Die Vorstellung, den Balken zwischen den beiden Hirnhälften zu durchtrennen, mag zunächst beängstigend wirken. Doch dieses Verfahren, bekannt als Kallosotomie, kann für ausgewählte Patienten mit schwerer Epilepsie eine lebensverändernde Option darstellen. Dieser Artikel beleuchtet die Hintergründe, die Anwendung und die Ergebnisse dieses Verfahrens.
Ursprünge und Entwicklung der Kallosotomie
Die Geschichte der Kallosotomie reicht bis in die 1940er Jahre zurück. Damals erkannten Mediziner, dass sich bei bestimmten Formen von Epilepsie die elektrischen Entladungen von einer Hirnhälfte auf die andere ausbreiten. Der Balken (Corpus callosum), das Faserbündel, das die beiden Hirnhälften miteinander verbindet, schien dabei eine Schlüsselrolle zu spielen. Die Hypothese war, dass die Durchtrennung des Balkens diese Ausbreitung verhindern und somit die Anfälle reduzieren könnte.
Nach Vorstudien an Tieren führten Forscher erste Kallosotomien an Menschen durch. Diese frühen Versuche zeigten jedoch nicht den gewünschten Erfolg, und das Verfahren wurde zunächst wieder eingestellt. In den 1970er Jahren griffen die Neurochirurgen Philip Vogel und Joseph Bogen die Idee erneut auf. Sie vermuteten, dass die früheren Eingriffe möglicherweise nicht vollständig waren und der Balken nicht vollständig durchtrennt wurde. Mit verbesserter chirurgischer Technik konnten Vogel und Bogen bei ihren Patienten eine deutliche Reduktion der Anfallshäufigkeit erreichen.
Roger Sperry und die Split-Brain-Forschung
Ein Pionier auf dem Gebiet der Split-Brain-Forschung war der US-amerikanische Neurobiologe Roger Sperry. In den 1960er Jahren führte er als einer der ersten Kallosotomien bei Menschen mit schwerer Epilepsie durch, um die Ausbreitung von Anfällen von einer Hirnhälfte zur anderen zu verhindern. Sperry untersuchte jahrelang die Auswirkungen der Durchtrennung des Balkens auf die Patienten und gewann dabei wichtige Erkenntnisse über die Spezialisierung der Hirnhälften. Für seine Forschung erhielt er 1981 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.
Sperrys Arbeit zeigte, dass die beiden Hirnhälften unterschiedliche Funktionen haben. Die linke Hemisphäre ist in der Regel für analytisches und sprachliches Denken zuständig, während die rechte Hemisphäre stärker in räumliche Wahrnehmung und Musik involviert ist. Bei Split-Brain-Patienten, bei denen die Kommunikation zwischen den beiden Hirnhälften unterbrochen ist, können interessante Phänomene beobachtet werden. So kann es beispielsweise vorkommen, dass eine Hand eine Handlung ausführt, die der anderen Hand widerspricht.
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Anwendung der Kallosotomie heute
Auch heute noch wird die Kallosotomie bei ausgewählten Epilepsiepatienten angewendet. Laut Karl Rössler, Neurochirurg und Oberarzt an der Universitätsklinik Erlangen, wird dieser Eingriff in Deutschland schätzungsweise nur ein Dutzend Mal pro Jahr durchgeführt. Die Kallosotomie kann Patienten helfen, bei denen epileptische Anfälle nicht durch Medikamente kontrolliert werden können und bei denen die Anfälle von einer Hirnhälfte in die andere übergreifen. Durch die Durchtrennung des Balkens wird die Ausbreitung der Anfälle verhindert, was zu einer deutlichen Reduktion der Anfallshäufigkeit und -schwere führen kann.
Indikationen und prächirurgische Diagnostik
Die operative Therapie der Epilepsie wird in Betracht gezogen, wenn eine medikamentöse Therapie nicht ausreichend wirksam ist. Nicht alle Patienten mit Epilepsie kommen für eine Operation in Frage. Die Entscheidung hängt von der genauen Diagnose ab und der Abwägung von Nutzen und Risiko.
Vor einer Epilepsieoperation ist eine umfassende Diagnostik erforderlich, um den Bereich im Gehirn, von dem die Anfälle ausgehen, exakt zu lokalisieren und zu überprüfen, ob eine Operation sinnvoll ist. Zu den wichtigsten Untersuchungsmethoden gehören:
- Magnetresonanztomographie (MRT): Um strukturelle Veränderungen im Gehirn zu erkennen, die Anfälle auslösen können.
- Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT): Um Bereiche zu identifizieren, die für Funktionen wie Sprache oder Bewegung zuständig sind.
- Video-EEG-Monitoring: Um die Hirnaktivität während eines Anfalls zu analysieren und den Ursprungsort der Anfälle zu bestimmen.
- Neuropsychologische Untersuchung: Um ein detailliertes Bild der geistigen Fähigkeiten zu erhalten.
- Invasive Diagnostik: In manchen Fällen ist eine invasive Diagnostik erforderlich, bei der Elektroden operativ in das Gehirn eingebracht werden, um die epileptischen Regionen genauer zu erfassen.
Operationsverfahren in der Epilepsiechirurgie
Neben der Kallosotomie gibt es weitere Operationsverfahren, die in der Epilepsiechirurgie eingesetzt werden:
- Resektionsverfahren: Hierbei wird das epilepsieauslösende Hirngewebe entfernt. Zu den Resektionsverfahren gehören:
- Selektive Amygdala-Hippokampektomie: Gezielte Entfernung tiefer liegender Gehirnstrukturen (Seepferdchen und Mandelkern) im Schläfenlappen.
- 2/3-Temporallappenresektion: Entfernung des vorderen 2/3-Anteils des Schläfenlappens.
- Erweiterte Läsionektomie: Entfernung einer Läsion (z.B. eines Tumors) einschließlich des direkt benachbarten Hirngewebes, aus dem Anfälle entspringen können.
- Topektomie oder tailored Läsionektomie: Maßgeschneiderte Entfernung einer bestimmten erkrankten Hirnregion, in der durch die EEG-Ableitung der Anfallsursprung nachgewiesen wurde.
- Funktionelle Hemisphärektomie oder Hemisphärotomie: Funktionelle Abtrennung der anfallserzeugenden Hirnhälfte.
- Lobektomie: Entfernung eines Gehirnlappens bzw. eines Teils davon.
- Diskonnektionsverfahren: Hierbei wird der Ausbreitungsweg der Anfälle unterbrochen, ohne das Hirngewebe selbst zu entfernen. Zu den Diskonnektionsverfahren gehören:
- Kallosotomie: Durchtrennung des Corpus callosum.
- Subpiale Transektionen:Multiple subpiale Transektionen (MST, nicht resektive flächenhafte, vertikale Kortexdurchtrennungen in Abständen von wenigen Millimetern).
- Stimulationsverfahren: Hierbei wird durch die elektrische Reizung spezieller Hirnstrukturen die Erregbarkeit des Gehirns reduziert oder die Ausbreitung von Anfällen verhindert. Zu den Stimulationsverfahren gehören:
- Vagusnerv-Stimulation (VNS): Ein batteriebetriebener Taktgeber wird unterhalb des linken Schlüsselbeins unter die Haut operiert und mit dem linken Vagus-Nerv am Hals verbunden.
- Tiefe Hirnstimulation (THS): Elektroden werden stereotaktisch in tiefe Bereiche des Gehirns platziert und elektrisch stimuliert.
Ablauf einer Epilepsieoperation
Vor einer Epilepsieoperation ist eine intensive Vorbereitung wichtig. Die Patienten durchlaufen eine Phase der prächirurgischen Diagnostik, in der ein interdisziplinäres Team die oben beschriebenen Untersuchungen durchführt. Das Team führt dann alle Ergebnisse in einer ausführlichen Fallbesprechung zusammen und legt die bestmögliche Behandlungsstrategie fest.
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Den operativen Eingriff selbst führen erfahrene Neurochirurgen durch. Er erfolgt unter Anwendung modernster Technologien wie Neuronavigation, intraoperatives Neuromonitoring und die Darstellung von Nervenbahnen, um die Sicherheit während der Operation zu erhöhen.
Nach der Operation werden die Patienten engmaschig betreut. Direkt nach dem Eingriff werden die neurologischen Funktionen überprüft. In den folgenden Wochen werden neuropsychologische Tests wiederholt, um mögliche Veränderungen der kognitiven Fähigkeiten zu bewerten. Begleitend erfolgt eine Anpassung der medikamentösen Therapie, wobei die Dosis der Antiepileptika schrittweise reduziert wird, sofern die Anfallsfreiheit bestehen bleibt.
Ergebnisse der Epilepsiechirurgie
Die Epilepsiechirurgie kann bei vielen Patienten zu einer deutlichen Reduktion der Anfallshäufigkeit oder sogar zur Anfallsfreiheit führen. Eine Langzeitstudie des Universitätsklinikums Freiburg zeigte, dass selbst zwölf Jahre nach der Operation etwa zwei Drittel der Patienten mit fokaler kortikaler Dysplasie (FCD) anfallsfrei blieben. Besonders bei jungen Patienten zeigte sich eine sehr positive Entwicklung nach der Operation.
Von den Patienten, die nach der Operation anfallsfrei waren, konnten viele teilweise oder sogar ganz auf eine zusätzliche medikamentöse Epilepsie-Therapie verzichten.
Risiken und Komplikationen
Wie bei jedem chirurgischen Eingriff birgt auch die Epilepsiechirurgie Risiken und mögliche Komplikationen. Dazu gehören unter anderem:
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- Neurologische Defizite (z. B. Sprachstörungen, Lähmungen)
- Infektionen
- Blutungen
- Kognitive Beeinträchtigungen
Das Risiko von Komplikationen hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie z. B. der Art der Operation, der Lage des Anfallsfokus und dem allgemeinen Gesundheitszustand des Patienten. Moderne Operationstechniken und eine sorgfältige prächirurgische Diagnostik können dazu beitragen, das Risiko von Komplikationen zu minimieren.
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