Sensibilitätsstörungen: Missempfindungen wie Kribbeln, Taubheitsgefühle, Schmerzen, Brennen oder Juckreiz auf der Haut.
- Sehstörungen: Entzündung des Sehnervs (Optikusneuritis) mit Schmerzen beim Bewegen der Augen und Sehverschlechterung, Doppelbilder, unkontrollierte Augenbewegungen (Nystagmus).
- Fatigue: Körperliche und psychische Erschöpfung, extreme Abgeschlagenheit und anhaltende Müdigkeit.
- Kognitive Beeinträchtigungen: Konzentrationsstörungen, Gedächtnisprobleme,Verlangsamung der kognitiven Verarbeitungsgeschwindigkeit.
- Blasen- und Darmstörungen: Häufiger Harndrang, Inkontinenz, Verstopfung.
- Sexuelle Funktionsstörungen: Erektionsstörungen, verminderte Libido.
- Psychische Probleme: Depressionen, Angstzustände, Stimmungsschwankungen.
Ursachen und Risikofaktoren
Die genauen Ursachen der MS sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird angenommen, dass ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren eine Rolle spielt, darunter:
- Genetische Veranlagung: MS ist keine klassische Erbkrankheit, aber bestimmte Genvarianten erhöhen das Risiko, an MS zu erkranken.
- Umweltfaktoren: Virusinfektionen (z.B. mit Masern-, Herpes- oder Epstein-Barr-Viren), Vitamin-D-Mangel, Rauchen und geografische Faktoren (MS tritt häufiger in Regionen mit geringer Sonneneinstrahlung auf) könnten eine Rolle spielen.
- Autoimmunprozesse: Das Immunsystem greift fälschlicherweise die Myelinscheiden der Nervenfasern im ZNS an, was zu Entzündungen und Schädigungen führt.
- Geschlecht: Frauen sind etwa 2-3 Mal häufiger von MS betroffen als Männer.
Diagnose der Multiplen Sklerose
Die Diagnose der MS ist nicht einfach, da es nicht den einen „MS-Test“ gibt, der die Erkrankung zweifelsfrei beweist. Multiple Sklerose ist daher eine sogenannte Ausschlussdiagnose. Das bedeutet, dass verschiedenen Untersuchungen gemacht werden. Entscheidend ist, dass sich Entzündungsherde an mehreren Stellen im Gehirn oder Rückenmark nachweisen lassen. Die Diagnose basiert auf verschiedenen Kriterien und Untersuchungen, darunter:
- Anamnese: Erhebung der Krankheitsgeschichte und der aktuellen Symptome.
- Neurologische Untersuchung: Überprüfung der neurologischen Funktionen wie Motorik, Sensibilität, Koordination, Reflexe und Hirnnervenfunktionen.
- Magnetresonanztomographie (MRT): Darstellung von Entzündungsherden (Läsionen) im Gehirn und Rückenmark. Dabei handelt es sich um Arzneimittel, die den Kontrast zwischen Blutgefäßen und Gewebe verstärken. Sie können gesunde Blutgefäße nicht verlassen und gelangen normalerweise nicht ins Gewebe. An aktiven Entzündungsstellen werden Blutgefäße aber durchlässig, damit Abwehrzellen die Entzündung bekämpfen können. An diesen Stellen kann Kontrastmittel ins Gewebe gelangen und auf den MRT-Bildern dort gesehen werden.
- Liquoruntersuchung (Lumbalpunktion): Analyse des Nervenwassers auf Entzündungszeichen und spezifische Antikörper.
- Evozierte Potentiale (VEP, SEP): Messung der Nervenleitgeschwindigkeit, um Schädigungen der Nervenbahnen festzustellen.
Um die Diagnose SPMS zu stellen, müssen die Ärzte eine fortschreitende Verschlechterung der neurologischen Funktionen über einen bestimmten Zeitraum (mindestens sechs Monate) nachweisen. Dabei müssen andere mögliche Ursachen für die Symptome ausgeschlossen werden.
Therapie der Sekundär Progredienten MS
Die Multiple Sklerose ist nicht heilbar. Durch moderne Behandlungsmöglichkeiten kann der Verlauf der Erkrankung jedoch meist lange herausgezögert und verbessert werden. Die Therapie der SPMS zielt darauf ab, die Progression der Erkrankung zu verlangsamen, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Die Behandlung der Multiplen Sklerose stützt sich dabei auf mehrere Säulen:
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- Immuntherapie (Verlaufsmodifizierende Therapie): Medikamente, die das Immunsystem beeinflussen, um die Entzündungsaktivität im ZNS zu reduzieren und das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen. Hier hat es in den vergangenen zehn Jahren große Fortschritte bei der Entwicklung von Medikamenten gegeben. Die Immuntherapie beeinflusst bei MS das fehlgesteuerte Immunsystem, indem sie dieses verändert (immunmodulierend) oder dämpft (immunsuppressiv). Am wirksamsten sind speziell entwickelte Antikörper. Sie verhindern das Eindringen von bestimmten Immunzellen ins Gehirn oder reduzieren ihre Konzentration im Blut. Dadurch können diese Zellen keine Entzündungen mehr auslösen. Mittlerweile gibt es gut 20 Immuntherapie-Mittel (Stand: April 2023), einige davon auch für die sekundär oder primär progrediente MS. Das ermöglicht weitgehend individuell zugeschnittene Behandlungspläne. Ob man eine Immuntherapie beginnt und mit welchem Medikament, hängt an einer Vielzahl von Faktoren. Dabei geht es um Aspekte wie Krankheitsverlauf, Familienplanung oder das individuelle Risikoprofil. Grundsätzlich wird empfohlen, bei allen Menschen mit MS eine Immuntherapie zu beginnen. Zu der Frage, wann der beste Zeitpunkt dafür ist, gibt es unterschiedliche Meinungen. Immuntherapien können die MS nicht heilen, aber ihren Verlauf stark verbessern. Manchmal werden daher auch die Begriffe „verlaufsmodifizierend“ oder „verlaufsverändernde“ Therapien verwendet.
- Symptomatische Therapie: Behandlung der einzelnen Symptome wie Spastik, Schmerzen, Fatigue, Blasenstörungen oder Depressionen mit Medikamenten, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und psychologischer Betreuung.
- Schubtherapie: Behandlung akuter Schübe, damit Beschwerden sich schnell zurückbilden. Bei akuten Schüben können u.a. Cortison-Präparate die Symptome dämpfen.
- Rehabilitation: Maßnahmen zur Verbesserung der körperlichen und kognitiven Funktionen sowie zur Anpassung an die Einschränkungen durch die Erkrankung.
- Weitere unterstützende Maßnahmen: Regelmäßige körperliche Aktivität, gesunde Ernährung, Stressbewältigung, soziale Kontakte und Selbsthilfegruppen können den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen.
Medikamente für SPMS
Für die Behandlung der SPMS stehen verschiedene Medikamente zur Verfügung, darunter:
- Siponimod (Mayzent®): Ein Sphingosin-1-Phosphat (S1P)-Rezeptor-Modulator, der die Auswanderung von Lymphozyten aus den Lymphknoten hemmt und dadurch die Zahl autoaggressiver zirkulierender Lymphozyten vermindert. Zudem überwindet Siponimod die Blut-Hirn-Schranke und zeigt eine zentrale Wirkung an S1P-Rezeptoren von Oligodendrozyten, Mikroglia und Astrozyten. Dadurch wird die Myelinschädigung durch Astrozyten und Mikroglia vermindert und der Wiederaufbau des Myelins durch Oligodendroglia angeregt, wie präklinische Studien zeigen konnten. Siponimod ist für die aktive SPMS zugelassen, wobei „aktiv“ durch aufgesetzte Schübe und/oder MRT-Aktivität definiert ist.
- Ocrelizumab (Ocrevus®): Ein B-Zell-depletierender Antikörper, der auch bei aktiver schubförmiger MS (RMS) zugelassen ist und auch bei SPMS mit aktiver Erkrankung eingesetzt werden kann.
Herausforderungen und Perspektiven
Die SPMS stellt aufgrund ihres fortschreitenden Charakters und der komplexen Pathophysiologie eine besondere Herausforderung für Ärzte und Patienten dar. Die eindeutige klinische Definition der frühen SPMS ist jedoch nach wie vor eine große Herausforderung. Ein entscheidender Fokus muss auf eine frühere Erkennung der MS-Progression und Konversion zur SPMS gelegt werden, um das Zeitfenster für therapeutische Interventionen zu verlängern und die erweiterten medikamentösen Optionen rechtzeitig zu nutzen. Ziel muss es sein, die Phase der Unsicherheit zwischen einer vermuteten sekundär-progredienten MS und der definitiven Diagnose zu verkürzen. Die durchschnittliche Latenz von circa 3 Jahren ist entschieden zu lang. Deshalb muss ein intensiveres Monitoring als bisher in der klinischen Praxis durchgeführt werden. Es sollte neben klinischen und MRT-Parametern auch standardisierte, funktionelle und neuropsychologische Tests sowie die Erhebung von Patienten-berichteten Parametern (PROs) umfassen. Denn die Konversion in eine progrediente MS ist ein schleichender Vorgang, der sich in verschiedenen Bereichen durchaus asynchron entwickeln kann.
Die Forschung konzentriert sich daher auf die Entwicklung neuer Therapien, die die Neurodegeneration aufhalten und die Regeneration von Nervenzellen fördern können. Auch die Entwicklung von Biomarkern, die eine frühe Diagnose und eine bessere Vorhersage des Krankheitsverlaufs ermöglichen, ist ein wichtiges Ziel.
Leben mit SPMS
Trotz der Herausforderungen, die die SPMS mit sich bringt, können viele Betroffene ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben führen. Wichtig sind eine frühzeitige Diagnose, eine individuelle Therapieplanung, eine gute Zusammenarbeit zwischen Arzt und Patient sowie die Unterstützung durch Familie, Freunde und Selbsthilfegruppen.
Im täglichen Leben gibt es einiges, dass die Multiple Sklerose günstig beeinflussen kann. Ein wesentliches Element ist regelmäßige körperliche Aktivität. Ein Spaziergang oder eine Wanderung, eine Fahrradtour oder ähnliche Aktivitäten im Freien haben außerdem gleich mehrere positive Effekte: Man bewegt sich und kann schon durch kurzen, aber regelmäßigen Aufenthalt in der Sonne etwas gegen einen Vitamin-D-Mangel tun. Aber auch gezieltes Training ist wichtig. Ein weiterer wichtiger Baustein, den jeder selbst in der Hand hat, ist die Umstellung auf eine gesunde Ernährung. Selbst zubereitete Mischkost mit viel Obst und Gemüse, Fisch und Vollkornprodukten, aber wenig Zucker und Salz, tierischen Fetten und Zusatzstoffen (wie in verarbeiteten Lebensmitteln) hat positive Effekte. Zudem sollten Menschen mit Multipler Sklerose nicht rauchen. Rauchen ist ein Risikofaktor und die Betroffenen sollten alles daran setzen, die Nikotinsucht zu überwinden. Wer es allein nicht schafft, findet Unterstützung: Viele Krankenkassen haben Angebote zur Raucherentwöhnung, z.B. „Nichtrauchertrainings“.
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