Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Entmarkungserkrankung des Nervensystems, die häufig junge Menschen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren betrifft. In Deutschland leiden etwa 120.000 Menschen an MS, wobei Frauen doppelt so häufig betroffen sind wie Männer. Die Krankheit verläuft meist in Schüben und zeigt vielfältige Symptome, was die Pflege von MS-Patienten zu einer besonderen Herausforderung macht.
Auswirkungen von MS auf das Berufsleben
Viele Menschen mit MS können weiterhin ihrer Arbeit nachgehen, obwohl es zu wiederholten oder längeren Phasen der Arbeitsunfähigkeit kommen kann. Bestimmte Rahmenbedingungen wie flexible Arbeitszeiten oder Unterstützungsmöglichkeiten wie Arbeitsassistenz können dazu beitragen, die Arbeitsfähigkeit langfristig zu erhalten. Eine medizinische Rehabilitation kann die Krankheitsbewältigung verbessern und einer Behinderung oder Pflegebedürftigkeit entgegenwirken, während eine berufliche Rehabilitation die Arbeits- und Berufstätigkeit fördert. Die MS kann sich auch auf den Berufswunsch auswirken.
Krankengeld und Entgeltfortzahlung
Multiple Sklerose kann wiederholte oder längere Zeiten der Arbeitsunfähigkeit nach sich ziehen. Hierbei spielt die Entgeltfortzahlung eine wichtige Rolle. Ein Fallbeispiel verdeutlicht die Problematik:
Frau Schmidt hat am 3. März einen MS-Schub und wird krankgeschrieben. Nach drei Wochen geht es ihr allmählich besser, doch dann bekommt sie eine Erkältung und kann erst nach insgesamt fünf Wochen wieder arbeiten. Im Juli ist sie aufgrund der Beschwerden infolge einer Hitzewelle, die sie wegen ihrer MS immer wieder hat, erneut mehrere Tage krankgeschrieben. Zusammengerechnet ist sie im Juli mehr als eine Woche wegen MS krankgeschrieben.
Der Hintergrund ist, dass es wegen derselben Erkrankung nur für insgesamt sechs Wochen Entgeltfortzahlung gibt. Da sich Frau Schmidt die Erkältung zuzog, während sie wegen MS krankgeschrieben war, zählt die Erkältungszeit zu den sechs Wochen dazu. Wäre sie vor der Erkältung wieder in der Arbeit gewesen, hätte die Zeit der Erkältungs-Entgeltfortzahlung nicht zu den sechs Wochen MS-Entgeltfortzahlung dazugezählt. Die Beschwerden wegen der Hitze im Juli beruhen wiederum auf der Grunderkrankung, also der MS, und zählen somit zu den sechs Wochen Entgeltfortzahlung. Frau Schmidt kann eine Entgeltfortzahlung wegen MS erst wieder nach sechs Monaten ohne Krankschreibung wegen MS bekommen, oder ein Jahr nach dem ersten Tag ihrer Krankschreibung wegen MS, also ab dem 4. März des Folgejahres.
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Rehabilitation bei MS
Eine medizinische Rehabilitation kann Menschen mit MS dabei unterstützen, besser mit ihrer Erkrankung umzugehen und ihre Selbstständigkeit und Lebensqualität zu verbessern. Es gibt verschiedene Formen der Rehabilitation:
- Ambulante Reha: Diese findet wohnortnah in einer Reha-Einrichtung statt, meist im Umfang von vier bis sechs Stunden pro Tag. Der Vorteil ist, dass die erlernten Verhaltens- und Bewegungsstrategien zu Hause getestet werden können und die Reha bei Problemen individuell angepasst werden kann.
- Stationäre Reha: Diese wird umgangssprachlich oft als Kur bezeichnet und findet mit Übernachtung in der Reha-Einrichtung statt. Für Menschen mit MS gibt es in der Regel eine multimodale Reha. Multimodal bedeutet, dass verschiedene Behandlungsmethoden gleichzeitig über mehrere Wochen hinweg angewendet werden.
Die multimodale Reha sollte auf die individuellen Beeinträchtigungen der Patienten abgestimmt sein und kann die Versorgung mit Hilfsmitteln beinhalten. Ziel ist es, Folgeerkrankungen und -schäden entgegenzuwirken. Eine Behandlung in speziellen MS-Kliniken ist sinnvoll, wenn viele verschiedene Beschwerden durch die MS oder Begleiterkrankungen auftreten.
Eine berufliche Rehabilitation unterstützt Menschen mit MS dabei, weiterhin bzw. wieder am Berufsleben teilhaben zu können. Berufliche Reha umfasst z.B. Arbeitsassistenz, Kraftfahrzeughilfe oder Zuschüsse an Betriebe. Wenn die Auswirkungen von MS so schwer sind, dass sie die Berufstätigkeit gefährden oder der bisherige Beruf nicht mehr ausgeübt werden kann, gibt es zudem weitere Unterstützungsmöglichkeiten. Möchten Menschen mit MS ihre Arbeitszeit reduzieren, haben sie unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch darauf.
Herausforderungen mit der Krankenkasse
Ein weiteres Fallbeispiel verdeutlicht die Herausforderungen im Umgang mit der Krankenkasse:
Frau Schwab erhält überraschend ein Schreiben ihrer Krankenkasse, in dem sie aufgefordert wird, innerhalb von zehn Wochen einen Reha-Antrag zu stellen, da sie sonst kein Krankengeld mehr erhält. Stellt sie den Antrag verspätet, bekommt sie ihr Krankengeld erst wieder ab dem Tag der Antragstellung. Wenn Frau Schwab aber einen Reha-Antrag bei ihrer Rentenversicherung stellt, kann es passieren, dass die Rentenversicherung eine Reha für aussichtslos hält und den Reha-Antrag als Antrag auf Erwerbsminderungsrente umdeutet. Die Erwerbsminderungsrente wäre bei Frau Schwab deutlich niedriger als das Krankengeld und hätte weitere Nachteile.
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Um ein frühzeitiges Ende des Krankengelds zu vermeiden, geht Frau Schwab zu einer Beratungsstelle und erfährt, dass die Reha-Aufforderung wahrscheinlich unrechtmäßig ist. Denn die Krankenkasse darf von ihren Versicherten nur dann einen Reha-Antrag verlangen, wenn ein ärztliches Gutachten eine vorliegende oder drohende Erwerbsminderung bescheinigt. Jetzt kann sie kostenfrei Widerspruch gegen die Reha-Aufforderung einlegen und, wenn er abgelehnt wird, ebenfalls kostenfrei beim Sozialgericht klagen. Frau Schwab dürfte das ohne anwaltliche Hilfe machen, ist aber damit überfordert, weil alles sehr kompliziert ist. Allerdings reichen ihr niedriges Krankengeld und die sehr geringen Ersparnisse nicht für die Anwaltskosten.
Die Pflege von MS-Betroffenen
Die Pflege von MS-Betroffenen stellt für viele Pflegende eine besondere emotionale Herausforderung dar, da die Multiple Sklerose häufig bereits junge Menschen betrifft. Zudem benötigt jede:r Betroffene unterschiedlich viel Pflege bei MS. Die notwendigen Pflegeleistungen können zum Beispiel folgende Bereiche beinhalten:
- Kleinere Hilfsmittel, wie dickeres Besteck oder Schuhe ohne Schnürsenkel
- Das Vorschneiden oder Pürieren von Essen
- Transport zu (Arzt-)Terminen, Hobbys, Beruf und Verabredungen
- Unterstützung beim Umsetzen in einen Rollstuhl
- Die Pflege bettlägeriger Patient:innen, Körperpflege und Lagerungsmaßnahmen
Es gibt eine große Bandbreite, welche MS Patient:innen wie viel Pflege brauchen und wünschen. Für eine gute Zusammenarbeit zwischen Pflegenden und Betroffenen ist daher möglichst offene Kommunikation maßgeblich. In allen Situationen wird heutzutage aktivierende Pflege empfohlen. Dies bedeutet, Betroffene werden so viel wie nötig unterstützt - darüber hinaus sollen sie allerdings alles selbst tun, was möglich ist. Speziell bei MS variieren die Symptome häufig stark im Tagesverlauf.
Das junge Alter Betroffener bringt spezielle Herausforderungen für die pflegenden Menschen und Angehörigen mit sich. So möchten die meisten Betroffenen Studium bzw. Ausbildung beenden, so weit wie möglich ihrem Beruf und ihren Hobbys nachgehen, Sport treiben, sind eventuell noch auf der Suche nach einer festen Lebenspartnerschaft, wünschen sich möglicherweise Kinder und möchten Reisen. Dies ist auch gut so, da all diese Dinge zu einer möglichst hohen Lebensqualität trotz Krankheit beitragen. Hier braucht es Flexibilität, Kreativität und Belastbarkeit von Pflegenden und Betroffenen.
Die Entscheidung, ob Angehörige die Pflege auf sich nehmen oder ob eine professionelle Pflegekraft in Anspruch genommen wird, sollte gut überlegt werden.
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Pflegedokumentation und Maßnahmenplanung
Eine strukturierte Pflegedokumentation ist unerlässlich, um die Qualität der Pflege sicherzustellen. Wichtig ist, dass alle Mitarbeiter entsprechend geschult wurden und die Pflegedokumentation entweder von einem externen Anbieter beschafft oder selbst erstellt wurde. Für die Maßnahmenplanung gibt es keine offiziell vorgegebene Struktur, aber es ist ratsam, einen Basismaßnahmenplan zu entwerfen, der dann im weiteren Anpassungsprozess individualisiert wird.
Fallbeispiel: Frau Meier und Herr Müller
Um die Maßnahmenplanung zu veranschaulichen, betrachten wir zwei Fallbeispiele: Frau Meier und Herr Müller.
Frau Meier: Frau Meier leidet unter Multipler Sklerose und den damit verbundenen Symptomen wie Sprachstörungen, Wärmeintoleranz, Spastiken, Sensibilitätsstörungen, Muskelschwäche und Obstipation.
Herr Müller: Herr Müller ist ebenfalls an MS erkrankt und hat mit Übergewicht, eingeschränkter Mobilität, Infektanfälligkeit, Schmerzen und Blasenentleerungsstörungen zu kämpfen.
Maßnahmen für Frau Meier
- Kommunikation: Frau Meier wird von anderen Personen schlecht verstanden, da ihre Sprache verwaschen, monoton und leise klingt. Hektik, Stress und Anspannung verstärken ihre Sprachstörungen. Die Kommunikation ist insgesamt sehr erschwert. Sie wird ungehalten, wenn sie nicht auf Anhieb verstanden wird und weicht zunehmend auf Gesten aus.
- Maßnahmen: Mittwochnachmittag Besuch von der Logopädin. Lippen- und Zungenübungen zur Muskelkräftigung durchführen. Ggf. Hilfsmittel zur Unterstützung der Kommunikation bereitstellen.
- Wärmeintoleranz: Frau Meier leidet unter einer Wärmeintoleranz, die ihre Funktionen beeinträchtigt. Sie kann über das Schwitzen den Körper nicht ausreichend kühlen.
- Maßnahmen: Das Zimmer von Frau Meier wird konsequent vor Hitze geschützt. Sie wird kühl geduscht und kann Kühlkleidung nutzen, also etwa eine Kühlweste oder eine Kühlhose.
- Spastiken: Frau Meier leidet an Spastiken.
- Maßnahmen: Sie erhält Krankengymnastik. Wir erinnern sie gewissenhaft daran und überwachen die Durchführung. Wir achten darauf, dass Frau Meier ihre Kräfte nicht überanstrengt. Wir überprüfen regelmäßig, ob sie die antispastisch wirksamen Medikamente korrekt einnimmt und überprüfen regelmäßig den erreichten Effekt.
- Sensibilitätsstörungen: Frau Meier leidet unter einer gestörten Tiefensensibilität und unter Parästhesien, die sie als unangenehm empfindet.
- Maßnahmen: Berührungen sollten stets fest und mit der ganzen Hand erfolgen. Wir prüfen, ob die Sensibilitätsstörungen tageszeitlich schwanken. Wir dokumentieren, wann die Parästhesien auftreten und durch was sie ggf. verstärkt werden.
- Muskelschwäche: Infolge der Muskelschwäche ist das Duschen erschwert und die Sturzgefährdung erhöht.
- Maßnahmen: Wir begleiten Frau Meier in das Badezimmer. Sie setzt sich dort auf den Hocker vor dem Waschbecken und kann ihre Ellenbogen beim Waschen, Zähneputzen und Schminken aufstützen. Wir begleiten sie ins Badezimmer und helfen ihr beim Auskleiden. Sie kann sich allein duschen, wird aber auf einen Hocker begleitet. Wir empfehlen eine Elektrozahnbürste. Falls die Bewohnerin nur einen Arm verwenden kann, sollte sie ggf. ein Duschrollstuhl genutzt werden.
- Obstipation: Frau Meier leidet an Obstipation.
- Maßnahmen: Wir achten darauf, dass Frau Meier ausreichend trinkt. Sie soll ausreichend trinken. Wir motivieren sie, mit dem Rollator gehen. Wir nutzen eine Toilettensitzerhöhung und stellen sicher, dass sie das Toilettenpapier gut erreichen kann.
- Schlafstörungen: Die Erkrankung führt bei ihr zu Verunsicherung und zu Zukunftsängsten, die mit Schlafstörungen einhergehen.
- Maßnahmen: Wir schalten den Fernseher aus und begleiten sie ins Bett. Wir raten ihr, abends keinen Kaffee oder andere koffeinhaltige Getränke zu sich zu nehmen. Wir bieten ihr Entspannungsübungen und Massagen an. Wir sorgen für eine ruhige Schlafumgebung.
Maßnahmen für Herrn Müller
- Übergewicht und eingeschränkte Mobilität: Herr Müller ist übergewichtig, was seine Mobilität einschränkt. Er bewegt sich kaum noch, was das Risiko von Gelenkschäden sowie Verkürzungen der Muskulatur erhöht. Es besteht die Gefahr einer Pneumonie, einer Thrombose und von Kontrakturen.
- Maßnahmen: Wir mobilisieren Herrn Müller einmal in der Woche Physiotherapie. Wir mobilisieren Herrn Müller zweimal täglich für 20 Minuten am Vormittag und 20 Minuten am Nachmittag. Er erhält überdies eine Low-dose-Heparinisierung.
- Infektanfälligkeit: Herr Müller ist anfällig für Infektionen. Jede Infektion kann bei ihm zu neurologischen Beeinträchtigungen führen und das Risiko eines erneuten Krankheitsschubs erhöhen.
- Maßnahmen: Wir achten auf eine gute Hygiene und beobachten Herrn Müller engmaschig.
- Schmerzen: Herr Müller leidet unter einer erheblichen Schmerzbelastung.
- Maßnahmen: Wir applizieren zusätzlich Cannabinoide. Wir erfassen die Schmerzen regelmäßig.
- Schluckbeschwerden: Seine Bewegungen sind unsicher und ausfahrend, was das Schlucken beeinträchtigt.
- Maßnahmen: Wir achten auf die Konsistenz der Nahrung.
- Blasenentleerungsstörung: Herr Müller leidet unter einer Blasenentleerungsstörung, die zur Harninkontinenz führt. Es besteht die Gefahr eines Harnwegsinfekts.
- Maßnahmen: Wir führen Beckenbodentraining durch.
- Erektile Dysfunktion: Herr Müller leidet unter einer erektilen Dysfunktion.
- Maßnahmen: Wir befragen Herrn Müller (sehr sensibel!) zu seinem Zustand. Ggf. ziehen wir einen Arzt oder Psychologen zur Betreuung hinzu.
- Schwindel und Gangstörungen: Herr Müller leidet unter Schwindel und unter Gangstörungen. Er hat Angst, zu stürzen und sich zu verletzen.
- Maßnahmen: Wir ermutigen Herrn Müller, einen Gehwagen oder einen Rollstuhl zu nutzen.
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