Die Frage nach dem freien Willen beschäftigt Philosophen und Wissenschaftler seit Jahrhunderten. In den letzten Jahrzehnten hat die Hirnforschung einen wichtigen Beitrag zu dieser Debatte geleistet. Experimente haben gezeigt, dass neuronale Prozesse bewussten Entscheidungen im Gehirn vorausgehen. Dies hat zu der Frage geführt, ob das Gehirn letztendlich die Entscheidung trifft und wir keinen freien Willen im klassischen Sinne haben.
Das Libet-Experiment und seine Folgen
Eines der bekanntesten Experimente in diesem Bereich ist das von Benjamin Libet in den 1980er Jahren durchgeführte Experiment. Libet bat Versuchspersonen, eine einfache Handbewegung auszuführen, wann immer sie den Drang dazu verspürten. Gleichzeitig sollten sie sich den Zeitpunkt merken, an dem sie sich der Bewegungsintention bewusst wurden. Libet maß auch die Hirnaktivität der Probanden mit Hilfe der Elektroenzephalographie (EEG).
Das Ergebnis war, dass das sogenannte Bereitschaftspotenzial, eine spezifische Hirnaktivität, einige hundert Millisekunden vor der bewusst erlebten Handlungsabsicht auftrat. Dies schien zu belegen, dass das Gehirn die Entscheidung zur Handlung bereits getroffen hatte, bevor die Person sich dessen bewusst wurde.
Dieses Experiment löste eine heftige Debatte über den freien Willen aus. Einige Neurowissenschaftler und Philosophen interpretierten die Ergebnisse als Beweis dafür, dass der freie Wille eine Illusion ist und dass unsere Handlungen durch unbewusste Hirnaktivitäten determiniert sind.
Kritik am Libet-Experiment
Das Libet-Experiment und seine Interpretationen sind im Laufe der Jahre immer wieder kritisiert worden. Ein Kritikpunkt ist, dass sich Libet auf das subjektive Erinnerungsvermögen der Probanden verlassen hat, um den Zeitpunkt der bewussten Intentionsbildung zu bestimmen. Es wurde argumentiert, dass diese Erinnerung ungenau sein könnte.
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Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die Hirnaktivität, die Libet gemessen hat, möglicherweise nicht direkt eine Handlungsabsicht widerspiegelt. Es könnte sich auch um eine allgemeine Vorbereitung auf eine Handlung handeln. Der Psychologe Christoph Herrmann von der Universität Oldenburg vermutet, dass das Bereitschaftspotenzial eine generelle Erwartung widerspiegelt, dass man gleich eine Bewegung vollziehen wird, und keinen spezifischen Willensakt vorbereitet.
Neuere Forschungsergebnisse
Neuere Studien haben versucht, die Mängel des Libet-Experiments zu beheben und ein besseres Verständnis der Beziehung zwischen Hirnaktivität und Willensentscheidungen zu gewinnen.
Eine Studie von John-Dylan Haynes und seinen Kollegen vom Bernstein Center for Computational Neuroscience in Berlin verwendete funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), um die Hirnaktivität von Probanden zu messen, während sie zwischen zwei verschiedenen Handlungen wählten. Die Forscher fanden heraus, dass sie anhand der Hirnaktivität bis zu sieben Sekunden vor der bewussten Entscheidung vorhersagen konnten, welche Handlung die Probanden wählen würden.
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass unbewusste Hirnprozesse eine wichtige Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen. Allerdings betonen die Forscher auch, dass die Vorhersage nicht perfekt ist und dass die Probanden bis zu einem gewissen Punkt in der Lage sind, ihre Entscheidung zu ändern. Prof. Haynes erklärt, dass die Probanden in der Lage waren, aktiv in den Ablauf der Entscheidung einzugreifen und eine Bewegung abzubrechen. Dies deutet darauf hin, dass die Freiheit menschlicher Willensentscheidungen weniger eingeschränkt ist, als bisher angenommen.
Der "Point of No Return"
Die Berliner Wissenschaftler fanden heraus, dass es einen Punkt im zeitlichen Ablauf von Entscheidungsprozessen gibt, ab dem eine Umkehr nicht mehr möglich ist. Diesen Punkt nannten sie den "Point of No Return". Bis zu diesem Punkt können wir eine Entscheidung noch bewusst abbrechen oder verändern.
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Alternative Interpretationen des Bereitschaftspotenzials
Eine neue Erklärung für das Libet-Experiment präsentierte ein Team um Wissenschaftler des Universitätsklinikums Freiburg. Sie sehen den Anstieg des Bereitschaftspotenzials nicht als Ursache von Entscheidung und Handlung, sondern als ein Begleitphänomen. Das frühe Bereitschaftspotential ergibt sich vermutlich aus sehr langsamen Hintergrundschwankungen in der Gehirnaktivität. Schwingen diese langsamen Hirnpotentiale in den negativen Bereich, wird das Gehirn offensichtlich reaktiver: Reaktionszeiten verkürzen sich, die Wahrnehmung wird sensibler.
Die Rolle des Bewusstseins
Die Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass das Bewusstsein möglicherweise nicht der alleinige Urheber unserer Handlungen ist. Unbewusste Hirnprozesse spielen eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung und Initiierung von Handlungen. Allerdings hat das Bewusstsein auch eine wichtige Funktion: Es kann Handlungen überwachen, bewerten und gegebenenfalls abbrechen oder verändern.
John-Dylan Haynes betont, dass die Entscheidung zwar nicht vollständig vorhersagbar ist, weil noch ein Rest Zufall eine Rolle spielt, aber dieser Zufall ist keiner, über den der Proband eine Kontrolle hat. Es ist nicht so, dass man darin seinen Willen ausdrücken kann. Auch diese Entscheidung, eine getroffene Absicht abzubrechen, hat ihre Mechanismen im Gehirn.
Philosophische Implikationen
Die neurowissenschaftliche Forschung zum freien Willen hat wichtige philosophische Implikationen. Wenn unsere Handlungen durch unbewusste Hirnprozesse determiniert sind, bedeutet dies, dass wir nicht wirklich frei sind? Können wir dann für unsere Handlungen verantwortlich gemacht werden?
Philosophen haben verschiedene Kriterien herausgefiltert, die erfüllt sein müssen, damit man von Willensfreiheit sprechen könne. Zum einen das Prinzip des Anderskönnens: Die Person muss eine Wahl zwischen verschiedenen Alternativen haben und hätte sich auch anders entscheiden können. Zum zweiten das Prinzip der Urheberschaft: Die Person selbst muss die Wahl zwischen den Alternativen treffen können. Zum dritten wichtig sei das Prinzip der Autonomie: Die Wahl muss autonom und selbständig, also nicht unter Zwang erfolgen.
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Die philosophische Position des Kompatibilismus geht davon aus, dass Willensfreiheit und (naturwissenschaftlicher) Determinismus kompatibel sind. Auch wenn unsere Handlungen durch Hirnprozesse beeinflusst werden, können wir dennoch frei sein, solange wir in der Lage sind, unsere Handlungen bewusst zu reflektieren und zu steuern.