Medizinische Leitlinien sind wissenschaftlich fundierte Empfehlungen, die Ärzten und Patienten als Entscheidungshilfe für die angemessene Behandlung spezifischer medizinischer Umstände dienen. Sie werden von Expertengruppen und medizinischen Fachgesellschaften verantwortet und zielen darauf ab, eine hohe Qualität und Konsistenz in der medizinischen Versorgung zu gewährleisten. Obwohl sie keine direkte rechtliche Bindungskraft haben, dienen sie als Orientierungshilfen und können indirekte rechtliche Auswirkungen haben, beispielsweise bei der Bestimmung der medizinischen Sorgfaltspflicht und Haftung.
Aktuelle Entwicklungen und Empfehlungen
S2k-Leitlinie "Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter" (2023)
Die Kommission Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie (DGfE) im September 2023 die aktuelle S2k-Leitlinie „Erster epileptischer Anfall und Epilepsien im Erwachsenenalter“ [1] publiziert. Diese Leitlinie stellt den aktuellen Stand zu Diagnostik und Therapie dar.
Herausgeber und Grundlage:
- Herausgeberin ist die Kommission Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Epileptologie (DGfE).
- In Deutschland liegt die Federführung in der Leitlinienentwicklung bei der AWMF.
- Das „AWMF-Regelwerk Leitlinien“ bezieht sich auf die Erstellung und Publikation aktueller und hochwertiger Leitlinien der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften im AWMF-Leitlinienregister.
- Grundlage sind international akzeptierte Qualitätskriterien und methodische Standards für Leitlinien, die in AGREE II (Appraisal of Guidelines for Research & Evaluation II) festgelegt sind [5].
Klassifikation:
- Nach der Stufenklassifikation der AWMF werden Leitlinien in die Klassen S1-Handlungsempfehlung sowie S2k‑, S2e- und S3-Leitlinie eingeteilt.
- Das „S“ steht für das Ausmaß der angewandten Systematik im Entwicklungsprozess einer Leitlinie.
- Jede Klasse steht für ein bestimmtes methodisches Konzept, das für die Anwendenden nachvollziehbar dargelegt werden muss [3]. Die Wahl der Klasse richtet sich danach, wie viel Aufwand zweckmäßig und umsetzbar ist, abhängig von der vorhandenen Evidenz.
Merkmale der S2k-Leitlinie:
- Repräsentative Gruppe von Autor*innen
- Beteiligung anderer Fachgesellschaften und von Patient*innen
- Graduierung der Stärke der Empfehlungen
- Abstimmung über die Empfehlungen im Rahmen einer strukturierten Konsensusfindung (z. B. Delphi-Verfahren)
Ziele von Leitlinien:
- Verbesserung der medizinischen Versorgung durch Vermittlung von aktuellem Wissen, das vorzugsweise systematisch recherchiert und kritisch bewertet wird [3].
- Dienen dem Patientenwohl, das der Deutsche Ethikrat zum ethischen Maßstab und übergeordneten Versorgungsziel erklärt hat.
Adressaten:
- Neurologinnen, Nervenärzte/-ärztinnen, Neurochirurginnen, Neuropädiaterinnen, Neuroradiologinnen, Psychiaterinnen sowie Intensiv- und Notfallfallmedizinerinnen.
Erstellungsprozess:
- Insgesamt waren 66 Personen aus verschiedenen Berufsgruppen beteiligt, die in die Behandlung und Beratung von Menschen mit erstem Anfall oder mit Epilepsie involviert sind, z. B. Neurologinnen, Neurochirurginnen, aber auch Psychologinnen, Sozialarbeiterinnen (s. Tab. 1 im Leitlinienreport [6]).
- Nach Fertigstellung wurden Empfehlungen an weitere Fachgesellschaften zur Durchsicht und Kommentierung vorgelegt, darunter die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie - Herz- und Kreislaufforschung (DGK) und die Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG).
- Berücksichtigung der Ansichten und Präferenzen der Betroffenen durch direkte Beteiligung [3]. Nach Rücksprache mit der Deutschen Epilepsievereinigung e. V.
Arbeitsgruppen:
- Management erster epileptischer Anfall (Leitung: Prof. Dr. med. Susanne Knake, Prof. Dr. med. Thomas W. May)
- Pharmakotherapie (Leitung: Prof. Dr. med. Martin Holtkamp, Prof. Dr. med. Yvonne Weber)
- Epilepsiechirurgie (Leitung: Prof. Dr. med. Christian G. Bien, Prof. Dr. med. Jürgen Rémi)
- Komplementäre und supportive Therapieverfahren (Leitung: Dr. med. Rosa Michaelis, Prof. Dr. med. Rainer Surges)
Methoden:
- Sichtung der aktuellen Datenlage zu relevanten Fragestellungen durch jeweils mindestens 2 Mitglieder, Erstellung von Vorlagen (Hintergrundtexte, Empfehlungen), die in der Gruppe und mit den Koordinatoren diskutiert und ggf. überarbeitet wurden.
- Bei einer S2k-Leitlinie sind keine systematische Literaturrecherche und keine systematische Bewertung der Studienevidenz notwendig, aber eine Literaturrecherche und der Bezug zur Evidenz sind im Hinblick auf eine Begründung der Empfehlungen wünschenswert.
Konsensusfindung:
- Zwei strukturierte Konsensuskonferenzen mit Moderation (Online- und Präsenz-Konferenz).
- Neun Online-Abstimmungen zu den weiteren Empfehlungen im Delphi-Verfahren.
- Die Stärke der Empfehlungen wird nach AWMF-Regeln in 3 Empfehlungsgrade unterteilt (Tab. 2).
- Die Konsensstärke wurde klassifiziert (Tab. 3), wobei die Prozentzahl der Zustimmungen ergänzt wurde.
- Bei fehlendem Konsens (< 75 % Zustimmung) wurde die Empfehlung überarbeitet und wiederholt abgestimmt.
Qualitätssicherung:
- Die Leitlinie wurde von 2 (externen) Reviewern im Auftrag des DGN-Leitlinienbüros begutachtet.
- Die AWMF hat die Leitlinie und den Leitlinienreport unter formalen Gesichtspunkten kritisch durchgeschaut.
- Die Autoren haben die Arbeit unentgeltlich geleistet, ohne finanzielle Unterstützung durch die pharmazeutische Industrie oder andere Unternehmen.
Interessenkonflikte:
- Detaillierte Angaben zu potenziellen Interessenkonflikten sind im Leitlinienreport [6] veröffentlicht. Die Bewertung erfolgte nach den Richtlinien der DGN (Stand Februar 2018).
Umsetzung und Evaluation:
- Eine Überprüfung der Umsetzung der Leitlinien - zumindest innerhalb der Fachgesellschaften DGfE, DGN, ÖGN und SGN - ist anzustreben (z. B. durch Erstellung von Schulungsmaterialien).
- Eine systematische Überprüfung der Adhärenz gegenüber Empfehlungen dieser S2k-Leitlinie ist gegenwärtig nicht geplant.
Aktualisierung der S2k-Leitlinie "Status epilepticus im Erwachsenenalter"
Experten der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) haben die S2k-Leitlinie „Status epilepticus im Erwachsenenalter“ aktualisiert. Die Leitlinie richtet sich an Ärzte aller Fachrichtungen, die in unterschiedlichen klinischen Kontexten erwachsene Patienten mit Status epilepticus versorgen.
Definition und Therapie:
- Jeder epileptische Anfall, der länger als fünf Minuten anhält, soll laut Leitlinie als Status epilepticus bezeichnet und behandelt werden.
- Als solcher gelten zudem zwei oder mehr aufeinanderfolgende Anfälle über einen Zeitraum von mehr als fünf Minuten ohne Wiedererlangen des neurologischen Ausgangsstatus.
Diagnostik:
- Im Verlauf eines Status epilepticus soll bei bisher unklarer Ätiologie eine Magnetresonanztomographie erfolgen.
SUDEP-Aufklärung
Die DGN empfiehlt in den Praxisempfehlungen von 2021 die frühzeitige und vollständige SUDEP-Aufklärung für alle Epilepsiepatienten und deren Angehörige. Risikofaktoren sind fokale, bilaterale oder nächtliche tonisch-klonische Anfälle. Ebenfalls 2021 empfiehlt die Kommission Patientensicherheit der DGfE Ärzten, alle Patienten und Angehörigen umfassend und frühzeitig über SUDEP und zugehörige Risikofaktoren aufzuklären.
Internationale Leitlinien zur SUDEP-Aufklärung:
- Im englischsprachigen Raum gibt es umfassende und sehr konkrete Empfehlungen, alle Patienten mit Epilepsien bzw. deren Eltern umfassend über SUDEP und Risikovorsorge aufzuklären.
- Die NICE-Leitlinien (National Institute for Health and Care Excellence), zuletzt aktualisiert im Februar 2020, geben ausführliche Empfehlungen für die Diagnose und das Management von Epilepsie, einschließlich detaillierter SUDEP-Aufklärung.
- Die schottischen SIGN-Leitlinien (Scottish Intercollegiate Guidelines Network) wurden im Mai 2015 für Erwachsene (SIGN 143) und im Mai 2021 für Kinder/Jugendliche aktualisiert und beinhalten ausführliche Abschnitte zur Epilepsie-Mortalität und SUDEP.
- In Kanada gibt es Leitlinien der Canadian Epilepsy Alliance.
Weitere Leitlinien und Initiativen
- Eine Leitlinie zur Therapie von Epilepsien bei Kindern und Jugendlichen ist in Vorbereitung (Reg.-Nr. 022-024, geplante Fertigstellung: 01.12.2024). Beteiligt sind die Fachgesellschaften GNP, DGfE, DGKJ, DGN, Dravet-Syndrom e.V., Tuberöse Sklerose Deutschland e.V.
- Die neuropädiatrische Leitlinie zu den diagnostischen Prinzipien bei der Behandlung von Epilepsien bei Kindern und Jugendlichen der GNP (Gesellschaft für Neuropädiatrie) ist bereits seit Dezember 2022 ungültig (AWMF-Reg-Nr. 022/004).
- Die Leitlinie zur Definition, Diagnostik und Therapie von epileptischen Anfällen und Epilepsien [1], veröffentlicht 2017, bietet weiterhin wertvolle Informationen und Empfehlungen.
Lesen Sie auch: Epilepsie im Kindesalter: Die offizielle Leitlinie erklärt
Lesen Sie auch: Kann ein Anfall tödlich sein?
Lesen Sie auch: Cortison-Therapie bei Epilepsie im Detail