Sport und Bewegung haben weitreichende Auswirkungen auf unseren Körper, einschließlich des zentralen Nervensystems (ZNS). Diese Auswirkungen reichen von der Verbesserung der kognitiven Funktionen bis hin zur Förderung der psychischen Gesundheit. In diesem Artikel werden wir untersuchen, wie Sport das Gehirn beeinflusst und welche Mechanismen dabei eine Rolle spielen.
Neuroathletik: Eine innovative Trainingsmethode
Die Neuroathletik ist eine Trainingsmethode, die das Nervensystem in den Mittelpunkt stellt. Sie zielt darauf ab, visuelle Eindrücke, Gleichgewicht und Eigenwahrnehmung zu verbessern. Im Gegensatz zu herkömmlichen Sportarten, die sich auf Muskelaufbau oder Herz-Kreislauf-Training konzentrieren, konzentriert sich die Neuroathletik auf die bewegungssteuernden Bereiche des Nervensystems.
Der Sportwissenschaftler Lars Lienhard prägte den Begriff Neuroathletik in Deutschland. Sein Ansatz basiert auf dem Prinzip des amerikanischen Chiropraktikers Eric Cobb, der in den frühen 2000er Jahren begann, Athletiktraining und Neurowissenschaften zu verbinden. Neuroathletik wird oft synonym mit neurozentriertem Training verwendet. Neurozentriertes Training wird eher zur Rehabilitation, Schmerzlinderung und Prävention von Sportverletzungen eingesetzt, während Neuroathletik-Training eher im Spitzensport und zur Leistungssteigerung eingesetzt wird.
Andreas Könings, Gründer der Deutschen Neuro-Akademie, erklärt: „Trotz der unterschiedlichen Bezeichnungen sind Vorgehen und Übungen bei Neuroathletik und neurozentriertem Training weitgehend gleich. Beide Varianten kümmern sich nicht um den Körper, also die Hardware, sondern um die neuronalen Aspekte, die Software.“
Wie Gehirn und sportliche Leistung zusammenhängen
Das Gehirn spielt eine zentrale Rolle bei jeder Art von Bewegung. Es verarbeitet Informationen aus verschiedenen Sinnessystemen und leitet daraus Bewegungsabläufe ab. Könings betont: „Das Gehirn ist die Zentrale des Nervensystems, und das Nervensystem entscheidet letztendlich, wie schnell ich laufe, wie hoch ich springe, wie viel Kraft ich habe oder ob ich Schmerzen habe.“
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Es gibt einen Unterschied zwischen dem zentralen Nervensystem (Gehirn und Rückenmark) und dem peripheren Nervensystem (Nerven). Sensorische Nerven leiten Informationen, die wir über Sehen, Hören, Schmecken, Tasten oder Fühlen aufnehmen, an das zentrale Nervensystem. Dort werden die Signale als gefährlich oder ungefährlich interpretiert. Bei Gefahr sendet das Gehirn Stoppsignale an die Muskeln, was die Leistung beeinträchtigen kann.
Gefahrensignale können Schmerzen durch einen verstauchten Knöchel oder unzureichende Informationen wie ein eingeschränktes Sichtfeld sein. Könings erklärt, dass ein verstauchter Knöchel ein echtes Problem darstellt, während eine Schirmmütze ein Fehlalarm ist. Dennoch kann die Schirmmütze die Person langsamer joggen lassen, weil das Gehirn meldet: "Tempo runter, sonst stürzt du."
Je besser das Gehirn sensorische Informationen wie Gleichgewicht, visuelle Eindrücke oder Körperposition einordnen und darauf reagieren kann, desto weniger lässt es sich von Fehlalarmen täuschen. Dadurch können Bewegungen präziser und effizienter ausgeführt werden.
Die Funktionsweise des Neuroathletik-Trainings
Neuroathletik zielt darauf ab, das Zusammenspiel von zentralem und peripherem Nervensystem zu verbessern. Der Fokus liegt auf den reizverarbeitenden Systemen, die für Bewegungsabläufe entscheidend sind:
- Visuelles System: Wahrnehmung visueller Eindrücke
- Vestibuläres System: Gleichgewichtssinn
- Propriozeptives System: Eigenwahrnehmung der Körperbewegung
Diese Systeme interagieren kontinuierlich miteinander und mit dem zentralen Nervensystem, das die Informationen verarbeitet und ausgleicht. Neuroathletik-Übungen sollen Fehler im Zusammenspiel der Systeme reduzieren und den Informationsfluss optimieren.
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Beispiele für Neuroathletik-Übungen
- Visuelles System: Übungen mit Rasterbrillen oder Stäben, denen die Augen folgen, verbessern die Wahrnehmung und Kommunikation zwischen Augen und Gehirn.
- Vestibuläres System: Übungen mit Kopfdrehungen verbessern Gleichgewicht und Stabilität und reduzieren Verletzungen.
- Propriozeptives System: Beweglichkeits- und Gleichgewichtsübungen mit Balance-Boards, Widerstandsbändern oder Vibrationsrollen verbessern Gleichgewicht, Koordination und körperliche Leistungsfähigkeit.
Die Meinungen über die Trainingsdauer gehen auseinander. Einige Anbieter empfehlen 20 Minuten pro Tag und Themenkomplex über sechs bis acht Wochen. Könings rät, mit wenigen Minuten täglich und individuell passenden Übungen zu beginnen.
Für wen ist Neuroathletik-Training geeignet?
Neuroathletik-Training ist für alle geeignet, die ihre Bewegungsqualität und sportliche Leistung verbessern möchten. Es wird hauptsächlich im Spitzensport eingesetzt, dringt aber auch in andere Bereiche wie Breiten- und Rehasport sowie als Präventivmaßnahme vor. Die tatsächlichen Auswirkungen der Übungen müssen noch wissenschaftlich geklärt werden.
Was bringt Neuroathletik-Training wirklich?
Die Neuroathletik nutzt das Wissen über Gehirnstrukturen und Kommunikationswege, um bestimmte Hirnareale gezielt anzusprechen. Die Theorie ist, dass dadurch neue Synapsen gebildet und die Leistungsfähigkeit gesteigert werden kann. Während eine Wirkung im Gehirn für Meditation gut belegt ist, ist die wissenschaftliche Bewertung von Neuroathletik begrenzt.
Könings räumt ein: „Es gibt immer mehr Leute, die Neuroathletik machen oder anbieten. Auch Studien belegen die Arbeitsweise im Neurotraining. Allerdings werden diese nicht unter dem Namen Neuroathletik geführt, da dies ein viel zu junger und allgemeiner Begriff ist, der viele Aspekte umfasst.“ Die Studien zeigen eine Tendenz, aber keine wissenschaftliche Evidenz. Bisher gibt es keine systematischen Belege für die Wirkung von Neuroathletik.
Zwei Studien zeigten einen Effekt von visuellem Training auf die Verletzungshäufigkeit, aber die Probandengruppen waren eng gefasst. Es ist schwer, die Übungen unter gleichen Bedingungen zu wiederholen und Veränderungsprozesse im Gehirn während der Bewegung nachzuvollziehen. Obwohl nicht gesichert ist, ob die angesprochenen Hirnstrukturen tatsächlich aktiviert werden und ob sie für eine Leistungssteigerung relevant sind, sind die Ansätze von Neuroathletik spannend.
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Was beim Sport im Gehirn passiert
Sport aktiviert in erster Linie den motorischen Kortex, der über Nervenbahnen direkt mit den Muskeln verbunden ist. Schneider erklärt: „Spezifische Areale innerhalb dieses Bereichs sind über Nervenbahnen direkt mit den Muskeln verbunden und sprechen dann ganz konkret die Muskeln an, die gerade gebraucht werden. Das ist bei jeder Sportart gleich, egal ob Ausdauersport oder Muskeltraining. Die richtige Koordination kommt dadurch zustande, dass die entsprechenden Muskeln im richtigen Moment und vor allem in der richtigen Intensität vom motorischen Kortex angesprochen und daraufhin angespannt werden.“
Je öfter wir etwas üben, desto gefestigter sind die Befehle aus dem Gehirn und desto besser sind wir in einer bestimmten Bewegung. Sport macht uns glücklich, weil er das Bewegungszentrum fordert und andere Bereiche deaktiviert. Schneider erklärt: „Dass wir uns besser fühlen beim oder nach dem Sport kommt daher, dass die körperliche Aktivität vorrangig das Bewegungszentrum fordert und dafür andere Bereiche, zum Beispiel jene zum Problemlösen, Lernen usw. zuständig sind, deaktiviert sind.“
Grübelgedanken sind während des Sports ausgeschaltet. Aktivierende Gefühle wie Wut oder Stress werden kanalisiert. Schneider erklärt: „Adrenalin, Noradrenalin und auch Cortisol, die Stoffe, die unser Körper bei Stress ausschüttet, werden im Sport gezielt genutzt.“ Sport hat eine psychohygienische Wirkung bei Stress und Reizüberflutung. Gedanken kommen zur Ruhe, und kognitive Bereiche können regenerieren. Sport kann auch bei Traurigkeit und Depression helfen.
Das Runners High
Das Runners High tritt auf, wenn der Körper Endorphine oder Endocannabinoide produziert. Schneider erklärt: „Wenn wir an eine gewisse Belastungsgrenze stoßen. Diese Stoffe, übrigens tatsächlich den in Cannabis enthaltenen sehr ähnlich, werden ausgeschüttet, um Schmerz zu lindern.“ Das Runners High ist an sich eine tolle Einrichtung der Natur, aber es bedeutet, dass man an eine Belastungsgrenze gelangt ist.
Wie Sport die Lernfähigkeit beeinflusst
Bewegung allein macht nicht schlauer. Der Schlüssel ist eine Wechselwirkung: „Denken, lernen und Probleme lösen funktionieren dann am besten, wenn die dafür zuständigen Hirnareale ausgeruht sind. Weil unser Gehirn nur begrenzt Ressourcen zur Verfügung hat, werden während intensiver körperlicher Arbeit die hierfür irrelevanten Areale quasi in einen Standby-Modus gebracht. Nach dem Sport stehen dann wieder alle Ressourcen zur Verfügung - ähnlich wie ein Rechner, den man bei Überlastung herunterfährt. Anschließend kann die Energie dann ganz in die kognitive Leistung fließen.“
Schneider erklärt weiter: „Es gibt außerdem Forscherinnen und Forscher, die davon ausgehen, dass bestimmte Wachstumshormone (die sogenannten neurotrophen Faktoren) durch Sport vermehrt gebildet werden und dann die Blut-Hirn-Schranke passieren. Im Tier-Experiment wurde das bereits nachgewiesen. Am Menschen aber noch nicht. Im Gehirn führen die Stoffe dazu, dass neue Nervenzellen ausgebildet werden oder dass sie sich stärker miteinander vernetzen. Wenn dann also nach dem Sport Wissen aufgenommen wird, wirken die neurotrophen Faktoren wie ein Dünger für unsere Lernfähigkeit.“
Sport und Bewegung vermitteln körperliches Selbstvertrauen und fördern die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, was das Gehirn trainiert. Körperliche Fitness ist die Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben und die Prävention von Demenzerkrankungen.
Sport und das zentrale Nervensystem: Molekulare und zelluläre Anpassungen
Sport hat einen direkten Einfluss auf das zentrale Nervensystem. Studien beschreiben den Einfluss von akuter sportlicher Belastung auf ZNS-relevante Wachstumsfaktoren. Die Beschreibung der Wirkmechanismen auf das ZNS konzentriert sich auf drei Vertreter:
- BDNF (brain-derived neurotrophic factors): Fördert die Neurogenese und trägt zur Volumenzunahme der Hirnmasse bei.
- VEGF (vascular endothelial growth factor): Stimuliert die Neurogenese und trägt zu einer verbesserten synaptischen Plastizität bei.
- IGF-1 (insuline-like growth factor 1): Wirkt sich positiv auf die Neurogenese aus.
Tierstudien haben gezeigt, dass körperliche Aktivität die Proliferation von Oligodendrozyten stimulieren kann. Akute körperliche Belastung führte bei Mäusen zu einem drei- bis vierfachen Anstieg der BDNF mRNA Produktion in verschiedenen Bereichen des Hirns. Akute Ausdauerbelastung von mindestens 30 Minuten steigert die Serumkonzentration von BDNF vorübergehend. Bei neurologisch oder psychiatrisch erkrankten Probanden führt schon eine geringe bis mittlere Intensität der Ausdauerbelastung zu einem deutlichen Anstieg der BDNF-Konzentration in der Peripherie, generell fällt der Anstieg der BDNF-Konzentration jedoch geringer aus als bei Gesunden.
Circa 60 Minuten nach der akuten Ausdauerbelastung erreicht die Konzentration ihren Ursprungswert und unterschreitet diesen sogar im weiteren Verlauf. Der belastungsinduzierte Anstieg der BDNF-Konzentration steht möglicherweise mit der Blutlaktatkonzentration in Zusammenhang. BDNF bindet sich im zentralen Nervensystem an die TrkB-Rezeptoren und kann hiermit funktionelle und strukturelle Anpassung der Hirnplastizität anregen, welche für das Lernen und bilden von Erinnerungen wichtig sind.
Der belastungsinduzierte Anstieg der BDNF-Konzentration führte bei Menschen zu einem positiven Zusammenhang mit der motorischen Gedächtnisleistung, der Dauer des erhöhten BDNF-Levels und der verbalen Gedächtnisleistung. Mehrere Studien konnten aufzeigen, dass weder Ausdauertraining noch Krafttraining zu einer Steigerung der basalen peripheren BDNF-Konzentration führen.
VEGF wird auch als Gefäßwachstumsfaktor beschrieben und wird ähnlich wie BDNF unter körperlicher Belastung vermehrt produziert und kann mit Verbesserungen der Gedächtnisleistungen einhergehen. Muskulatur, Lunge und auch das Herz und die Leber werden als belastungssensitive periphere VEGF Quelle genannt. Es ist bekannt, das VEGF die Blut-Hirnschranke nicht übertreten kann. Dies wirft allerdings die Frage auf, ob sich die periphere Konzentration und die zentrale Konzentration repräsentieren. Im Tiermodell fand man vergleichbare Konzentrationsänderungen unter Belastung in beiden Bereichen.
Als dritter Wachstumsfaktor, welcher durch körperliche Aktivität beeinflussbar ist, ist der IGF-1. Auch er wirkt sich positiv auf die Neurogenese aus. Auch hier konnte in Tiermodellen nachgewiesen werden, dass es einen Zusammenhang zwischen der peripheren und der zentralen Zunahme des IGF-1 (unter körperlicher Belastung) kommt. In einer weiteren Studie zeigten Yu et al., dass bereits ein 15 tätiges Ausdauertraining bei Mäusen sowohl akut als auch chronisch zu einem signifikanten IGF-1 Anstieg führte. Dies wiederum geht mit einer erhöhten Proliferation der Gyrus dentatus Region im Hippocampus, einher. Die Produktion von IGF-1 scheint auch belastungsabhängig zu sein, so führte eine intensive Ausdauerbelastung zu deutlichen Anstiegen, moderate oder niedrige Belastung jedoch kaum zu Anstiegen der IGF-1-Serumkonzentration in der Peripherie.
Bei intensivem und moderatem Krafttraining kam es ebenfalls zu einem Anstieg der Konzentration, welche allerdings 20 Minuten nach der Belastung unter den Ausgangswert schritt. Die sportliche Belastung kann also neuronal wirksame Wachstumsfaktoren beeinflussen. Vor allem die Hippocampusformation scheint von der Neurogenese zu profitieren.
Weitere Mechanismen
Die Funktionalität der präfrontalen Kortexfunktionen und der motorischen Eigenschaften ist stark beeinflusst durch die Ausschüttung von Dopamin. Durch sportliche Betätigung wird gemäß mehreren Studien die Produktion von Tyrosinhydroxylase verstärkt, welches als Schlüsselenzym für die Dopaminsynthese gilt. Pieramica et al. konnten aufzeigen, dass ein Mix aus kognitiver Beanspruchung und aerober Belastung zu einer verbesserten kognitiven Leistungsfähigkeit führten und sich darüber hinaus die kortikale Vernetzung verändert.
Laktat dient als Energielieferant für das Hirngewebe und wird sogar selbst im Hirngewebe durch sogenannte Astrozyten gebildet. Sowohl Nervenzellen als auch Oligodendrozyten nutzen das Laktat zur Energieversorgung. In Studien konnte gezeigt werden, dass Laktat die Blut-Hirnschranke überwinden kann und die Laktatkonzentration im Blut mit einer Veränderung der Aufmerksamkeit zusammenhängt.
Windham et al. konnten aufzeigen, dass eine hohe Konzentration an Entzündungsmediatoren einen negativen Zusammenhang zur kognitiven Leistungsfähigkeit bildet. Durch sportliche Belastung wird ein kurzfristig systemischer Entzündungsreiz gesetzt, welcher zu eine Ausschüttung von pro-inflammatorischen Zytokinen führt. Mittelfristig gesehen allerdings führt dies zu einem systematisch anti-inflammatorischen Milieu, da die Produktion von Interleukin-1-Rezeptorantagonisten, TNF-alpha-Rezeptoren und Interleukin-10 zunimmt.