Die Entwicklung des Nervensystems im Laufe der Evolution

Gehirne gelten oft als die Krönung der Schöpfung, doch viele Organismen leben seit Millionen von Jahren erfolgreich ohne Nervensystem. Evolution bedeutet, dass Individuen, die am besten an ihre Umwelt angepasst sind, die größten Chancen haben, ihre Gene weiterzugeben. Ein Nervensystem ist also nicht zwangsläufig ein Garant für reproduktiven Erfolg.

Nervensysteme in der Tierwelt: Ein Überblick

Die Vielfalt der Nervensysteme im Tierreich ist immens. Während einige Tiere wie Schwämme seit Millionen von Jahren ohne Nervenzellen existieren, haben andere komplexe Gehirne entwickelt, die zu erstaunlichen kognitiven Leistungen befähigen.

  • Einfache Nervensysteme: Nesseltiere wie Quallen und Polypen besitzen ein diffuses Nervennetz, das sich über ihren gesamten Körper erstreckt. Dieses Netzwerk ermöglicht es ihnen, auf Reize zu reagieren, ohne dass ein zentrales Gehirn erforderlich ist. Stachelhäuter wie Seesterne weisen ebenfalls ein radiärsymmetrisches Nervensystem mit einem zentralen Nervenring und radialen Nervensträngen in jedem Arm auf.

  • Zentralisation und Cephalisation: Mit der Evolution ging eine zunehmende Zentralisation des Nervensystems und eine Cephalisation (Kopfbildung) einher. Plattwürmer zeigen bereits eine Tendenz zur Cephalisation mit einer Verstärkung der Nervenzellen im vorderen Körperende. Ringelwürmer haben ein Strickleiternervensystem, bei dem Nervenknoten in jedem Körpersegment durch Nervenstränge miteinander verbunden sind.

  • Komplexe Nervensysteme: Weichtiere wie Tintenfische (Kopffüßer) haben hoch entwickelte Nervensysteme mit starker Cephalisation und komplexen Sinnesorganen. Gliederfüßer besitzen ein Strickleiternervensystem, das dem der Ringelwürmer ähnelt, aber mit stärker ausgebildeten übergeordneten Strukturen.

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  • Das Nervensystem der Wirbeltiere: Das Nervensystem der Wirbeltiere zeichnet sich durch die Verlagerung der nervösen Zentralorgane in das Körperinnere (Internation) und durch die Zentralisierung vieler Neuronengruppen zu einem Zentralorgan aus.

Die Entstehung des Gehirns: Ein Blick in die Vergangenheit

Die Erforschung der Entstehung des Gehirns ist eine schwierige Aufgabe, da Fossilien kaum Spuren von Nervengewebe aufweisen. Dennoch haben Paläontologen einige bemerkenswerte Entdeckungen gemacht.

  • Fossilien aus dem Kambrium: Im Erdzeitalter des Kambriums, vor etwa 520 Millionen Jahren, kam es zu einer explosionsartigen Zunahme der Vielfalt des Lebens im Meer. In dieser Zeit entstanden auch die ersten Lebewesen mit komplexen Gehirnen. Forscher haben Fossilien von krebsähnlichen Tieren gefunden, die bereits ein dreiteiliges Gehirn mit Vorder-, Mittel- und Hinterhirn besaßen.

  • Die Ediacara-Fauna: Das Erdzeitalter des Ediacariums, das dem Kambrium voranging, ist noch rätselhafter. Es wird vermutet, dass damals die ersten Vielzeller entstanden. Wie diese Lebewesen aussahen und sich entwickelten, ist weitgehend unbekannt.

Die Evolution des Gehirns: Modulare Entwicklung und Spezialisierung

Einige Areale unseres Gehirns haben sich im Laufe der Evolution stark verändert, während andere hochgradig konserviert sind. Dies deutet darauf hin, dass Evolution an einzelnen Modulen, nicht dem gesamten Gehirn ansetzt.

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  • Modularisierung: Evolution ist ein komplexer Prozess, der an einzelnen "Modulen" und nicht dem gesamten Gehirn ansetzt. Module sind spezialisierte Strukturen, die weitgehend unabhängig voneinander arbeiten. Aufgrund der funktionellen Unabhängigkeit einzelner Module erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für eine günstige Mutation deutlich.

  • Der Neocortex: Der Neocortex, der stammesgeschichtlich jüngste Teil des Gehirns, kommt nur bei Säugetieren vor und ist mit höheren kognitiven Fähigkeiten verbunden. Er ermöglicht adaptives Verhalten und Lernen, was einen entscheidenden Überlebensvorteil schafft.

  • Emotionen: Komplexere Nervensysteme befähigen zu Emotionen, die bereits Charles Darwin bei Menschen sowie einigen Tierarten beschrieb. Emotionen erhöhen die Gruppenkohäsion und Kooperation unter Mitgliedern eines Stammes.

Die Kosten eines komplexen Nervensystems

Ein üppiges Nervensystem muss man sich auch leisten können, denn Gehirne verbrauchen viel Energie. Bei Menschen verbraucht das Gehirn etwa 20 Prozent der Glukose, obwohl es nur etwa zwei Prozent des Körpergewichts ausmacht.

  • Energieverbrauch: Der hohe Energieverbrauch des Gehirns kann zu Lasten anderer Körperfunktionen gehen, wie beispielsweise des Immunsystems. Interessanterweise scheint das Gehirn direkt mit dem Immunsystem um Ressourcen zu konkurrieren.

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  • Reifungszeit: Komplexe Gehirne brauchen länger, um zu reifen, was eine höhere Arbeitsbelastung für die Eltern bedeutet und deren Chance begrenzt, sehr schnell sehr viele Nachkommen zu produzieren.

Wann ist ein komplexes Nervensystem von Vorteil?

Letzten Endes kommt es auf unsere Lebenswelt an, ob ein großes (und energiehungriges) Gehirn evolutionären Sinn ergibt. In einer Umwelt, in der höhere kognitive Fähigkeiten nicht notwendig sind, ist sicherlich ein kleineres Gehirn von Vorteil, weil es Ressourcen für andere Funktionen freimacht.

  • Anpassung an die Umwelt: Nur dann ist ein Nervensystem von Vorteil, wenn es einen positiven Einfluss auf unsere evolutionäre Fitness ausübt, also auf die Fähigkeit, zu überleben und viele Nachkommen zu zeugen. Komplexe Problemlösefähigkeiten sind insbesondere dann gefragt, wenn Arten in neue Lebensräume vordringen oder der Lebensraum sich zum Beispiel durch Klimaänderungen sehr schnell verändert.

  • Domestizierung: Domestizierung geht oft mit einem Verlust an Gehirnvolumen einher, da bestimmte Fähigkeiten nicht mehr notwendig sind und der Selektionsdruck abnimmt.

Alternative Nervensysteme: Das Beispiel der Rippenquallen

Die Evolution hat bei exotischen Meerestieren einen völlig anderen und bislang unbekannten Typ von Nervensystem hervorgebracht. Die meisten Nervenzellen der Rippenquallen sind nicht über Synapsen verbunden, sondern zu einer einzelnen, netzartigen Riesenzelle verschmolzen.

  • Das Nervennetz der Rippenquallen: Das Nervensystem der Rippenquallen hat zwei organisatorische Ebenen. Die im Körper verteilten Zellen des Nervennetzes haben lange, wie Perlenketten aussehende Fortsätze, die an ihren Enden direkt mit den Fortsätzen anderer Nervenzellen verschmolzen sind. Sie bilden damit ein so genanntes Syncytium, eine Art Riesenzelle.

  • Synaptische Verbindungen: Neben den Neuronen des Netzes besitzen Rippenquallen außerdem mehrere Typen von Nervenzellen, die nicht zum Netz selbst gehören: mehrere Typen von Sinneszellen sowie Neurone, die Tentakel und die Geißeln auf den Rippen ansteuern. Diese sind über Synapsen mit dem Netz verbunden, an denen die Zellen über Neurotransmitter Signale austauschen.

  • Evolutionäre Implikationen: Dass das Nervensystem der Rippenquallen so anders organisiert ist als bei allen anderen Tieren, wirft zudem bisherige Annahmen über die evolutionäre Stellung der Rippenquallen über den Haufen.

Die Regeneration von Nervenzellen: Ein Blick in die Zukunft

Fische, Salamander oder Frösche regenerieren Nervenzellen. Vögel und Säugetiere haben diese Fähigkeit dagegen verloren. Wenn Forscher irgendwann verstehen, was hinter diesem Unterschied steckt, könnte das große Fortschritte im Kampf gegen Alzheimer oder Parkinson bedeuten.

  • Nesseltiere als Modellorganismen: Die Forschung an Nesseltieren könnte aufdecken, wie entwicklungssteuernde Gene und Proteine in der Regeneration an- und wieder ausgeschaltet werden könnten. Dieses Wissen wäre vielleicht nutzbar, um die Regeneration von verletztem oder erkranktem Gewebe gezielt zu veranlassen - auch das des Menschen.

Die Evolution des menschlichen Gehirns: Einzigartige Merkmale

Die Evolution der menschlichen Linie ist untrennbar mit der Evolution des Gehirns verknüpft. Das Gehirnvolumen heute lebender Menschen ist etwa dreimal so groß wie das von Schimpansen.

  • Größenzunahme des Gehirns: Vor allem in den letzten zwei Millionen Jahren kam es zu einer dramatischen Größenzunahme des menschlichen Gehirns. Das Volumen allein kann aber die herausragenden Fähigkeiten des menschlichen Gehirns nicht hinreichend erklären.

  • Die Bedeutung der inneren Struktur: Für die kognitiven Fähigkeiten ist die innere Struktur des Gehirns wichtiger als dessen Größe. Diese Vernetzung des Gehirns wird in den ersten Lebensjahren angelegt.

  • Verlangsamung der Gehirnentwicklung: Im Vergleich zu Menschenaffen nimmt das Gehirn des Menschen im Laufe der Kindesentwicklung deutlich schneller an Volumen zu und wächst über einen etwas längeren Zeitraum. Relativ gesehen bedeutet das aber eine Verlangsamung der Gehirnentwicklung bei Menschen.

  • Unterschiede zu Neandertalern: Moderne Menschen unterscheiden sich von Neandertalern in einer frühen Phase der Gehirnentwicklung. Diese Entwicklungsunterschiede direkt nach der Geburt könnten Auswirkungen auf die neuronale und synaptische Organisation des Gehirns haben.

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