Einführung
Epilepsie ist eine komplexe neurologische Erkrankung, die durch wiederholte Anfälle gekennzeichnet ist. Während die Forschung traditionell auf organische Ursachen wie Hirnverletzungen, genetische Faktoren und strukturelle Anomalien des Gehirns fokussiert, rückt zunehmend auch die Bedeutung psychischer und psychosozialer Faktoren in den Blickpunkt. Dieser Artikel beleuchtet die psychosomatischen Aspekte der Epilepsie, indem er persönliche Erfahrungen, wissenschaftliche Erkenntnisse und therapeutische Ansätze miteinander verbindet. Ziel ist es, ein umfassendes Verständnis der Erkrankung zu vermitteln, das sowohl biologische als auch psychologische Dimensionen berücksichtigt.
Das individuelle Erleben von Anfällen
Die Erfahrung eines epileptischen Anfalls ist zutiefst individuell. Eine junge Frau schildert, wie die Epilepsie ihr Leben beeinflusst, welche Auslöser sie bei sich selbst identifiziert hat und wie sie versucht, damit umzugehen. Ihre Schilderung macht deutlich, dass es nicht nur um die medizinische Diagnose geht, sondern auch um die persönliche Auseinandersetzung mit der Krankheit.
Der Anfall als "letzter Ausweg der Energie"?
Die Betroffene beschreibt die Hilflosigkeit ihrer Mutter angesichts ihrer Anfälle. Die leeren Blicke, die schlaffe Muskulatur und die fehlende Reaktion auf Ansprache sind beängstigend für Angehörige. Obwohl die Ärzte keine organischen Ursachen für ihre Epilepsie finden konnten, begann sie, selbst nach möglichen Gründen zu suchen. Dabei stieß sie auf das Buch "Krankheit als Sprache der Seele" von Rüdiger Dahlke.
Dahlke vergleicht einen epileptischen Anfall mit einem Erdbeben, einer Analogie, die zum Nachdenken anregt. Erdbeben entstehen durch Spannungen in der Erdkruste, die sich plötzlich entladen. Übertragen auf den Menschen könnte ein Anfall eine ähnliche Funktion haben: eine Entladung aufgestauter Spannungen.
Stress als Auslöser?
Die Betroffene analysierte ihre Anfälle und stellte fest, dass sie häufig in Stresssituationen auftreten, insbesondere kurz vor Prüfungen, während eines Praktikums oder vor dem Abschluss wichtiger Projekte. Sie beschreibt sich selbst als perfektionistisch, ordnungsliebend und tendenziell dazu neigend, ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten vermeintlich wichtigerer Ziele zurückzustellen.
Lesen Sie auch: Kann ein Anfall tödlich sein?
Diese Beobachtungen führten sie zu der Hypothese, dass ihre Anfälle eine Art "Kampf" ihres Körpers gegen die Unterdrückung ihrer Bedürfnisse sind. Ihr bewusster Wille, der auf Leistung und Erfolg ausgerichtet ist, steht im Konflikt mit ihrem Unterbewusstsein, das die vernachlässigten Bedürfnisse vertritt. Die daraus resultierende Spannung entlädt sich dann in einem epileptischen Anfall, der sie zur Ruhe zwingt.
Konsequenzen für die Therapie
Aus dieser Sichtweise zieht die Betroffene die Konsequenz, dass sie Stress vermeiden und lernen muss, ihren Bedürfnissen mehr Raum zu geben. Entspannungstechniken wie autogenes Training, Yoga und progressive Muskelentspannung könnten ihr helfen, Spannungen abzubauen. Ebenso könnten starke Gefühlserlebnisse wie Rockkonzerte, sexuelle Höhepunkte oder sportliche Betätigung als eine Art "Therapie" dienen, um Spannungen abzubauen.
Sie erkennt, dass sie an ihrem Wertsystem arbeiten und akzeptieren muss, dass Entspannung und Sport genauso wichtig sind wie Erfolg und Leistung. Die Verbesserung ihrer Selbstwahrnehmung ist ein wichtiger Schritt, um ein Gleichgewicht zwischen ihren Bedürfnissen und ihren Zielen zu finden.
Psychosomatische Aspekte der Epilepsie
Die persönliche Erfahrung der jungen Frau wirft wichtige Fragen nach den psychosomatischen Aspekten der Epilepsie auf. Anfälle sind oft rätselhaft, sowohl für die Betroffenen als auch für die Behandelnden. Sie treten plötzlich auf und scheinen einen Ausdruckscharakter zu haben, der sich jedoch schwer fassen lässt.
Die Bedeutung der Perspektive
Die Art und Weise, wie man die Frage nach einer psychosomatischen Dimension der Epilepsie beantwortet, hat erhebliche Auswirkungen auf die Behandlung und die Gesprächsführung mit den Patienten. Versteht man Anfälle als zufällige Ereignisse, die von einem unbekannten Generator erzeugt werden, konzentriert man sich ausschließlich auf elektroenzephalographische und bildgebende Befunde. Biografische, psychodynamische und interaktionelle Aspekte werden dann als irrelevant betrachtet.
Lesen Sie auch: Cortison-Therapie bei Epilepsie im Detail
Eine psychosomatische Perspektive hingegen berücksichtigt biologische, psychologische und soziale Faktoren bei der Entstehung, Auslösung und dem Verlauf von körperlichen Erkrankungen. Sie versucht, den cartesianischen Dualismus von Körper und Seele zu überwinden und psychische und somatische Lebensaspekte in einer Gesamtschau zu betrachten.
Die "reziproke Verborgenheit" des Anfalls
Ein wichtiger Aspekt der Epilepsie ist die "reziproke Verborgenheit" des Anfalls. Der Betroffene weiß nicht, wie er während des Anfalls auf andere wirkt, und der Beobachter kann nicht nachvollziehen, was der Betroffene erlebt. Dieses Grundverhältnis wird in der Epileptologie oft nicht ausreichend thematisiert.
Psychodynamische Aspekte
Psychodynamische Ansätze konzentrieren sich auf innere Konflikte, Abwehrmechanismen und strukturelle Merkmale der Persönlichkeit. Obwohl es keine systematische Erfassung spezifischer Psychodynamiken bei verschiedenen Anfallserkrankungen gibt, können psychodynamische Herangehensweisen den Wahrnehmungs- und Denkraum im Behandlungsalltag erweitern.
Abwehrmechanismen sind Strategien, mit denen Menschen schwer integrierbare Erlebnisse ausblenden. Beispiele hierfür sind die Projektion (Zuschreibung eigener, unakzeptabler Gefühle auf andere), die Rationalisierung (das Erfinden von Gründen zur Rechtfertigung von Verhalten) und die Verneinung (das Thematisieren eines Sachverhalts in der Form, dass er als nicht gegeben dargestellt wird).
Ein Beispiel für eine projektive Identifikation ist, wenn ein Patient seine Anfälle nur sehr vage und stockend beschreiben kann. Der Zuhörer mag dadurch Ungeduld empfinden, was aber auch als Ausdruck der Unzugänglichkeit der Symptomatik für den Patienten selbst verstanden werden kann.
Lesen Sie auch: Ein umfassender Leitfaden zur idiopathischen generalisierten Epilepsie
Konflikte und Struktur
In der psychodynamischen Charakterologie wird die Struktur einer Person durch beständige Aspekte von Identität, Integrationsgrad, Selbststeuerung, Reflexionsfähigkeit, Abgrenzungsfähigkeit und Empathie bestimmt. Eine labile Struktur kann sich beispielsweise in einer Borderline-Störung äußern, die durch Stimmungsschwankungen, impulsives Verhalten und instabile Beziehungen gekennzeichnet ist.
Auch wenn eine Ich-Struktur-Störung vorliegt, kann es hilfreich sein, sie zu erkennen und in die Behandlung einzubeziehen. So kann beispielsweise die Tendenz einer narzisstischen Persönlichkeit zur Aufwertung der eigenen Person bei gleichzeitiger Abwertung Anderer thematisiert werden.
Fallbeispiel: Psychosomatische Epileptologie in der Behandlung
Ein Fallbeispiel verdeutlicht, wie eine psychosomatische Herangehensweise in der Behandlung von Epilepsiepatienten aussehen kann. Eine 36-jährige Patientin mit linksseitiger Hippocampussklerose und vergrößerter Amygdala stellte sich mit dem Wunsch nach einer Psychotherapie vor. Sie hatte eine Vorgeschichte von Substanzmissbrauch und berichtete von Angstgefühlen, die sie bereits in ihrer Kindheit erlebt hatte.
In der Behandlung wurden sowohl neurologische Aspekte als auch psychotherapeutische Aspekte berücksichtigt. Es wurde versucht, die Entstehung der Angst der Patientin aus ihrer Lebensgeschichte heraus zu verstehen und gleichzeitig deutlich zu machen, dass diese Angst auch ein unmittelbares Symptom ihrer Epilepsie ist. Ferner wurde die Strenge und die Scham der Patientin sich selbst gegenüber durch Reflexion des Abwehrmechanismus der Wendung gegen das Selbst abgemildert.
Das Ergebnis war eine Abmilderung der Anfälle nach Schwere, Frequenz und postiktaler Psychotizität. Nach drei Jahren wurde die Patientin anfallsfrei. Der Sohn der Patientin, der unter den postiktalen Psychosen seiner Mutter gelitten hatte, benötigte ebenfalls keine Begleitperson mehr im Schulunterricht.
Psychosomatische Epileptologie als umfassender Ansatz
Psychosomatische Epileptologie kann als eine Art der Epileptologie bezeichnet werden, die den neurologischen Kern der Erkrankung um professionelle psychotherapeutische Sichtweisen ergänzt. Sie gewinnt hieraus zusätzliche Behandlungsmöglichkeiten und ermöglicht die Entwicklung eines umfassenden biopsychosozialen Krankheitsverständnisses.
Im Sinne der Gestaltkreistheorie hilft eine psychotherapeutische Wahrnehmungseinstellung, die wechselseitige Selbstverborgenheit von Patient und Arzt zu überwinden.
Neuere Forschungsergebnisse
Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass auch Veränderungen der Anpassungsfähigkeit (Plastizität) von Nervenzellen durch molekulare und zelluläre Mechanismen epileptische Anfälle auslösen können.
Der Glycinrezeptor
Prof. Jochen Meier vom Max-Delbrück-Centrum (MDC) untersucht den Glycinrezeptor, einen hemmenden Neurotransmitter-Rezeptor, der bei Patienten mit therapieresistenter Temporallappenepilepsie molekular verändert ist.
Gene und Umweltfaktoren
Epilepsie wird nicht ausschließlich vererbt. Verschiedene Umweltfaktoren, einschließlich chronischem Stress, können epileptische Anfälle auslösen. Dabei können molekulare und zelluläre Mechanismen die Anpassungsfähigkeit von Nervenzellen verändern, so dass das betroffene Gewebe nicht mehr in der Lage ist, den Normalzustand wieder herzustellen.
RNA-Editierung
Die molekulare Veränderung des Glycinrezeptors im geschädigten Gewebe von Epilepsiepatienten kommt durch einen Prozess zustande, den die Forschung als „RNA-Editierung“ bezeichnet. Dabei werden beim Umschreiben der in den Genen enthaltenen DNA-Textbausteine in RNA einzelne Buchstaben durch andere ersetzt.
Ein neues Tiermodell
Um herauszufinden, was dieser veränderte Glycinrezeptor an welchen Nervenzellen bewirkt, haben Forscher ein neues Tiermodell der Epilepsie entwickelt. Sie fanden heraus, dass der durch RNA-Editierung veränderte Rezeptor an den Präsynapsen gebildet wird und die Funktion der ausgewählten Nervenzelltypen verstärkt, wodurch das ganze System der neuronalen Kommunikation aus dem Gleichgewicht gerät.
Dieses Tiermodell legt nahe, dass dasselbe Molekül zu den vielseitigen Symptomen von Epilepsiepatienten beitragen kann, je nachdem in welchem Nervenzelltyp es vorkommt. Die Forscher hoffen, dass sie durch die Aufdeckung dieses Krankheitsmechanismus neue Wege für die Entwicklung gezielter Therapien für Epilepsiepatienten eröffnen können.
Begleiterkrankungen und Komorbiditäten
Epilepsien zählen zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen. Häufig treten in diesem Zusammenhang auch Angsterkrankungen und Depressionen auf. Psychosen stellen die durch Anfälle getriggerten postiktalen Psychosen dar.
Verhalten bei einem epileptischen Anfall
Wenn man Zeuge eines epileptischen Anfalls wird, ist es wichtig, ruhig und besonnen zu bleiben. Vor allem sollte man überlegen, wie man die Person vor Verletzungen schützt.
Leichte epileptische Anfälle
Bei kurzen Absencen oder Muskelzuckungen besteht keine unmittelbare Gefahr. Danach können sich die Betroffenen unsicher fühlen und Unterstützung benötigen.
Anfälle mit eingeschränktem Bewusstsein
Wenn Menschen mit einem epileptischen Anfall verwirrt wirken, ist es wichtig, sie vor Gefahren zu schützen. Gehen Sie dabei mit der Person ruhig um und fassen Sie sie nicht hart an. Versuchen Sie dem oder der Betroffenen Halt und Nähe zu vermitteln.
Große generalisierte epileptische Anfälle
Bei einem großen generalisierten Anfall verkrampft der ganze Körper und die Person verliert das Bewusstsein. In diesen Fällen sollten Sie den Notruf 112 rufen und professionelle Hilfe anfordern. Sorgen Sie für Sicherheit, indem Sie z. B. gefährliche Gegenstände beiseite räumen. Polstern Sie den Kopf des Betroffenen ab und lockern Sie enge Kleidung am Hals.
Was Sie in keinem Fall tun sollten
Die Betroffene festhalten oder zu Boden drücken und der betroffenen Person etwas in den Mund schieben.
Ursachen und Risikofaktoren
Die Ursachen der Epilepsie sind noch nicht vollständig geklärt. In vielen Fällen ist eine Form der Epilepsie schon früher in der Familie aufgetreten, was für eine erbliche Veranlagung spricht. In einigen Fällen kann man Veränderungen im Erbmaterial (Genmutation) erkennen. Manche Anfälle können sich in Folge von Unfällen (posttraumatisch) oder als Reflexantwort ereignen. Bei anderen Anfällen können Veränderungen in der Gehirnstruktur ursächlich sein.
Auslöser (Trigger) von epileptischen Anfällen
Epileptische Anfälle können aus heiterem Himmel auftreten. In vielen Fällen sind aber auch bestimmte Trigger eines Anfalls bekannt. Zu den häufigsten Triggern gehören unter anderem: Schlafmangel, Stress, hohes Fieber, Alkohol und Drogen.
Therapieansätze
Die medikamentöse Therapie ist ein wichtiger Bestandteil der Behandlung von Epilepsie. Wenn die Medikamente dazu führen, dass die Betroffenen anfallsfrei sind oder deutlich weniger Anfälle erleiden, können diese ein weitgehend normales Leben führen.
Wenn zwei sorgfältig ausgewählte Medikamente in ausreichender Dosierung versagen, gilt eine Epilepsie als pharmakoresistent. In diesen Fällen kann eine Operation in Erwägung gezogen werden, um den Fokus im Gehirn zu entfernen, von dem die Anfälle ausgehen.
Psychogene Anfälle
Psychogene Anfälle sind Anfälle, die nicht durch neuronale Störungen im Gehirn verursacht werden, sondern eine psychische Ursache haben. Sie gehören zu den vielfältigen Erscheinungsbildern von dissoziativen Störungen.
Ursachen psychogener Anfälle
Ursachen eines psychogenen Anfalls können schwere seelische Belastungen in der Kindheit und Jugend sein, die den Betroffenen teilweise nicht bewusst sind. Insbesondere Missbrauch und Vernachlässigung gelten als prädisponierende Faktoren.
Diagnose und Behandlung psychogener Anfälle
Für die Diagnose von psychogenen Anfällen ist es wichtig, das Anfallsleiden gegenüber dem der Epilepsie abzugrenzen, sodass eine effektive individuelle psychotherapeutische Behandlung veranlasst werden kann. In der BetaGenese Klinik lernen die Patienten, psychodynamische Zusammenhänge, Frühwarnzeichen und Auslöser eines psychogenen Anfalls zu identifizieren.