Die Frage, was den modernen Menschen einzigartig macht, beschäftigt Forscher seit langem. Vergleiche mit unseren nächsten Verwandten, den Neandertalern, ermöglichen faszinierende Erkenntnisse über die menschliche Evolution und die Entwicklung des Gehirns. Obwohl Neandertaler und moderne Menschen ähnlich große Gehirne haben, gibt es subtile, aber entscheidende Unterschiede in der Gehirnstruktur und -entwicklung, die möglicherweise zu unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten geführt haben.
Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Gehirngröße
Anhand von Knochenfunden ist seit langem bekannt, dass Homo neanderthalensis und Homo sapiens ein Gehirn von vergleichbarer Größe hatten. Beim Neandertaler lag das Volumen im Schnitt bei 1.473,46 und beim Homo sapiens bei 1473,84 Kubikzentimetern. Doch ob der Neandertaler allein deswegen auch schon ähnliche kognitive Fähigkeiten besaß wie der moderne Mensch, ist in Forscherkreisen bis heute umstritten - schließlich bestimmt nicht allein die Hirngröße, sondern auch dessen Struktur maßgeblich das Verhalten und die Intelligenz.
Frühe Gehirnentwicklung: Ein entscheidender Unterschied
Ein deutsch-französisches Forscherteam hat die Gehirnentwicklung von modernem Mensch und Neandertaler in den ersten Lebensmonaten verglichen. Demnach ähneln sich die Hirnstrukturen von Homo neanderthalensis und Homo sapiens direkt nach der Geburt sehr stark. Auch die Gehirnentwicklung ab dem zweiten Lebensjahr verläuft annähernd gleich. In der dazwischen liegenden Phase jedoch macht lediglich der Denkapparat des Menschen eine deutliche Veränderung durch: Er nimmt eine stärker kugelförmige Gestalt an als der des Neandertalers, welcher seine längliche Form beibehält.
"Wir konnten zeigen, dass diese frühe Phase der Gehirnentwicklung beim Neandertaler fehlt", sagt Philipp Gunz. Dieses Ergebnis passt zu einer früheren Studie, bei der die Forscher um Gunz die Gehirnentwicklung von Schimpansen und modernen Menschen verglichen hatten. Hierbei hatten sie herausgefunden, dass die Entwicklung der Hirnstrukturen nach dem Durchbrechen der Milchzähne sehr ähnlich verläuft - aber völlig unterschiedlich in den ersten Monaten nach der Geburt.
Das erste Lebensjahr gilt beim Menschen als wichtige Phase für die Entwicklung vieler sozialer, emotionaler und kommunikativer Fähigkeiten. Daher habe der Neandertaler vermutlich ein deutlich anderes Verhalten gezeigt als der moderne Mensch, berichten die Wissenschaftler.
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Die Rolle von TKTL1 bei der Nervenzellbildung
Ein internationales Forscherteam des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden hat gezeigt, dass die Variante des Proteins TKTL1, die moderne Menschen in sich tragen und die sich nur um eine einzige Aminosäure von der Neandertaler-Variante unterscheidet, eine entscheidende Rolle bei der Gehirnentwicklung spielt. Denn diese ist dafür verantwortlich, dass sich ein Typ von Vorläuferzellen des Gehirns, die basalen radialen Gliazellen, im Gehirn von modernen Menschen vermehrt. Basale radiale Gliazellen produzieren den Großteil der Nervenzellen im sich entwickelnden Neokortex, einem Teil des Gehirns, der für viele kognitive Fähigkeiten entscheidend ist.
Anneline Pinson untersuchte die Bedeutung dieser einen Aminosäureänderung für die Entwicklung des Neokortex. Dazu brachten Anneline und ihre Kollegen entweder die TKTL1 Variante des modernen Menschen oder die des Neandertalers in den Neokortex von Mausembryonen ein. Sie beobachteten, dass basale radiale Gliazellen, die Art von neokortikalen Vorläuferzellen, von denen man annimmt, dass sie die treibende Kraft für ein größeres Gehirn sind, mit der Moderne-Menschen-Variante von TKTL1 vermehrt wurden. Mit der Neandertaler-Variante vermehrten sie sich nicht.
Anschließend untersuchte das Forscherteam, welche Relevanz diese Ergebnisse für die Entwicklung des menschlichen Gehirns haben. Dazu ersetzten sie das Arginin in TKTL1 des modernen Menschen durch das für das TKTL1 des Neandertalers charakteristische Lysin. Dabei kamen menschliche Hirnorganoide zum Einsatz - organähnliche Miniaturstrukturen, die aus menschlichen Stammzellen in Zellkulturschalen im Labor gezüchtet werden können und die Aspekte der frühen menschlichen Gehirnentwicklung nachahmen. „Wir fanden heraus, dass mit dem Neandertaler-Typ der Aminosäure in TKTL1 weniger basale radiale Gliazellen produziert wurden als mit dem Moderne-Menschen-Typ, und folglich auch weniger Nervenzellen“, sagt Anneline Pinson. „Obwohl wir nicht wissen, wie viele Nervenzellen das Neandertaler-Gehirn hatte, können wir annehmen, dass moderne Menschen mehr Nervenzellen im Frontallappen des Gehirns haben, wo die TKTL1-Aktivität am höchsten ist, als Neandertaler.“
Unterschiede in der Chromosomenverteilung
Forscher des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) in Dresden und des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA) in Leipzig haben herausgefunden, dass neurale Stammzellen - die Zellen, die der Ursprung für die Nervenzellen im sich entwickelnden Neokortex sind - beim modernen Menschen sich mehr Zeit nehmen, um ihre Chromosomen auf die Zellteilung vorzubereiten, als beim Neandertaler. Dies führt zu weniger Fehlern bei der Verteilung der Chromosomen auf die Tochterzellen bei modernen Menschen im Vergleich zu Neandertalern oder Schimpansen und könnte Auswirkungen auf die Entwicklung und Funktion des Gehirns haben.
Felipe Mora-Bermúdez beschreibt die Forschungsergebnisse: „Wir fanden heraus, dass drei Aminosäure-Veränderungen des modernen Menschen in zwei dieser drei Proteine, nämlich in KIF18a und KNL1, eine längere Metaphase verursachen, eine Phase, in der die Chromosomen für die Zellteilung vorbereitet werden. Dies führt zu weniger Fehlern bei der Verteilung der Chromosomen auf die Tochterzellen der neuralen Stammzellen, genau wie beim modernen Menschen.“
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Um zu überprüfen, ob die Neandertaler-Aminosäuren den entgegengesetzten Effekt haben würden, konvertierten die Forschenden die drei moderne-Menschen-Aminosäuren zurück in den Neandertaler-Zustand, und zwar in sogenannten menschlichen Hirnorganoiden - gehirnähnliche Miniaturstrukturen, die aus menschlichen Stammzellen in Zellkulturschalen im Labor wachsen können und welche die frühe menschliche Gehirnentwicklung nachahmen. „In diesem Fall verkürzte sich die Metaphase und wir fanden mehr Fehler bei der Chromosomenverteilung.“ Laut Mora-Bermúdez zeigt dies, dass diese drei Aminosäureveränderungen in den Proteinen KIF18a und KNL1 dafür verantwortlich sind, dass beim modernen Menschen weniger Chromosomenverteilungsfehler auftreten als bei Neandertalern und Schimpansen.
Gehirnstruktur und soziale Fähigkeiten
Eine Studie eines britischen Forscherteams legt nahe, dass beim Neandertaler sehr große Teile des Gehirns für das Sehen und das Steuern des großen, kräftigen Körpers reserviert waren. Für andere höhere Hirnleistungen blieb daher nur noch relativ wenig an Kapazität übrig.
Beim direkten Vergleich gibt es praktisch keinen Unterschied in der Hirngröße der beiden Menschenarten. Rechnet man jedoch das Sehzentrum und die Körpersteuerung heraus, bleiben beim Homo sapiens noch 1332,41 und beim Neandertaler nun noch 1133,98 Kubikzentimeter übrig. Auch wenn diese Differenz nicht extrem erscheint, könnte sie doch den entscheidenden Unterschied gemacht haben. Es gibt nämlich einen direkten Zusammenhang mit der Gehirngröße eines Lebewesens und seiner Fähigkeit, in Gruppen zu leben. Je größer das Gehirn und speziell bestimmte Teile des Frontallappens, desto besser funktioniert das Leben in größeren Gruppen. Kleinere Gruppen bedeuteten auch ein kleineres insgesamt besiedeltes Gebiet und damit schlechtere Handels- und Tauschmöglichkeiten sowie weniger Zugang zu zusätzlichen Ressourcen in schlechten Zeiten.
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