Frühkindliche Reflexe sind angeborene Bewegungsmuster, die eine entscheidende Rolle in der Entwicklung und im Verhalten von Kindern spielen. Sie sind Schlüssel zum Verständnis, wie wir Bewegungen und Reaktionen von Geburt an entwickeln. Einer dieser Reflexe ist der Furcht-Lähmungs-Reflex (FLR), auch bekannt als "Freeze-Response".
Was ist der Furcht-Lähmungs-Reflex (FLR)?
Der Furcht-Lähmungs-Reflex (FLR) ist ein essenzieller Schutzmechanismus, der bereits zwischen der 5. und 7. Schwangerschaftswoche entsteht. Er ist ein natürlicher Bestandteil des Überlebensinstinkts des Fötus und schützt das Baby in potenziell gefährlichen Situationen, beispielsweise wenn die Mutter Stress, Angst oder einen Schreck erlebt. Steht die Mutter unter Anspannung, komprimiert sich das Fruchtwasser, und es entsteht ein Druck auf das Baby.
Der FLR versetzt das Kind in einen "Freeze-Zustand", in dem es sich zusammenkugelt wie ein Igel und erstarrt, um sich nicht reflexhaft in die Nabelschnur einzuwickeln. Beim Geburtsvorgang setzt der FLR die Körperfunktionen herab, was beim Austritt aus dem Geburtskanal wegen des Sauerstoffmangels wichtig ist.
Im Regelfall wird der FLR bis zur 12. Woche nach der Empfängnis gehemmt und in den Moro-Reflex integriert. Der Moro-Reflex, benannt nach dem Kinderarzt Ernst Moro, ist ein fundamentaler frühkindlicher Reflex, der durch plötzliche Reize wie laute Geräusche oder schnelle Bewegungen ausgelöst wird. Typischerweise öffnet das Kind reflexhaft den Mund, atmet tief ein, streckt Arme und Beine ruckartig und spreizt die Finger ab. Beim Ausatmen kehren die Arme an den Körper zurück, und die Hände ballen sich zu Fäusten.
Die Rolle von FLR und Moro-Reflex
FLR und Moro bereiten das Nervensystem auf lebensbedrohliche Situationen vor, indem der Körper auf Flucht oder Kampf eingestellt wird. Das System wird unmittelbar in Erregung versetzt, begleitet von einem schnellen Einatmen, einem (kurzen) Erstarren (FLR-Anteil) und einem anschließenden Aufschrecken (Moro-Anteil). Der FLR wird durch den Parasympathikus gesteuert, der Moro durch den Sympathikus.
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Der parasympathische Teil (FLR) setzt die Körperfunktionen herab, was für den Geburtsvorgang beim Durchtritt durch den Geburtskanal durch den Sauerstoffmangel wichtig ist. Das sympathische Nervensystem (Moro) wird aktiviert, wodurch die beiden Stresshormone Cortisol und Adrenalin ausgeschüttet werden.
Was passiert, wenn der FLR nicht gehemmt wird?
Wenn der FLR sich nicht wie vorgesehen schließt, kann er im alltäglichen Leben durch Augenkontakt, laute Geräusche oder unerwartete Berührungen ausgelöst werden. Die Kinder erstarren und sind handlungsunfähig, oft sind sie auch hypersensibel auf Gerüche, Geräusche, Menschenmengen, Licht oder auch Berührung. Trennungsängste können auch oft ein Begleiter sein, und die Kinder klagen über Bauchweh oder wollen nicht in die Schule/Kindergarten.
Diese Kinder erleben somit im Alltag häufig Stresssituationen, welche die Freisetzung von Adrenalin bewirken. Dadurch kann die Akkommodation blockiert werden - das Scharfstellen eines Bildes auf der Netzhaut. Dies kann dazu führen, dass z. B. in Prüfungssituationen die Buchstaben verschwimmen oder hüpfen. Auch das Umschalten von Nah- und Fernsehen wird erschwert, was bewirkt, dass der Blickwechsel von der Wandtafel auf das Blatt länger dauert und das Kind mehr Zeit zum Abschreiben benötigt.
Das Auslösen des FLR durch Augenkontakt kann dazu führen, dass die Kinder anderen nicht in die Augen schauen können. Durch die Freisetzung der Stresshormone werden die Gehirnzellen geschädigt, und die Verknüpfung zum Cortex (Verstand) ist blockiert. Der ständig überhöhte Adrenalinspiegel wird im Gehirn programmiert, wodurch die Amygdala (der Wächter bei Gefahr) vergrößert wird und viel schneller reagiert.
Symptome eines persistierenden FLR
Ein persistierender FLR kann zu folgenden Symptomen führen:
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- Nimmt die Wahlfreiheit, wie in einer Bedrohung zu reagieren ist.
- Geschwächtes Immunsystem → Häufige Infekte und Allergien
- Ängstlicher, unruhiger Typus
- „Freeze“-Zustand: unsicheres Innehalten, wenn Handlung nötig wäre
- Aktivierung der Überlebensmuster → Freisetzung von Stresshormonen (Adrenalin und Cortisol erhöht)
- Probleme mit Aufmerksamkeit / Konzentration
- Hypersensibilität (→ Alle Sinne werden zu intensiv angesteuert), geringe Stresstoleranz
- Serotonin-/ Aminosäuren-Mangel und Gluten-Intoleranz
Weitere frühkindliche Reflexe und ihre Auswirkungen
Neben dem FLR gibt es noch weitere wichtige frühkindliche Reflexe, die eine zentrale Rolle in der Entwicklung spielen:
- Moro-Reflex: Trainiert die Atemmuskulatur und dient dem Schutz beim Fallen. Ein persistierender Moro-Reflex kann zu Überempfindlichkeit, hohem Stresslevel, Angst, Aggression und Schwierigkeiten mit der Atmung führen.
- Tonischer Labyrinthreflex (TLR): Hilft dem Neugeborenen im Umgang mit der Schwerkraft und der Entwicklung der Körper- und Kopfwahrnehmung im Raum. Ein persistierender TLR kann zu Koordinationsproblemen, schlechter Haltung, Orientierungsproblemen und Höhenangst führen.
- Symmetrisch Tonischer Nackenreflex (STNR): Wichtig für die Körperkoordination und Wahrnehmung. Ein nicht integrierter STNR kann zu motorischen Auffälligkeiten, posturalen Problemen, visuellen und kognitiven Beeinträchtigungen führen.
- Landau-Reflex: Wichtig für die Aufrichtung der Wirbelsäule und die Entwicklung von Gleichgewicht, Tiefensensibilität und Raumorientierung. Ein persistierender Landau-Reflex kann zu schlechter Körperhaltung, Problemen mit Aufmerksamkeit und Konzentration, Knieschmerzen und Magen- / Darmproblemen führen.
- Spinaler Galant Reflex: Wichtig für die Entwicklung der Körperdrehbewegungen, des Gleichgewichtssinns und der Motorik. Ein persistierender Spinaler Galant Reflex kann zu Handlungsschwierigkeiten, motorischer Unruhe, Hyperaktivität, Rücken- und Beckenschmerzen führen.
- Asymmetrisch Tonischer Nackenreflex (ATNR): Entscheidend für die Integration der beiden Gehirnhälften und die Entwicklung der Seitendominanz. Ein persistierender ATNR kann zu unkoordinierten Arm- und Beinbewegungen, Lese- und Rechtschreibschwäche und Nackenverspannungen führen.
- Babinski-Reflex: Trainiert die Fuß- und Beinmuskulatur für eine stabile Aufrichtung. Ein persistierender Babinski-Reflex kann zu muskulären Verspannungen in den Beinen, Fußfehlstellungen, Hüftschmerzen und Problemen mit Balance und Koordination führen.
- Schreitreflex: Dient einer koordinierten Beugung und Streckung der unteren Extremitäten. Ein persistierender Schreitreflex kann zu Knie- und Hüftproblemen, mentaler Unsicherheit, Schwerfälligkeit beim Gehen und Ungeduld führen.
- Babkin- / Palmar-Reflex: Entwickelt den Tastsinn und hilft dem Baby beim Saugen an der Brust. Ein persistierender Babkin- / Palmar-Reflex kann zu Empfindlichkeit bei Berührung der Handflächen und des Gesichts, unwillkürlichen Mund- / Zungenbewegungen und schlechter Feinmotorik führen.
- Spinaler Perez Reflex: Sorgt für eine Schutzspannung der Wirbelsäule. Ein persistierender Spinaler Perez Reflex kann zu geringem Selbstwert, Hypersensibilität, Unruhe, Schulter-Nacken-Verspannungen und Wirbelsäulenproblemen führen.
- Greifreflex: Zuständig für die Entwicklung der Handmotorik sowie der Hand-Auge- und Hand-Mund-Koordination. Ein persistierender Greifreflex kann zu Empfindlichkeit bei Berührung der Handflächen und des Gesichts, fester Stifthaltung, Kopfschmerzen und mangelhafter Grobmotorik führen.
- Plantar-Reflex: Bereitet die Unterscheidung der rechten und linken Seite vor und entwickelt die Hand-Fuß-Koordination. Ein persistierender Plantar-Reflex kann zu mentaler Unsicherheit, Störung des Fußgewölbes, Hüft- und Knieproblemen und Spannungen im Kiefergelenk führen.
- Hochziehreflex: Entwickelt die Fähigkeit, sich in Rückenlage liegend an den Händen der Eltern nach oben zu ziehen. Ein persistierender Hochziehreflex kann zu mühsamem Schreiben, vermehrter Stressanfälligkeit, fehlender innerer Ruhe und mangelhafter Grobmotorik führen.
Reflexintegrationstraining als Lösungsansatz
Die gute Nachricht ist, dass es Möglichkeiten gibt, persistierende (aktive) Reflexe zu hemmen und zu integrieren und damit neuronales Nachreifen zu ermöglichen. Eine Möglichkeit ist das Reflexintegrationstraining.
Reflexintegrationstraining ist eine Kombination von erprobten Methoden, die helfen, Schul-, Lern- wie auch Verhaltensprobleme sowie motorische Problematiken von Kindern zu überprüfen. Bei dem Training liegt der Fokus darauf, bestimmte frühkindliche Reflexe zu integrieren.
Das Reflexintegrationstraining dauert zwischen 10 und 12 Monaten, wobei ca. alle 4 Wochen ein Termin in der Praxis stattfindet, bei dem die aktiven Reflexe nach und nach integriert werden und die unkomplizierten Übungen gezeigt werden, die zu Hause zu machen sind. Dabei handelt es sich zum großen Teil um rhythmische Schaukelbewegungen. Der tägliche Zeitbedarf hierfür beträgt 5 Minuten.
Wie funktioniert Reflexintegrationstraining?
Reflexintegrationstraining ist ein körperorientierter Ansatz, der das Nervensystem dabei unterstützt, nicht integrierte frühkindliche Reflexe nachreifen zu lassen. Es werden die neuromotorischen Entwicklungsschritte aus Schwangerschaft, Geburt und den ersten Lebensmonaten noch einmal gezielt nachgeholt.
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Dabei geht es nicht um klassische Übungen im Sinne von Sport oder Konzentrationstraining. Reflexintegrationstraining arbeitet mit gezielten, sanften Bewegungen, sensorischen Reizen und achtsamer Körperarbeit. Diese stimulieren genau die Areale im Gehirn, die in der frühen Entwicklung aktiv waren - und helfen dabei, die heute nicht mehr benötigten Reflexmuster zu hemmen, so dass neue, bewusste Bewegungs- und Verhaltensmuster ermöglicht werden.
Reflexintegrationstraining wirkt dort, wo viele andere Ansätze nicht hinkommen: direkt im Nervensystem. Durch gezielte, sanfte Bewegungen und sensorische Reize erhält das Gehirn die Möglichkeit, nicht vollständig integrierte Reflexe zu regulieren.
Für wen ist Reflexintegrationstraining geeignet?
Reflexintegrationstraining ist für alle Menschen hilfreich, bei denen die frühkindlichen Reflexe nicht vollständig integriert wurden - unabhängig vom Alter. Denn: Das Nervensystem bleibt ein Leben lang veränderbar.
- Kindern und Jugendlichen mit Lern- und Verhaltensproblemen
- Erwachsenen mit chronischen Verspannungen oder Schmerzen
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