Das menschliche Gehirn, ein komplexes Organ, das für unsere kognitiven Fähigkeiten, Emotionen und Verhaltensweisen verantwortlich ist, besteht aus zwei Hemisphären. Lange Zeit ging man davon aus, dass beide Hälften für eine normale Funktion unerlässlich sind. Doch die Medizin kennt Fälle, in denen Menschen mit nur einer Gehirnhälfte ein überraschend selbstständiges und erfülltes Leben führen. Diese bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit des Gehirns wirft faszinierende Fragen auf und fordert unser Verständnis der neuronalen Organisation heraus.
Die Entdeckung eines halben Gehirns
In Falls Church, Virginia, entdeckten Ärzte bei Michelle Mack mittels eines Kernspintomografen, dass ihre linke Hirnhälfte fast vollständig fehlt. Diese seltene Anomalie, vermutlich verursacht durch einen Schlaganfall vor der Geburt, führte dazu, dass sich die linke Hemisphäre der heute 37-Jährigen nicht ausbildete.
Neuronale Reorganisation und Kompensation
Obwohl durch das Fehlen einer Hirnhälfte wichtige Strukturen für Bewegungssteuerung, Verhalten und geistiges Vermögen fehlen, hat sich die rechte Hirnhälfte von Michelle Mack "neu verdrahtet". Der Neurowissenschaftler Jordan Grafman vom National Institutes of Health (NIH) erklärte, dass die verbliebene Hemisphäre wichtige Funktionen wie Sprechen und Lesen übernommen hat.
Dieser Umstrukturierungsprozess war jedoch nicht einfach. Obwohl Mack normale Sätze bilden und Gesprochenes verstehen kann, hat sie Schwierigkeiten mit räumlichem Vorstellungsvermögen, der Kontrolle ihrer Gefühle und dem Erfassen komplexer Sachverhalte. Trotz dieser Herausforderungen hat sie beschlossen, ihre Geschichte zu teilen, um anderen Mut zu machen.
Hemisphärektomie als Therapie bei schwerer Epilepsie
Ein ähnliches Phänomen beobachtet man bei Patienten mit schwerster Epilepsie, bei denen eine Hemisphärektomie durchgeführt wird. Bei diesem drastischen neurochirurgischen Eingriff wird eine Gehirnhälfte entfernt, um die gesunde Hirnhälfte zu retten und die Verbindungen zwischen beiden Teilen komplett zu kappen.
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Die Folgen einer Hemisphärektomie sind sehr unterschiedlich und hängen davon ab, wie stark die epileptischen Anfälle das Gehirn bereits geschädigt haben. Einige Patienten können nach dem Eingriff gehen und sprechen, sind aber teilweise blind oder gelähmt. Mit der Zeit kann die verbliebene Hirnhälfte die Steuerung übernehmen, sodass die Betroffenen selbstständig leben und sogar normale Jobs ausüben können.
Fallbeispiel Philipp Dörr: Ein Leben ohne links
Philipp Dörr ist ein weiteres beeindruckendes Beispiel für die Wandlungsfähigkeit des Gehirns. Seit seinem elften Lebensjahr lebt er mit einem halben Großhirn, nachdem ihm aufgrund schwerer Epilepsie die linke Hirnhälfte entfernt werden musste. Trotz dieses massiven Eingriffs spielt er Schach, liest Goethe und taucht.
Vor der Operation befürchteten die Ärzte, dass Philipp sich in seiner Persönlichkeit grundlegend ändern würde. Nach der Operation litt er zunächst unter "Neglect", einer Vernachlässigung der linken Raumhälfte. Doch Schritt für Schritt übernahm sein Linkshirn die Aufgaben des Rechtshirns. Zu seinem Erstaunen haben seine intellektuellen Fähigkeiten nicht gelitten, und er steht kurz vor dem Abitur.
Forschungsergebnisse zur neuronalen Plastizität
Die Neurowissenschaftlerin Dorit Kliemann und ihr Team untersuchten sechs Patienten, die seit Jahren mit einem halben Gehirn leben. Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) stellten sie fest, dass die Gehirnaktivität der Probanden mit nur einer Hirnhälfte der von Menschen mit zwei Hemisphären ähnelte. Die einzelnen Netzwerke in den Hirnregionen, die für Sehen, Bewegung, Emotionen und Wahrnehmung verantwortlich sind, waren untereinander sogar stärker verknüpft.
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Gehirn in der Lage ist, den Verlust einer Hirnhälfte durch eine funktionelle Reorganisation zu kompensieren. Die erhöhte Kommunikation zwischen einzelnen Hirn-Netzwerken könnte ein wichtiger Kompensationsmechanismus sein, der den Erhalt der kognitiven Fähigkeiten ermöglicht.
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Die Rolle der funktionellen Konnektivität
Forscher sind sich einig, dass die funktionellen Verbindungen zwischen verschiedenen Hirnregionen entscheidend für unsere kognitiven Fähigkeiten, Emotionen und unser Verhalten sind. Viele der bekannten Netzwerke unseres Denkorgans erstrecken sich über beide Hirnhälften.
Studien haben gezeigt, dass sich in der verbleibenden Gehirnhälfte ungewöhnlich starke Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen Hirn-Netzwerken bilden. Diese erhöhte Konnektivität könnte die Grundlage für den Erhalt der kognitiven Fähigkeiten nach dem Verlust einer Gehirnhälfte bilden.
Nele: Ein halbes Gehirn, das plötzlich besser ist als ein ganzes
Ein weiteres Beispiel für die erstaunliche Anpassungsfähigkeit des Gehirns ist Nele, bei der eine Fehlbildung des Gehirns festgestellt wurde. Vor der Operation litt sie an starken epileptischen Anfällen. Um ihr bestmögliches Leben zu ermöglichen, wurde ihre linke Hirnhälfte funktionell von der rechten abgetrennt.
Seit der Operation ist Nele in ihrer kognitiven Entwicklung verlangsamt, und ihre rechte Körperseite ist gelähmt. Es gibt jedoch Hoffnung, dass sie irgendwann nicht mehr auf Hilfsmittel angewiesen sein wird und sprechen lernen wird. Ihre Eltern arbeiten bereits mit Gebärdensprache, um mit ihr zu kommunizieren.
Hirnasymmetrie: Unterschiede zwischen linker und rechter Hemisphäre
Obwohl das Gehirn in zwei Hälften geteilt ist, ist es nicht genau spiegelbildlich. Die beiden Hemisphären sind auf unterschiedliche Funktionen spezialisiert. So wird beispielsweise die Aufmerksamkeit bei den meisten Menschen überwiegend in der rechten Hemisphäre verarbeitet, die Sprache überwiegend in der linken.
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Diese so genannte Lateralisation ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgeprägt. Studien haben gezeigt, dass sich das auf die Fähigkeiten selbst auswirken kann. Zu wenig asymmetrisch ausgebildete Sprachareale auf der linken Hirnseite werden zum Beispiel als eine mögliche Ursache für Legasthenie vermutet.
Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Hirnasymmetrie
Wissenschaftler haben untersucht, wie sich Asymmetrien entlang von funktionellen Gradienten entwickeln. Es gibt tatsächlich feine Unterschiede darin, wie Hirnregionen unterschiedlicher Funktionen auf der linken und rechten Seite des Gehirns aufreihen. Die individuellen Unterschiede in dieser Anordnung sind vererbbar, aber ein Großteil der Asymmetrie im menschlichen Gehirn lässt sich nicht durch genetische Faktoren erklären. Das könnte darauf hindeuten, dass sie durch persönliche Erfahrungen und Einflüsse aus der Umwelt geprägt ist.
Vergleiche mit Makaken haben gezeigt, dass das Gehirn des Menschen asymmetrischer ist als das von Affen. Die Asymmetrie unseres Gehirns ergibt sich vermutlich aus genetischen Faktoren und solchen, die sich aus persönlichen Erfahrungen ergeben.
Forschung zur Rolle der Hirnasymmetrie bei Entwicklungsstörungen
Forscher wollen verstehen, welche Rolle die feinen Unterschiede zwischen linker und rechter Hemisphäre spielen und wie sie mit verschiedenen Entwicklungsstörungen zusammenhängen könnten. Wenn wir verstehen, wie Asymmetrie vererbt wird, lässt sich auch besser einschätzen, welche Bedeutung genetische und umweltbedingte Faktoren generell für dieses Phänomen haben.
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