GABA-Neuronen und Tinnitus: Ursachen, Forschung und Therapieansätze

Tinnitus, ein weit verbreitetes Leiden, bei dem Betroffene Geräusche ohne äußere Schallquelle wahrnehmen, stellt eine erhebliche Herausforderung für die Betroffenen und die medizinische Forschung dar. Trotz intensiver Bemühungen gibt es bisher keine zuverlässige Therapie. Die Forschung konzentriert sich zunehmend auf die Rolle des Gehirns, insbesondere der GABA-ergen Neurotransmission, bei der Entstehung und Chronifizierung von Tinnitus.

Was ist Tinnitus?

Der Begriff Tinnitus leitet sich vom lateinischen Wort "tinnire" ab, was so viel wie "klingeln" bedeutet. Es handelt sich um eine akustische Wahrnehmung, die unabhängig von äußeren Schallreizen entsteht. Diese Wahrnehmung beruht auf einer Störung der Hörfunktion und hat nichts mit den Geräuschen in der Umgebung der Person zu tun. Die Art der wahrgenommenen Geräusche kann vielfältig sein und reicht von Brummen, Pfeifen, Zischen und Rauschen über Donnern und Zwitschern bis hin zu komplexeren Klängen wie Stimmengewirr.

Tinnitus betrifft weltweit Millionen von Menschen und kann in jedem Alter auftreten. Er kann sowohl kurzfristig (akut) als auch langfristig (chronisch) sein. Ein akuter Tinnitus dauert weniger als drei Monate, während ein chronischer Tinnitus länger als drei Monate anhält und eine dauerhafte Belastung darstellen kann.

Arten von Tinnitus

Es werden zwei Hauptarten von Tinnitus unterschieden:

  • Objektiver Tinnitus: Bei dieser Form gibt es eine tatsächlich messbare Schallquelle im Körper, die das Geräusch verursacht. Ursachen können beispielsweise Strömungsgeräusche des Blutes aufgrund von Gefäßverengungen oder Muskelzuckungen sein. In einigen Fällen nehmen Betroffene das Geräusch synchron zum Herzschlag wahr, was als pulsierender Tinnitus bezeichnet wird. Da die Geräuschquelle physisch vorhanden und messbar ist, kann der objektive Tinnitus manchmal durch medizinische Eingriffe behandelt werden.

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  • Subjektiver Tinnitus: Diese Art ist weitaus häufiger und tritt auf, obwohl keine messbare Schallquelle vorhanden ist. Betroffene nehmen Geräusche wahr, die von anderen Personen nicht gehört werden können. Die Ursachen für subjektiven Tinnitus sind vielfältig und können von Hörschäden, Stress und psychischen Belastungen bis hin zu neurologischen Erkrankungen reichen. Die Diagnose und Behandlung gestalten sich oft schwierig, da die Geräusche nicht objektivierbar sind. Gerade klang die Musik noch beschwingt und jubilierend. Doch mit einem Mal bricht sie ab und ein schriller Ton auf der Violine beginnt an den Nerven zu zerren: Im Streichquartett Nr. 1 e-Moll „Aus meinem Leben“ setzte der böhmische Komponist Bedřich Smetana (1824-1884) das Ohrgeräusch, das ihn plagte, musikalisch um. „Die größte Qual bereitet mir das fast ununterbrochene Getöse im Inneren, das mir im Kopf braust und sich bisweilen zu einem stürmischen Gerassel steigert“, schrieb der Komponist in einem Brief.

Ursachen und Diagnose

Die Ursachen für Tinnitus sind vielfältig. Häufige Auslöser sind Lärmbelastung, Hörverlust, Ohreninfektionen, Ohrenschmalzblockaden, Kopf- oder Nackenverletzungen sowie bestimmte Medikamente, die als ototoxisch bekannt sind. Tinnitus kann auch als Begleitsymptom anderer Erkrankungen wie Morbus Menière, Multiple Sklerose oder Tumoren im Hör- und Gleichgewichtsnerv auftreten. Etwa 400 mögliche Ursachen und deren Kombinationen können zu einem Tinnitus führen. Dennoch findet der Arzt bei fast der Hälfte der Betroffenen keine eindeutige Ursache.

Die Diagnose erfordert eine gründliche Anamnese und Untersuchung durch einen HNO-Arzt (Hals-Nasen-Ohren-Arzt). Dabei werden Hörtests, audiometrische Untersuchungen und gegebenenfalls bildgebende Verfahren wie MRT oder CT eingesetzt, um die zugrunde liegende Ursache zu ermitteln.

Die Rolle von GABA-Neuronen

Neuere Forschungen haben die Bedeutung von GABA-Neuronen bei der Entstehung von Tinnitus hervorgehoben. GABA (Gamma-Aminobuttersäure) ist ein wichtiger Neurotransmitter im Gehirn, der eine hemmende Wirkung auf die Nervenzellaktivität hat. Eine Dysregulation der GABA-ergen Neurotransmission, insbesondere eine verminderte GABA-Aktivität, kann zu einer Übererregbarkeit von Neuronen in der Hörrinde führen.

Studien haben gezeigt, dass bei Tinnitus-Patienten eine verringerte GABA-Aktivität in bestimmten Hirnregionen beobachtet wird, was zu einer erhöhten neuronalen Synchronisation und der Wahrnehmung von Tinnitus führen kann. Die Forscher schlagen vor, dass die Modulation der GABAergen Aktivität durch pharmakologische oder nicht-invasive neurostimulative Techniken zur Linderung von Tinnitus-Symptomen beitragen könnte.

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GABA und die Hörrinde

Wenn ein Hörverlust einen Tinnitus nach sich zieht, so könnten fehlgeleitete Nervenerregungen ähnlich dem Phantomschmerz schuld sein. Tinnitus entsteht nicht im Innenohr, sondern im Gehirn. In der Hörrinde kommt es zu neuronalen Entladungen, die der Patient als Ohrensausen oder -klingeln wahrnimmt.

Die Zerstörung von Haarzellen führt zu einer "Unterbeschäftigung" von Nervenzellen in der Hörrinde. Laut Shaowen Bao von der Universität von Kalifornien in Berkely hat das eine Übererregbarkeit der dortigen Neuronen zur Folge. Es kommt zu Nervenimpulsen, die vom Betroffenen als Ohrgeräusch wahrgenommen werden.

Die Forscher untersuchten Ratten, die an Tinnitus litten, und stellten fest, dass die hemmende synaptische Übertragung in der Hörrinde der Nager reduziert war - und zwar genau in den Gebieten, die keinen auditiven Input mehr erhielten. Die entsprechenden Neuronen waren auf diese Weise leichter erregbar. Möglicherweise ist das eine Strategie, um den neuronalen Aktivitätslevel konstant zu halten und trotz des fehlenden Inputs nicht untätig zu bleiben.

GABA-Spiegel und Tinnitus-Reduktion

Als die Forscher durch Medikamentengabe bei ihren tierischen Probanden den Spiegel des hemmenden Botenstoffs GABA erhöhten, konnten sie keinen Tinnitus mehr feststellen - und zwar völlig unabhängig von der Reorganisation im auditorischen Cortex. Statt der Umbauvorgänge könnte demnach die gesteigerte Erregbarkeit arbeitslos gewordener Neurone der Auslöser des Ohrgeräuschs sein.

In einer kalifornischen Studie hat man eine neue Therapiestrategie geprüft, die die auf Unterbeschäftigung beruhenden spontanen Nervenaktivitäten unterbindet. Eine wichtige Rolle spielt hier die fehlende Hemmung der Neuronaktivität. Im Labor konnte man durch eine Erhöhung der GABA-Spiegel Tinnitus bei Ratten beseitigen.

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Behandlungsansätze

Es gibt verschiedene Ansätze zur Behandlung von Tinnitus, abhängig von der Ursache und dem Schweregrad. Zu den Behandlungsmöglichkeiten gehören:

  • Medikamentöse Therapie: In einigen Fällen können Medikamente wie Antidepressiva, Antikonvulsiva oder durchblutungsfördernde Mittel helfen. Allerdings sind medikamentöse Behandlungen umstritten und sollten nur nach sorgfältiger Abwägung der Nutzen und Risiken eingesetzt werden.

  • Hörgeräte und Masker: Diese Geräte können die Wahrnehmung des Tinnitus übertönen oder verbessern das Hörvermögen, wodurch der Tinnitus weniger auffällig wird. Ein Rauschgenerator (RG; wird wie ein Hörgerät getragen), der mittels leisem Rauschen den Tinnitus-Ton maskiert und so aus der bewussten Wahrnehmung verdrängt.

  • Verhaltenstherapie: Kognitive Verhaltenstherapie (CBT) und Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) können helfen, die emotionale Reaktion auf den Tinnitus zu bewältigen und die Lebensqualität zu verbessern.

  • Entspannungstechniken: Techniken wie Yoga, Meditation und progressive Muskelentspannung können Stress reduzieren, der oft den Tinnitus verschlimmert.

  • Lifestyle-Anpassungen: Eine gesunde Lebensweise, Vermeidung von Lärm, ausreichend Schlaf und eine ausgewogene Ernährung können ebenfalls zur Linderung von Tinnitus beitragen.

  • Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT): Dies ist ein langfristiges Konzept mit mehreren Modulen: ausführliche Beratung und Aufklärung (Counseling), Entspannungstechniken, kognitive Verhaltenstherapie und eventuell Hörtraining (mit RG oder Hörgerät). »Eine entängstigende Aufklärung, die mit den Ursachen und Auswirkungen des Tinnitus vertraut macht, ist die wichtigste Voraussetzung, um den aufreibenden Kreislauf zwischen Tinnitus und Aufmerksamkeit zu beenden«, erklärt ­Goebel.

Studien zu Tinnitus

Zahlreiche Studien haben sich mit den Ursachen, der Diagnose und der Behandlung von Tinnitus auseinandergesetzt. Einige bemerkenswerte Studien sind:

  • Seidman et al. (2003): Untersuchte die Wirkung von Ginkgo biloba auf Tinnitus-Symptome. Die Ergebnisse zeigten, dass Ginkgo biloba bei einigen Patienten die Durchblutung im Innenohr verbessert und zu einer Reduktion der Tinnitus-Symptome führen kann. Die Autoren empfehlen jedoch weitere Studien, um die Wirksamkeit und Sicherheit von Ginkgo biloba bei Tinnitus zu bestätigen. Allerdings zieht eine Cochrane-Metaanalyse dessen Nutzen in Zweifel. Es wurden vier Studien analysiert. Drei davon schlossen 1143 Patienten mit Tinnitus als Hauptbeschwerde ein, an einer ­nahmen 400 Patienten mit milder bis moderater Demenz teil, von denen manche unter Tinnitus litten. Die Autoren fanden keine Evidenz dafür, dass Ginkgo biloba bei Tinnitus effektiv sei.

  • Schaette, R., & McAlpine, D. (2011): Diese Studie zeigt, dass bei Tinnitus Neuronen unmotivierte Signale aussenden - also scheinbar grundlos. Studien in den Proceedings of the National Academy of Sciences (2011; doi: 10.1073/pnas.1107998108) belegen die unter Experten verbreitete Ansicht, nach der die Ohrgeräusche durch eine neuronale Reorganisation im Bereich der Hörrinde entstehen. Vergleichbar wäre das in etwa mit der Entstehung von Phantomschmerzen nach Amputationen.

  • Sedley et al. (2015): Diese Studie zeigt, dass bei Tinnitus-Patienten eine Dysregulation der GABAergen und glutamatergen Neurotransmission vorliegt. Insbesondere wird eine verringerte GABA-Aktivität in bestimmten Hirnregionen beobachtet, was zu einer erhöhten neuronalen Synchronisation und der Wahrnehmung von Tinnitus führen kann.

  • Makar et al. (2018): Diese randomisierte, doppelblinde Studie untersucht die Wirksamkeit eines Vitamin-B-Komplex-Präparats bei der Reduktion von Tinnitus-Symptomen. Die Ergebnisse zeigten, dass Patienten, die das Vitamin-B-Komplex-Präparat einnahmen, eine signifikante Verbesserung ihrer Tinnitus-Symptome im Vergleich zur Placebo-Gruppe erfuhren.

  • Singh et al. (2020): Diese Studie untersucht den Effekt von Vitamin B12 auf Patienten mit idiopathischem Tinnitus. Die Ergebnisse zeigen, dass eine Vitamin B12-Supplementierung bei vielen Patienten zu einer signifikanten Verbesserung der Tinnitus-Symptome führte.

  • Wang et al. (2021): Diese Studie untersucht die GABAerge Funktion und die auditive Signalverarbeitung bei Tinnitus-Patienten. Die Ergebnisse zeigen, dass bei Tinnitus-Patienten eine verminderte GABAerge Hemmung vorliegt, was zu einer gestörten auditiven Verarbeitung und einer erhöhten neuronalen Aktivität führt.

  • Zhang et al. (2022): Diese Meta-Analyse fasst die Ergebnisse mehrerer Studien zur Wirksamkeit von Vitamin-B-Komplex-Supplementen bei Tinnitus zusammen. Die Analyse zeigt, dass Vitamin-B-Komplex-Supplemente bei vielen Patienten eine signifikante Reduktion der Tinnitus-Symptome bewirkten.

  • Clifford et al. (2024): Diese genomweite Assoziationsstudie (GWAS) mit 596.905 Teilnehmern identifizierte neue genetische Loci, die mit Tinnitus in Verbindung stehen. Die Studie ergab, dass mehrere Gene mit den Verbindungen zwischen den Nervenzellen in Zusammenhang stehen, über welche elektrische Signale weitergeleitet werden. Ein Gen namens GRK6, das die GABA-Rezeptoren steuert könnte eine Schlüsselrolle bei der Entstehung des Tinnitus sein. Zudem legt die Studie nahe, dass Dopaminrezeptoren, die ebenfalls von GRK6-Gen gesteuert werden, neue therapeutische Ansätze bieten könnten.

Aktuelle Forschung und Auszeichnungen

Die Deutsche Stiftung Tinnitus & Hören verleiht jährlich einen Forschungspreis für herausragende wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der Ursachenforschung, Früherkennung und Therapie von Tinnitus und weiteren Hörbeeinträchtigungen. Im Jahr 2024 wurde Prof. Dr. Pim van Dijk für seine Forschung zu den Mechanismen des Innenohrs und der Neurophysiologie des Tinnitus ausgezeichnet, insbesondere für seine Arbeit zum Zusammenhang von Tinnitus und abnormaler GABA-erger Hemmung.

Neues Modell zur Entstehung von Tinnitus

Ein internationales Forschungsteam unter der Führung von Dr. Achim Schilling und Dr. Patrick Krauss vom Neurowissenschaftlichen Labor der Hals-Nasen-Ohren-Klinik ‒ Kopf- und Halschirurgie des Uniklinikums Erlangen hat Prozesse im Gehirn identifiziert, die zur Entwicklung eines neuen Modells für die Entstehung und Chronifizierung von Tinnitus beitragen.

Der erste Prozess ermöglicht dem Gehirn, basierend auf vorhandenem Wissen zukünftige Wahrnehmungen vorherzusagen (prädiktive Codierung). Der zweite Prozess steigert die Aktivität von Nervenzellen entlang der Hörbahn durch Hinzufügen von neuronalem Rauschen, um schwache Signale besser wahrzunehmen. Durch ein Zusammenspiel dieser beiden Prozesse kann es dazu kommen, dass das Gehirn das selbst generierte Rauschen als realen Ton interpretiert, wodurch die Phantomwahrnehmung von Tönen beim Tinnitus entsteht.

Die Rolle der Apotheke

Die Apotheke kann Kunden mit Tinnitus einige Ratschläge anbieten. So sollte der Teufelskreis aus Stress, Tinnitus, mehr Stress, mehr Tinnitus nach Möglichkeit unterbrochen werden. Dabei helfen beispielsweise Entspannungstechniken. Völlige Ruhe ist allerdings nicht zuträglich, weil das Geräusch dann überlaut wird und man sich darauf konzentriert. Da es keine für alle passende Heilmethode gibt, sollte der Apotheker dazu raten, verschiedene Therapiekonzepte auszuprobieren. Insgesamt kann man Betroffene beruhigen, denn ihr Leiden ist zwar ein Warnzeichen für Stress, jedoch kein Anzeichen für schwere Erkrankungen wie einen Herzinfarkt oder Atherosklerose.

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