Epilepsie ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen, von der in Deutschland schätzungsweise 400.000 bis 800.000 Menschen betroffen sind. Sie kann in jedem Lebensalter beginnen, und die Diagnose wird gestellt, wenn mindestens zwei epileptische Anfälle aufgetreten sind oder nach einem ersten unprovozierten Anfall ein deutlich erhöhtes Risiko von mehr als 60 % für weitere Anfälle besteht. Die Forschung auf diesem Gebiet ist äußerst spannend, da sie sich mit dem menschlichen Gehirn befasst, dem Ort unseres Bewusstseins, unseres Denkens und Fühlens. Trotz der Vervielfachung des Wissens über Epilepsien, deren Erkennung, Untersuchung und Behandlung in den letzten Jahren gibt es noch zahlreiche unerforschte Gebiete.
Autoimmun-verursachte Epilepsie: Neue Therapieansätze und Hoffnung auf Heilung
Das Krankenhaus Mara in Bielefeld-Bethel, die größte Einrichtung in Deutschland für die Behandlung von Epilepsien, hat sich seit 1932 der Versorgung von Patienten mit Epilepsie und Anfallsleiden verschrieben. Jährlich werden rund 5.000 Patienten aus ganz Europa behandelt, die auf die Expertise in Bethel vertrauen. Ein besonderer Forschungsschwerpunkt liegt auf autoimmun verursachten Anfallsleiden. Bei einer Autoimmun-Enzephalitis greift das Immunsystem das Gehirn an, was zu einer Entzündung führt, die sich durch epileptische Anfälle und Gedächtnisstörungen äußern kann.
Bereits vor etwa zehn Jahren wurde entdeckt, dass viele Patienten durch Immunmedikamente wie Kortison geheilt werden können. Im Krankenhaus Mara fiel jedoch auf, dass nicht alle Patienten auf diese Therapie ansprachen und einige eine chronische Epilepsie entwickelten. Neue Forschungsergebnisse ermöglichen es nun, zwischen heilbaren und chronischen Verläufen zu differenzieren und zielgerichtete Therapien einzuleiten. Bei Patienten mit chronischem Verlauf wurden häufig GAD-Antikörper diagnostiziert, die spezielle Strukturen im Gehirn angreifen. Eine aktuelle Studie konnte diese Form der Epilepsie als eigenständiges Syndrom definieren. Ein zentrales Ergebnis ist, dass diese Patienten trotz der Anfälle ein vergleichsweise normales Leben führen können, ihrem Beruf nachgehen und sich ihr kognitiver Zustand nicht verschlechtert.
Die Studie umfasste Daten von über 80 Patienten, die von 2011 bis 2022 gesammelt wurden. Sie wurde in der Fachzeitschrift „Neurology: Neuroimmunology & Neuroinflammation“ veröffentlicht. Eine weitere Studie unter Federführung Bethels aus dem Jahr 2024, an der 14 Zentren und Kliniken weltweit beteiligt waren, ergab, dass Patienten mit heilbarer Autoimmun-Epilepsie möglicherweise bereits nach drei statt zwölf anfallsfreien Monaten wieder Autofahren dürfen.
Epilepsie im Kindesalter: Innovative Therapieansätze und Früherkennung
Epilepsien im Kindesalter sind mit etwa 60.000 betroffenen Kindern und Jugendlichen in Deutschland häufig. Während die meisten pädiatrischen Epilepsien gut behandelt werden können oder spontan sistieren, können schwere Verlaufsformen die Hirnentwicklung erheblich beeinträchtigen. Aktuelle Behandlungsmöglichkeiten beschränken sich hauptsächlich auf anfallssupprimierende Medikamente, die jedoch die kognitive Entwicklung nicht direkt beeinflussen können. Daher ist die Entwicklung von Therapieansätzen, die über die reine Anfallskontrolle hinaus auch die damit einhergehende Enzephalopathie behandeln, essenziell.
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Epilepsien im Kindesalter treten in allen Altersgruppen auf, mit einem Häufigkeitsgipfel im ersten Lebensjahr. Die Ausprägungen variieren stark, von selbstlimitierenden Epilepsien mit guter Prognose bis hin zu schweren epileptischen Enzephalopathien mit therapierefraktären Anfällen und ungünstiger kognitiver Entwicklung. Kinder mit Epilepsien benötigen im schulischen Alltag häufiger spezielle Unterstützung und zusätzliche Förderhilfen als Gleichaltrige. Die frühe Erkennung und Kontrolle von Anfällen sind entscheidend, um negative Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung zu minimieren.
Neben der Auswahl geeigneter anfallssuppressiver Medikamente (ASM) können auch nicht-pharmakologische Ansätze wie Ernährungsinterventionen oder chirurgische Eingriffe Teil der Behandlung sein. Vielversprechende gentherapeutische Ansätze, wie die minimalinvasive „Drug on Demand“-Gentherapie von fokalen Epilepsien, machen Hoffnung auf neue Behandlungsmöglichkeiten. Hierbei wird ein Gen für das Neuropeptid Dynorphin mittels Genvektor gezielt in Neurone der betroffenen Hirnregion eingeschleust, um die langfristige Unterdrückung von Anfällen zu erreichen. Ein weiterer innovativer gentherapeutischer Ansatz ist die Therapie mit Antisense-Oligonukleotiden (ASO), die gezielt an bestimmte RNA-Abschnitte im Zellkern binden und die Bildung schädlicher Proteine verhindern können.
Auch die Früherkennung und präventive Behandlung von Epilepsien gewinnt zunehmend an Bedeutung. Forschende setzen KI-basierte Deep-Learning-Methoden ein, um EEGs besser zu verstehen und die Anfallsursprungszone genauer zu lokalisieren. Mobile und smarte Neurosensorsysteme sollen epileptische Anfälle im Alltag erkennen und dokumentieren. Erste Patienten-Studien deuten darauf hin, dass Angiotensin-Rezeptorblocker das Risiko epileptischer Anfälle reduzieren können. Bei genetisch bedingten Epilepsien wie der Tuberösen Sklerose (TSC) werden präventive Ansätze erforscht, die an der genetischen Ursache angreifen und so das Fortschreiten der Erkrankung verhindern.
Die Zukunft der pädiatrischen Epilepsiebehandlung liegt in der Integration verschiedener Therapieansätze, von konventionellen ASM über nicht-pharmakologische Interventionen bis hin zu genbasierten Therapien. Ein multidisziplinärer Ansatz, der neurologische, psychologische und soziale Aspekte berücksichtigt, wird entscheidend sein, um die Lebensqualität von Kindern mit Epilepsie nachhaltig zu verbessern.
Gentherapie bei fokalen Epilepsien: Ein neuer Ansatz zur Anfallskontrolle
Bei fokalen Epilepsien entstehen epileptische Anfälle immer wieder an derselben Stelle im Gehirn. Bei der klinisch häufigsten Form, der Schläfenlappenepilepsie, liegt der Fokus oft im Hippocampus, wo Lernen, Gedächtnis und Emotionskontrolle gesteuert werden. Ein Drittel der Patienten spricht bereits zu Beginn der Erkrankung nicht auf die verfügbaren Medikamentenklassen an, und mit zunehmender Krankheitsdauer versagen die Medikamente immer häufiger.
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EpiBlok Therapeutics GmbH entwickelt einen Genvektor, der epileptische Anfälle am Ort der Entstehung verhindern kann. Die schonende Einmaltherapie wird nur zum Zeitpunkt der Anfallsentstehung aktiviert. Es handelt sich um einen AAV-basierten Genvektor, der schützende Neuropeptide fokal produziert und speichert. Diese werden nur bei starker Erregung freigesetzt, wie zu Beginn eines Anfalls.
Die Vision von EpiBlok ist es, die heute üblichen Therapien von fokalen Epilepsien mit antiepileptischen Medikamenten mit starken Nebenwirkungen oder mittels invasiver Operationen in Zukunft durch eine lokale, minimal-invasive und „on demand“ erfolgende Therapie abzulösen.
Seltene genetische Ursachen der Epilepsie: Neue Erkenntnisse und Diagnosemöglichkeiten
Ein interdisziplinäres Team unter der Leitung von Prof. Dr. Sebahattin Cırak am Universitätsklinikum Ulm hat eine neu beschriebene, genetisch definierte Erkrankung identifiziert, die mit schwerer Muskelschwäche, Gelenkversteifungen (Arthrogryposis) und früh einsetzender Epilepsie einhergeht. Ursache für die Erkrankung sind zwei vererbte Veränderungen im CRELD1-Gen.
Die Untersuchungen zeigen, dass CRELD1 beim Zusammenbau von Acetylcholinrezeptoren (AChR) - den „Signal-Schaltern“ an Nerven- und Muskelzellen - eine zentrale Rolle spielt. Wenn CRELD1 gestört ist, gelangen weniger funktionsfähige „Signal-Schalter“ an die Kontaktstellen zwischen Nerven und Muskeln, was die schwere Muskelschwäche und vermutlich auch die frühe Anfallsneigung erklärt.
Die neuen Erkenntnisse haben konkrete Folgen für die medizinische Praxis: Bei Neugeborenen mit Muskelschwäche, Arthrogryposis und früh einsetzender Epilepsie sollte CRELD1 gezielt in der genetischen Diagnostik berücksichtigt werden. Gezielte Tests können die Diagnose beschleunigen, die Risikobewertung für Familien verbessern und den Weg zu gezielter Beratung ebnen. Auch für die Forschung bietet das Wissen über den zugrundeliegenden Mechanismus Möglichkeiten für künftige Therapieansätze, beispielsweise mit dem Wirkstoff 3,4-Aminopyridin.
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Neue Stimulationsmethode bei fokalen Epilepsieanfällen: Vielversprechende Ergebnisse im Tiermodell
Wissenschaftler der Universität Freiburg haben einen wichtigen Schritt hin zu einer neuen Behandlungsart von Menschen mit mesialer Temporallappenepilepsie (MTLE) erzielt. Die Studie zeigt im Tiermodell vielversprechende Ergebnisse einer neuartigen Methode, die als „on-demand niedrigfrequente Stimulation“ (LFS) bezeichnet wird. Die Hirnstimulation war ebenso wirksam wie früher eingesetzte Verfahren, hatte aber deutlich weniger Nebenwirkungen.
Die Forschergruppe entwickelte eine Methode, bei der die niederfrequente Stimulation erst dann aktiviert wird, wenn bestimmte Aktivitätsmuster im Gehirn erkannt werden. Dies reduziert die Belastung durch ständige Stimulation. In einem Mausmodell, das die Schlüsselmerkmale der MTLE nachbildet, konnte die Stimulationszeit halbiert und trotzdem genauso effektiv Anfälle verhindert werden. Gleichzeitig waren die Nebenwirkungen deutlich geringer.
Die Anwendung niederfrequenter Stimulation konnte nicht nur die negativen Auswirkungen von epileptischen Anfällen auf Verhalten und Gedächtnisleistungen ausgleichen, sondern sogar Defizite im Langzeitgedächtnis verringern. Diese Forschungsergebnisse bieten neue Einblicke in die Behandlungsmöglichkeiten von MTLE und könnten den Weg für weniger invasive und effizientere Behandlungsmethoden ebnen.
Entzündliche Prozesse im Gehirn: Ein neuer Ansatzpunkt für die Behandlung chronischer Epilepsie
Forscher des Universitätsklinikums Düsseldorf haben herausgefunden, wie spezielle Immunzellen im Gehirn die Entstehung der chronischen Epilepsie verstärken. Sie konnten zeigen, dass direkt nach einem epileptischen Anfall die Mikrogliazellen im Maus-Gehirn verstärkt das Enzym TAK1 (TGF beta activated kinase 1) produzieren, das eine wesentliche Rolle bei entzündlichen Prozessen im Gehirn spielt. Wurde TAK1 in den Mikrogliazellen spezifisch ausgeschaltet, reduzierte sich die Schwere der epileptischen Anfälle deutlich.
Bei neugeborenen Mäusen gelang es den Wissenschaftlern mit Hilfe des Wirkstoffs „Bumetanid“ die Auswirkungen der Erkrankung so zu begrenzen, dass sich die Tiere weitgehend normal entwickelten. Langfristig könnten diese Forschungsergebnisse den Weg für neue Behandlungsoptionen beim Menschen bereiten.
Präventive Behandlung bei Neugeborenen mit Gendefekt: Hoffnung auf Verhinderung von Epilepsie
Forscher des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und der Universität zu Köln haben herausgefunden, dass eine frühzeitige Behandlung von Neugeborenen mit einem bestimmten Gendefekt, der eine Epilepsie auslösen kann, die Entwicklung der Erkrankung verhindern kann. Die Wissenschaftler behandelten Mäuse mit einer Mutation des Kv7-Kanals während der ersten beiden Lebenswochen mit „Bumetanid“, einem Wirkstoff, der Nervenzellen helfen kann, ihr Ionengleichgewicht zu bewahren.
Die vorübergehende Behandlung normalisierte die Hirnaktivität der Mäuse und weitgehend auch deren Verhalten. Im Erwachsenenalter blieben epileptische Anfälle aus, obwohl der Gendefekt weiterhin vorlag. Die Ergebnisse bekräftigen einen strategischen Ansatz, die kritische Phase der Hirnentwicklung zu identifizieren, in der eine Behandlung den maximalen Erfolg bringt.
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