Friedrich Schiller, einer der bedeutendsten deutschen Dichter, Kunstkritiker und Philosophen, hinterließ mit seinem vielschichtigen Werk einen nachhaltigen Einfluss auf die Geistesgeschichte. Sein Zitat „Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit“ aus dem Drama Wallenstein (1799) ist nicht nur eine prägnante Formulierung, sondern auch ein Schlüssel zum Verständnis seiner Philosophie und Kulturkritik. Dieser Artikel untersucht die Bedeutung dieses Zitats im Kontext von Schillers Werk, der modernen Gesellschaft und der zeitgenössischen Kunst.
Schiller und die Ambivalenz der Moderne
Schon vor Schillers 200. Todestag wurde sein Werk intensiv gefeiert. Die Buchindustrie veröffentlichte Ausgaben, Anthologien, Biografien und Bildbände. Dabei wurde vor allem der Dichter gewürdigt, während der Theoretiker weniger Beachtung fand. Auch das Private kam nicht zu kurz, sodass man Schiller als chronisch kranken, erregten Liebhaber und aufstiegswilligen Karrieristen kennenlernte. Sein Pathos wirkt bis heute nach.
Im hochgetriebenen Erinnerungsbetrieb wird jedoch oft übersehen, dass Schillers weltkundige Kulturkritik illusionslos die Moderne als eine Zeit der Unfreiheit und der Handlungshemmungen definierte. Entfremdung und Entzweiung, Arbeitsteilung und Zweckrationalität, der Kult des Nutzens, der Konformitätsdruck, die affirmative Kultur und das Zurückbleiben der Individuen hinter der Gattung - all dies sind Themen, die Schillers ambivalente Kulturkritik vorwegnimmt, ohne dabei einen analytischen Anspruch zu erheben. Sie präludiert große Themen des Marxismus, der frühen deutschen Soziologie und der Frankfurter Schule.
Im August 1797 erhielt Schiller vier Briefe von Goethe aus Frankfurt. Darin berichtete der Freund, wie sehr sich die alte Reichsstadt in einen modernen „Waren- und Marktplatz“ verwandelt hatte. Anstelle der ehemals ruhigen und patriarchalischen Zustände herrschte nun ein „Taumel von Erwerb und Verzehren“, eine Vorliebe für „Vergnügungen“ und „Zerstreuung“. Goethe bejahte den Handelskapitalismus und bewunderte sogar die lauernde Konkurrenz der Bankiers und Unternehmer. Dennoch herrschte in den Briefen eine gewisse Beunruhigung über das veränderte Publikum und die veränderten Zustände.
Goethe war die Welt der Ökonomie durchaus vertraut. Er kannte sie aus Büchern und aus seiner Tätigkeit als Minister. Weimar avancierte mit seinen Geistesgrößen wie Wieland, Herder oder Goethe (auch mit Schiller) zu einem Zentrum deutscher Kultur. Die großen Ideen der Zeit, die der europäischen Aufklärung und die Philosophie Kants, wurden hier aufgenommen und überboten. Man war in Weimar auch gut über die Zustände in London und erst recht über die im nachrevolutionären Paris informiert. Im Vergleich zu den westeuropäischen Großstädten wirkte auch Frankfurt bescheiden. Aber in seiner Heimatstadt machte Goethe hellsichtig neue Tendenzen aus, die als verstörendes Element in die Ästhetik der Moderne eingehen sollten. Seine Briefe schilderten bereits Anzeichen einer Prosa der Verhältnisse, die der Kunst feindlich war: Das Publikum wollte nur Zerstreuung; die Handelskapitale bot zudem kaum poetische Stimmungen und poesiefähige Gegenstände.
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Goethe versuchte, die Diskrepanz zwischen ernüchternden Wirklichkeiten und der Poesie mit einem Symbolkonzept zu versöhnen, das „moderne Gegenstände“ für die Poesie eignungsfähig machte, indem es sie als „bedeutsam“ für die Menschheit auswies. Hinter dieser Vorstellung von der Bedeutsamkeit der Gegenstände stand die Vorstellung einer letztlich vernünftigen Ordnung. Schiller wollte Goethes Versöhnungskonzept jedoch nicht akzeptieren. Er plädierte für eine stärkere Trennung zwischen der Welt der Poesie und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, weil er sich diese Wirklichkeit nicht mehr als sinnhaftes Ganzes vorstellen konnte. Er lehnte jegliche Anpassung an äußere Gegebenheiten ab und sah darin die Grundhaltung des Idealismus.
Schiller berief sich gern auf den Idealismus, verstand darunter aber kein Denken im Panzerhemd eines Systems. Ihm ging es weniger um die "logische Pünktlichkeit der Begriffe" als vielmehr um den rhetorischen Effekt. Gelegentlich erläuterte er jedoch einprägsam, was unter Idealismus zu verstehen sei: Nicht uns sollen die Dinge, sondern wir sollen die Dinge formen; "und wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der wird nie die Wahrheit erobern".
Seine kulturkritische Hauptschrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) bezeugt die Fähigkeit zur genauen Beobachtung der Menschen, ihrer Psyche und ihrer Zustände. Ihn interessierten die Kosten des Zivilisationsprozesses. Schiller kritisierte den Zustand der Zivilisation, ohne deren Verlauf zu verwerfen. Er glaubte an eine glückliche Vergangenheit, eine schlechte Gegenwart und eine bessere Zukunft.
Schiller wollte ein "Gemälde" seines Zeitalters bieten und vom "Richterstuhl reiner Vernunft" aus urteilen. Er entfaltete seine Zeitdiagnose nahezu protosoziologisch. Über den natürlichen Charakter des Menschen machte er sich keine Illusionen: Der ist "selbstsüchtig und gewalttätig", mehr auf die Zerstörung als auf die Erhaltung der Gesellschaft angelegt. Im gegenwärtigen Zustand verfehlten die einzelnen Menschen ihre Identität, indem sie der Gefühlsseligkeit oder der Prinzipienreiterei verfielen. Die Institutionen und Mentalitäten der modernen Zivilisation betrieben die Zerrüttung der Individuen, und sie ließen ihnen den Zivilisationsprozess als unkontrollierbaren Selbstlauf gegenübertreten.
Schiller sah die Auswirkungen der Ökonomie als desaströs: Die Arbeitsteilung zerstückelte das Individuum, und der "Geschäftsgeist" machte beschränkt. Er sah auch das Recht mit seiner Rigidität als Hindernis für die erhoffte Versöhnung von Sinnlichkeit und Sittlichkeit. Der Terror der Französischen Revolution verleitete ihn zu der Behauptung, die Menschen seien für die Revolution noch nicht reif. Seine Kulturkritik bestimmte den Zustand der Zivilisation vollends als Zustand einer strukturellen Blockierung menschlicher Selbstverwirklichung.
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Die Lage erschien ausweglos, zumal Schiller ohne metaphysische Rückendeckung oder geschichtsphilosophischen Trost dachte. Er misstraute nicht nur der Vernunft des Bestehenden, sondern er relativierte auch schon die Vorstellung vom Bestehen der Vernunft: Selbst die Vernunft konnte die Humanität bedrohen. Und doch berief er sich noch auf sie, wenn es um einen Ausweg aus der kulturkritisch diagnostizierten Misere ging. Schiller wollte auf sein Ideal der geglückten Identität nicht verzichten. Deshalb stellte er seine Argumentation um und begab sich aus der desillusionierenden Welt der Erfahrung in die Welt der philosophischen Spekulation, um hier die "Schönheit als notwendige Bedingung der Menschheit" aufzuzeigen.
Woher kam dieses Vertrauen in die "ästhetische Erziehung"? Aus Kants Kritik der Urteilskraft übernahm Schiller die strukturelle Analogie von Kunst und menschlicher Selbstbestimmung: Schönheit ist als "Freiheit in der Erscheinung" zweckfrei und autonom. Im Unterschied zu Kant aber beharrte Schiller bildungsindividualistisch auf der nicht entfremdeten Existenz des Einzelnen. Sein berühmter Satz, der Mensch sei "nur da ganz Mensch", wo er mit der Schönheit spiele, ist oft missverstanden worden. Damit sind nicht Jux, Wettkampf oder Begegnung gemeint. Bei ihm erhielt der Spieltrieb einen Gegenstand von großer Wirkungsmacht: Durch das Kunstwerk sollte im Prozess der ästhetischen Erziehung der "ganze Mensch" wieder hergestellt werden.
"Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit"
"Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit" - dieser ernüchternde Befund verhinderte nicht die programmatische Überstrapazierung des Ästhetischen als Ausweg aus der kulturkritisch diagnostizierten Misere. Im "Reiche des ästhetischen Scheins", nicht in der Realität werde "das Ideal der Gleichheit erfüllt", hieß es im letzten der 27 Briefe. Schiller schien am Ende das einleitend formulierte Ziel der "wahren politischen Freiheit" aus den Augen zu verlieren. Entscheidend ist, wie man Schillers Kritik an dem "Schwärmer", der das Ideal der Gleichheit realisieren möchte, interpretiert - ob nun als Generalverdikt "für immer" oder als Plädoyer für ein Umwegkonzept, das im Medium der Kunst autonome und handlungsfähige Subjekte bilden will, Subjekte fähig zur politischen Freiheit.
Schillers Frontstellung gegen das "wirkliche Leben" gründete in einer desillusionierenden Kulturkritik, die den Zeitgenossen fehlte. Sein Denken, ambivalent und widersprüchlich, unsystematisch und alarmistisch, kritisierte nicht das Dasein schlechthin, sondern die eigene Epoche. Schiller bejahte die Ausdifferenzierungsprozesse der Moderne, und er verneinte deren Folgen mit Blick auf die Deformationen der Individuen. Er lehnte den absolutistischen Staat ab, er verlieh ihm aber mit Blick auf den Zustand der Individuen eine vorläufige Bestandsgarantie. Schiller kritisierte nicht nur das eigene, vermeintlich aufgeklärte Zeitalter, sondern auch schon, quasi antizipatorisch, die Zumutungen der kapitalistischen Moderne. Bemessen mit dem Ideal des "ganzen Menschen" erschien die eigene Epoche als "gemeine moderne Welt". Weil er die Freiheit des Individuums wollte, sah er so genau. Und weil er seine Wirklichkeit als Zeit der Handlungshemmungen eindunkelte, erschien die Kunst als mögliches Medium der Emanzipation in umso hellerem Licht.
Das Zitat in der Kunst: Christoph Hildebrands ENG&WEIT
Das Kunstwerk von Christoph Hildebrand mit dem Titel ENG&WEIT befindet sich im Foyer des MIK in Ludwigsburg. Es besteht aus einer Neonlicht-Schrift mit einer Wechselschaltung. Der Künstler verwendet das Zitat von Friedrich Schiller aus Wallenstein (1799): „Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit.“
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Hildebrands Lichtinstallation lädt die Betrachtenden ein, über die Beziehung zwischen Raum und Geist nachzudenken. Durch die wechselnden Kombinationen des Schillerzitats wird die Dualität von Begrenzung und Weite sowohl im physischen als auch im geistigen Raum verdeutlicht. Die Neonlicht-Schrift erinnert daran, dass unsere Wahrnehmung von Raum und Denken dynamisch ist, sich ständig verändert und sich gegenseitig beeinflusst. Dieses Kunstwerk regt dazu an, über die Grenzen und Möglichkeiten des menschlichen Geistes zu reflektieren und die Wechselwirkungen zwischen unserer Umgebung und unserem inneren Denken zu erkunden.
Die Aktualität von Schillers Zitat
Schillers Zitat ist auch heute noch von großer Bedeutung. In einer Zeit, in der die Welt durch Globalisierung und Digitalisierung immer enger zusammenrückt, während gleichzeitig die Informationsflut und die Komplexität der Lebensumstände zunehmen, wird die Spannung zwischen der Enge der Welt und der Weite des Gehirns besonders deutlich.
Die Enge der Welt manifestiert sich in vielfältiger Weise:
- Geographische Grenzen: Obwohl Reisen und Kommunikation einfacher geworden sind, bleiben geographische Grenzen und nationale Interessen bestehen.
- Gesellschaftliche Normen: Konventionen, Erwartungen und sozialer Druck können den individuellen Handlungsspielraum einschränken.
- Wirtschaftliche Zwänge: Materielle Bedürfnisse und wirtschaftliche Abhängigkeiten können die Freiheit des Einzelnen begrenzen.
- Informationsflut: Die ständige Verfügbarkeit von Informationen kann zu einer Überforderung führen und die Fähigkeit zur kritischen Reflexion einschränken.
Die Weite des Gehirns hingegen symbolisiert die unendlichen Möglichkeiten des menschlichen Geistes:
- Kreativität: Die Fähigkeit, neue Ideen zu entwickeln und innovative Lösungen zu finden.
- Reflexion: Die Möglichkeit, über sich selbst und die Welt nachzudenken und eigene Werte und Überzeugungen zu hinterfragen.
- Empathie: Die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Perspektiven zu verstehen.
- Wissensdurst: Das Streben nach Erkenntnis und die Bereitschaft, sich ständig weiterzubilden.
In diesem Spannungsfeld zwischen Enge und Weite liegt die Herausforderung der modernen Gesellschaft. Es gilt, die Möglichkeiten des menschlichen Geistes zu nutzen, um die Enge der Welt zu überwinden und eine freiere, gerechtere und nachhaltigere Zukunft zu gestalten.
Die Rolle der Kunst
Schiller sah in der Kunst ein wichtiges Mittel, um die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit zu überbrücken und den Menschen zu einer ganzheitlichen Entwicklung zu verhelfen. Die Kunst kann uns helfen, die Welt mit neuen Augen zu sehen, unsere Vorstellungskraft zu beflügeln und unsere Fähigkeit zur Empathie zu stärken. Sie kann uns aber auch dazu anregen, über die Grenzen unserer eigenen Denkweise hinauszugehen und neue Perspektiven zu entwickeln.
Christoph Hildebrands Lichtinstallation ENG&WEIT ist ein Beispiel dafür, wie Kunst uns dazu anregen kann, über die Beziehung zwischen Raum und Geist nachzudenken und die Wechselwirkungen zwischen unserer Umgebung und unserem inneren Denken zu erkunden. Sie erinnert uns daran, dass die Weite des Gehirns eine Ressource ist, die wir nutzen sollten, um die Enge der Welt zu überwinden und eine bessere Zukunft zu gestalten.