Tinnitus, das lästige Klingeln oder Rauschen im Ohr, betrifft Millionen von Menschen weltweit. Die Forschung hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht, um die Ursachen und Mechanismen dieser komplexen Erkrankung besser zu verstehen. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Rolle von GABA-Neuronen und ihrer Bedeutung für die Entstehung und Chronifizierung von Tinnitus.
Tinnitus: Eine weit verbreitete Phantomwahrnehmung
Tinnitus ist eine Erkrankung, bei der Betroffene Geräusche wie Klingeln oder Pfeifen wahrnehmen, ohne dass eine äußere Schallquelle vorhanden ist. Diese Phantomwahrnehmung kann die Betroffenen stark belasten. Weltweit sind etwa 12 Prozent der Menschen von Tinnitus betroffen. Die Krankheits- und Folgekosten durch Tinnitus liegen allein in Deutschland bei rund 21,9 Milliarden Euro pro Jahr und somit in der Größenordnung der Kosten von Volkskrankheiten wie Diabetes.
Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zur Entstehung von Tinnitus
Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Dr. Achim Schilling und Dr. Patrick Krauss vom Neurowissenschaftlichen Labor der Hals-Nasen-Ohren-Klinik ‒ Kopf- und Halschirurgie des Uniklinikums Erlangen hat Prozesse im Gehirn identifiziert, die zur Entwicklung eines neuen Modells für die Entstehung und Chronifizierung von Tinnitus beitragen. Die Erkenntnisse entstanden durch die Zusammenarbeit von experimentellen Neurowissenschaften mit der Computational Neuroscience, wobei auch Prinzipien aus der KI-Forschung einbezogen wurden. Durch diese Zusammenführung der Forschungsdisziplinen erhoffen sich die Forschenden an der FAU die Eröffnung weiterer Möglichkeiten in der Tinnitus-Forschung und -Behandlung.
Das Team identifizierte das Zusammenspiel zweier zentraler Prozesse, das Phantomwahrnehmungen wie den Tinnitus auslöst. Der erste Prozess ermöglicht dem Gehirn, basierend auf vorhandenem Wissen zukünftige Wahrnehmungen vorherzusagen. Dieser Prozess wird prädiktive Codierung genannt. Der zweite Prozess steigert die Aktivität von Nervenzellen entlang der Hörbahn durch Hinzufügen von neuronalem Rauschen, um schwache Signale, sprich: leise Geräusche, besser wahrzunehmen. Durch ein Zusammenspiel dieser beiden Prozesse kann es dazu kommen, dass das Gehirn das selbst generierte Rauschen als realen Ton interpretiert, obwohl es sich nur um ein „Verstärkersignal“ handelt. Hierdurch lässt sich die Phantomwahrnehmung von Tönen beim Tinnitus erklären. Das neue Modell erklärt auch, warum Tinnitus oft mit einer Überempfindlichkeit gegenüber leisen Tönen einhergeht, die als Hyperakusis bezeichnet wird: Das Gehirn verstärkt die schwachen Signale. Die Ergebnisse des Teams rund um die FAU-Forscher sind nicht nur für das Verständnis von Tinnitus von Bedeutung, sondern geben auch Aufschluss über Prozesse des alltäglichen Hörens. Die Wissenschaftler gehen zudem davon aus, dass ihre Erkenntnisse die Weiterentwicklung von KI-Technologien befördern und zu besseren Therapieansätzen für Tinnitus beitragen können. Die Verschmelzung der Forschungsbereiche Computational Neuroscience, KI und experimentelle Neurowissenschaften beurteilen sie als maßgeblich für die Entwicklung des neuen Modells zu der das Hören betreffenden (Phantom-)Wahrnehmung.
Die Rolle von GABA bei Tinnitus
GABA (Gamma-Aminobuttersäure) ist ein wichtiger Neurotransmitter im Gehirn, der eine hemmende Wirkung auf die Nervenzellen ausübt. Er wirkt wie ein Bremspedal und verhindert, dass die Nervenzellen zu aktiv werden. Studien haben gezeigt, dass bei Tinnitus-Patienten häufig eine verminderte GABA-Aktivität in bestimmten Hirnregionen vorliegt, insbesondere in der Hörrinde. Dies führt zu einer Übererregbarkeit der Nervenzellen und kann die Entstehung von Tinnitus begünstigen.
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Genetische Ursachen von Tinnitus und die Rolle von GABA-Rezeptoren
Eine aktuelle Studie von Royce E. Clifford et al. hat neue Erkenntnisse über die genetischen Ursachen von Tinnitus geliefert. Die Studie, die 2024 in Nature Communications veröffentlicht wurde, führte eine genomweite Assoziationsstudie (GWAS) mit 596.905 Teilnehmern durch. Dabei wurde eine mittlere zweistellige Zahl neuer Loci identifiziert, die mit Tinnitus in Verbindung stehen. Die Studie ergab, dass mehrere Gene mit den Verbindungen zwischen den Nervenzellen in Zusammenhang stehen, über welche elektrische Signale weitergeleitet werden. Ein Gen namens GRK6, das die GABA-Rezeptoren steuert, könnte eine Schlüsselrolle bei der Entstehung des Tinnitus sein. Wenn die GABA-Aktivität sinkt, können die Nervenzellen überreizt werden. Die Überreizung führt also möglicherweise dazu, dass Tinnitus entsteht. Die Forschungsergebnisse können dazu beitragen, dass die künftige Arzneimittelforschung besser auf die Ursachen von Tinnitus ausgerichtet werden können, insbesondere durch die gezielte Verstärkung von GABA-Rezeptoren. Zudem legt die Studie nahe, dass Dopaminrezeptoren, die ebenfalls von GRK6-Gen gesteuert werden, neue therapeutische Ansätze bieten könnten.
GABA-erge Hemmung und auditive Signalverarbeitung
Eine Studie von Wang et al. (2021) untersuchte die GABAerge Funktion und die auditive Signalverarbeitung bei Tinnitus-Patienten. Die Ergebnisse zeigen, dass bei Tinnitus-Patienten eine verminderte GABAerge Hemmung vorliegt, was zu einer gestörten auditiven Verarbeitung und einer erhöhten neuronalen Aktivität führt. Die Autoren diskutieren die Möglichkeit, GABA-agonistische Medikamente zur Verbesserung der GABAergen Hemmung und zur Reduktion der Tinnitus-Symptome einzusetzen.
Tiermodelle und die Erhöhung der GABA-Konzentration
Forscher der University of California in Berkeley haben in Rattenversuchen gezeigt, dass die sonst für diese Hemmung zuständigen, so genannten GABA-erge Neuronen bei Tinnitus geschwächt sind. Bei der gamma-Aminobuttersäure (GABA) handelt sich um einen Neurotransmitter, der nicht nur in der Hörrinde vorkommt. Die Erhöhung der GABA-Konzentration könnte demnach den Tinnitus lindern. Erste Experimente mit zwei Wirkstoffen, die die Konzentration von GABA steigern, haben den Tinnitus bei Ratten erfolgreich beseitigen können. Die Substanzen sind jedoch sehr giftig, bislang nur im Tierversuch erprobt und kommen deshalb auf keinen Fall für die Therapie beim Menschen in Frage!
Therapieansätze zur Modulation der GABA-Aktivität
Die Erkenntnisse über die Rolle von GABA bei Tinnitus haben zu neuen Therapieansätzen geführt, die darauf abzielen, die GABA-Aktivität im Gehirn zu modulieren.
Pharmakologische Modulation
Ein Ansatz ist die Verwendung von Medikamenten, die die GABA-Aktivität erhöhen. Dazu gehören GABA-Agonisten, die direkt an die GABA-Rezeptoren binden und deren Wirkung verstärken, sowie GABA-Wiederaufnahmehemmer, die den Abbau von GABA im synaptischen Spalt verlangsamen und so die GABA-Konzentration erhöhen. Allerdings sind viele dieser Medikamente mit Nebenwirkungen verbunden und nicht speziell für die Behandlung von Tinnitus zugelassen.
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Nicht-invasive Neurostimulation
Ein weiterer vielversprechender Ansatz ist die nicht-invasive Neurostimulation. Dabei werden elektrische oder magnetische Impulse eingesetzt, um die Aktivität bestimmter Hirnregionen zu modulieren. Transkranielle Magnetstimulation (TMS) und transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS) sind zwei gängige Verfahren, die bereits in Studien zur Behandlung von Tinnitus eingesetzt werden. Es wird angenommen, dass diese Verfahren die GABA-Aktivität in der Hörrinde und anderen relevanten Hirnregionen beeinflussen können.
Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT)
Die Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) ist ein langfristiges Konzept mit mehreren Modulen: ausführliche Beratung und Aufklärung (Counseling), Entspannungstechniken, kognitive Verhaltenstherapie und eventuell Hörtraining (mit RG oder Hörgerät). »Eine entängstigende Aufklärung, die mit den Ursachen und Auswirkungen des Tinnitus vertraut macht, ist die wichtigste Voraussetzung, um den aufreibenden Kreislauf zwischen Tinnitus und Aufmerksamkeit zu beenden«, erklärt Goebel. Verschiedene Studien belegen die Erfolge dieser Methode. So etwa eine Cochrane-Analyse, die die Überlegenheit gegenüber RG feststellt (9).
Weitere Therapieansätze
- Hörgeräte und Masker: Diese Geräte können die Wahrnehmung des Tinnitus übertönen oder verbessern das Hörvermögen, wodurch der Tinnitus weniger auffällig wird.
- Verhaltenstherapie: Kognitive Verhaltenstherapie (CBT) kann helfen, die emotionale Reaktion auf den Tinnitus zu bewältigen und die Lebensqualität zu verbessern.
- Entspannungstechniken: Techniken wie Yoga, Meditation und progressive Muskelentspannung können Stress reduzieren, der oft den Tinnitus verschlimmert.
- Lifestyle-Anpassungen: Eine gesunde Lebensweise, Vermeidung von Lärm, ausreichend Schlaf und eine ausgewogene Ernährung können ebenfalls zur Linderung von Tinnitus beitragen.
Der Forschungspreis Tinnitus & Hören
Die Deutsche Stiftung Tinnitus & Hören Charité vergibt seit 2019 jährlich ihren „Forschungspreis Tinnitus & Hören“. Ziel ist es, innovative Forschungsansätze zu Tinnitus und anderen Hörerkrankungen zu würdigen und die Arbeiten insbesondere Nachwuchswissenschaftler:innen bekannt zu machen. Der mit 10.000 Euro dotierte Forschungspreis Tinnitus & Hören wird am 6.12.2025 im Rahmen des 26. Tinnitussymposiums verliehen. Noch bis zum 30. September können sich Wissenschaftler:innen für den Preis bewerben.
Im Jahr 2024 wurde der renommierte Wissenschaftler Prof. Dr. Pim van Dijk, Experte für Medizinische Physik und Professor für Audiologie an der Graduiertenschule für Medizin an der Universität Groningen (NL), mit dem Forschungspreis Tinnitus & Hören ausgezeichnet. Seine wissenschaftliche Tätigkeit reicht von Untersuchungen der otoakustischen Emissionen (OAE) zur Beurteilung der Funktion der Cochlea bis hin zu Studien zu den tonotopischen Veränderungen im auditorischen Kortex. Prof. Dr. Pim van Dijk hat sich zusammen mit seinen Kooperationspartner:innen Prof. Dr. Sonja Pyott, Dr. Marc Thioux und Dr. ir. Emile de Kleine um die Förderung einer neurowissenschaftlichen Studie beworben, die der Frage nachgeht, ob Tinnitus beim Menschen mit einer abnormalen GABA-ergen Hemmung zusammenhängt.
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