Das komplexe Frauengehirn: Fakten und Mythen

„Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus“ - diese und ähnliche Buchtitel haben in den letzten Jahren die Bestsellerlisten erobert und suggerieren immense Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Doch wie groß sind diese Unterschiede wirklich? Sind sie in den Gehirnen von Männern und Frauen verankert, oder spielen gesellschaftliche Konventionen die Hauptrolle? Dieser Artikel beleuchtet die Fakten und räumt mit einigen hartnäckigen Mythen auf.

Anatomische Unterschiede: Was die Forschung sagt

Eine 2013 veröffentlichte Studie der Princeton University und der University of Pennsylvania untersuchte die Gehirne von fast 1000 Männern und Frauen auf strukturelle Unterschiede. Dabei fielen folgende Punkte auf:

  • Größe: Männer haben im Durchschnitt 8 % größere Gehirne als Frauen. Eine Verbindung zwischen der Größe des Gehirns und der Intelligenz kann jedoch nicht hergestellt werden. Das Gehirn des Pottwals ist beispielsweise etwa sechsmal größer als das des Menschen, dennoch ist der Mensch dem Tier kognitiv überlegen.
  • Verbindungen: Die Nervenzellen des weiblichen Gehirns weisen eine größere Anzahl von Verbindungen auf. Zudem verlaufen die Verbindungen im weiblichen Gehirn vermehrt zwischen der linken und rechten Gehirnhälfte, was darauf hindeutet, dass Frauen bei Entscheidungen sowohl analytisch als auch intuitiv vorgehen können. Männer hingegen haben stärkere Verbindungen zwischen den vorderen und hinteren Teilen des Gehirns.
  • Kleinhirn: Im Kleinhirn besitzt das männliche Gehirn mehr Verbindungen zwischen beiden Hälften, was es Männern möglicherweise erleichtert, komplexe Bewegungsabläufe zu erlernen, wie beispielsweise Skifahren.
  • Limbisches System: Das limbische System, das unter anderem für die emotionale Bewertung verantwortlich ist, ist im weiblichen Gehirn stärker ausgeprägt. Dies könnte erklären, warum Frauen oft als kompetenter in der emotionalen Bewertung gelten.
  • Inferiorer parietaler Lobus: Diese Hirnregion, die eine wichtige Rolle bei mathematischen Fähigkeiten spielt, ist im männlichen Gehirn stärker ausgeprägt. Dies korreliert mit der Beobachtung, dass Männer in den mathematischen Teilen von IQ-Tests systematisch besser abschneiden.

Neuere Studien legen nahe, dass Sexualhormone zu Unterschieden in der Mikrostruktur des Gehirns führen könnten. Eine Studie von Forscher:innen um Sofie Valk und Svenja Küchenhoff vom Forschungszentrum Jülich untersuchte, wie sich die Mikrostruktur in der Gehirnrinde von Männern und Frauen regional unterscheidet. Sie korrelierten Magnetresonanztomographie-Aufnahmen von 1000 Studienteilnehmer:innen mit den Angaben der Frauen zur Phase des Hormonzyklus und zur hormonellen Verhütung. Dabei zeigte sich, dass sich die Mikrostruktur der Gehirnrinde und des Hippocampus von Männern und Frauen regional unterscheidet, wobei diese Unterschiede von der hormonellen Verhütung und der Zyklusphase abhängen.

Eine weitere Studie desselben Forschungsteams untersuchte, ob bestimmte strukturelle Unterschiede zwischen Männer- und Frauengehirnen eine Rolle dabei spielen, wie sich Funktionssignale ausbreiten. Entgegen den Erwartungen konnten sie herausfinden, dass Unterschiede in der Gehirngröße, -mikrostruktur und Abstand der funktionellen Verbindungen entlang der kortikalen Oberfläche die funktionellen Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern nicht widerspiegeln können. Stattdessen könnten kleine Geschlechtsunterschiede in den Verbindungen innerhalb und zwischen funktionellen Netzwerken eine Rolle spielen.

Die Macht der Stereotypen

Trotz dieser eindrücklichen Ergebnisse ist es wichtig, sie nicht zu überinterpretieren. Menschliche Fähigkeiten sind in der Regel von einer Vielzahl verschiedener Eigenschaften abhängig, wobei die Motivation eine entscheidende Rolle spielt. Ein Experiment der Universität Wien zeigte beispielsweise, dass die Matheleistung von Kindern in IQ-Tests deutlich besser war, wenn ihnen zuvor mitgeteilt wurde, dass Jungen und Mädchen gleich begabt in Mathematik sind.

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Dieser Befund unterstreicht, dass der gesamte soziale Kontext berücksichtigt werden muss, wenn wir über Leistungsunterschiede zwischen Männern und Frauen sprechen. Tief verankerte Stereotype in unseren Köpfen können eine erschreckend große Rolle spielen.

Trendumkehr in den Hörsälen

Ein Blick in die Hörsäle bestätigt den Einfluss der Gesellschaft. Während vor einigen Jahrzehnten Männer in Studiengängen wie Medizin die Mehrheit stellten, sind es heute überwiegend Frauen. Dies zeigt, dass sich gesellschaftliche Vorstellungen und Rollenbilder im Laufe der Zeit wandeln können.

Hormone und Gehirn

Sexualhormone wirken auch in unserem Gehirn und können zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Mikrostruktur des Denkorgans führen. Sexualhormonrezeptoren sind sowohl in Neuronen als auch in Gliazellen weit verbreitet, was es ihnen ermöglicht, über verschiedene molekulare Mechanismen mit den wichtigsten Zellgruppen des Gehirns zu interagieren. Männliche und weibliche Hormone unterscheiden sich voneinander, und auch die Menge der Hormone verändert sich, insbesondere bei Frauen im Laufe des Menstruationszyklus. Dies wirkt sich offenbar auch auf die Mikrostruktur des Gehirns aus.

In einem Experiment der Universität Montreal wurden Frauen und Männern diverse Bilder gezeigt, während ihre Hirnaktivität per Magnetresonanztomografie untersucht und ihre Hormonspiegel im Blut analysiert wurden. Dabei zeigte sich, dass je höher der Testosteronspiegel der Probanden war, desto stärker waren die für Emotionen und Kontrolle zuständigen Areale in ihrem Gehirn verknüpft. Frauen haben im Schnitt einen niedrigeren Testosteronlevel und zeigten daher eine schwächere Verknüpfung und reagierten stärker auf negative Reize. Dies könnte möglicherweise erklären, warum Frauen beispielsweise doppelt so häufig an Depressionen und Angststörungen leiden wie Männer.

Mythen rund ums Gehirn

Es gibt viele Mythen rund um unser Gehirn. Hier sind einige der gängigsten:

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  • Wir nutzen nur 10 % unseres Gehirns: Völliger Unsinn! Moderne Gehirnimaging-Techniken zeigen, dass wir immer und überall unser ganzes Gehirn nutzen.
  • Alkohol zerstört die Gehirnzellen: Mäßiger Alkoholkonsum schädigt die Nervenzellen selbst nicht. Allerdings können die Dendriten, die für die Kommunikation zwischen den Neuronen verantwortlich sind, durch Alkoholkonsum geschädigt werden.
  • Wir haben 100 Milliarden Nervenzellen: Wissenschaftler haben entdeckt, dass wir eher um die 86 Milliarden Gehirnzellen haben.
  • Wir nutzen eine Gehirnhälfte mehr als die andere: Es gibt keine wissenschaftlichen Beweise für Persönlichkeitstypen, die durch die Gehirnhälften bestimmt werden.
  • Bei Erwachsenen wachsen keine Gehirnzellen mehr nach: Wissenschaftler konnten Nervenwachstum im Hippocampus, einer Region die für Erinnerung zuständig ist, nachweisen.

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