Gehirn und Denken: Eine Erkundung der Zusammenhänge

Das menschliche Gehirn, ein faszinierendes und komplexes Organ, ist der Sitz unseres Denkens, Lernens und Erinnerns. Es ist ein Wunderwerk der Natur, das uns ermöglicht, die Welt um uns herum zu verstehen, zu interpretieren und auf sie zu reagieren. In diesem Artikel werden wir uns mit den vielfältigen Aspekten des Gehirns und Denkens befassen und die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaften untersuchen.

Die flexible Vernetzung des Gehirns

Das Gehirn erreicht zwar nicht die Geschwindigkeit eines Computers, übertrifft diesen jedoch in seiner Lernfähigkeit und seinem Erinnerungsvermögen. Grundlage dafür ist die flexible Vernetzung von über 100 Milliarden Nervenzellen. Diese Nervenzellen kommunizieren miteinander über spezielle Strukturen, die als Synapsen bezeichnet werden. Eine wichtige Rolle spielen dabei Dornfortsätze, auch „dendritische Spines“ genannt. Diese feinsten Nervenzellausläufer werden beim Lernen und Erinnern stetig umgebaut.

Lernen und Umbau der Dornfortsätze

Eine aktuelle Publikation Tübinger Hirnforscher im Journal of Neuroscience zeigt, wie diese Netzwerkarbeit die plastischen Verbindungen zwischen den Nervenzellen - den Dornfortsätzen - verändert. Mittels der Zwei-Photonenmikroskopie konnten die Forscher einzelne Dornfortsätze im lernenden Gehirn von Mäusen beobachten: Je länger der Lernprozess voranschritt und je besser die individuelle Lernleistung war, desto stärker wurden die Dornfortsätze abgebaut.

Um dem Gehirn der Mäuse beim Lernen zusehen zu können, trainierten die Forscher sie auf eine einfache Lernaufgabe: Die Assoziation eines Berührungsreizes an ihren Tasthaaren mit einem darauffolgenden kleinen Luftstoß gegen die Augen. Es wurden im Mittel 15 Prozent der Dornfortsätze abgebaut, je länger der Lernprozess voranschritt und je besser war die individuelle Lernleistung der Maus.

Assoziatives Gedächtnis und komplexe Denkvorgänge

Dies ist besonders einleuchtend, wenn man assoziatives Gedächtnis verstehen möchte. Dabei gilt es, Informationen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, aufzunehmen, zu verknüpfen und als sinnvollen Zusammenhang zu speichern. Solche Verknüpfungen (oder Assoziationen) liegen auch den komplexesten Denkvorgängen zugrunde. „Nur wenn die beiden höchst unterschiedlichen Signale miteinander verknüpft werden, erfolgt ein Umbau an den Kontaktstellen der miteinander kommunizierenden Nervenzellen.

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Räumliche Orientierung und das Navigationssystem des Gehirns

Die Forschung über das Navigationssystem des Gehirns hat eine neue Ebene erreicht. Wenn wir uns in unserer Umgebung orientieren, geschieht das vor allem durch die Arbeit zweier Zelltypen in unserem Gehirn: Die Ortszellen im Hippocampus und die Rasterzellen in einem benachbarten Hirnareal, dem entorhinalen Kortex. Gemeinsam bilden sie einen Schaltkreis im Gehirn zur räumlichen Orientierung.

Kognitive Räume und mentale Karten

„Wir nehmen an, dass das Gehirn alle Informationen, die wir aus der Umgebung aufnehmen, in sogenannten kognitiven Räumen speichert. Als kognitive Räume werden dabei innere Karten bezeichnet, in denen wir mental die komplexe Realität vereinfacht anordnen und abspeichern. Jedes Objekt, egal ob Personen oder Gegenstände, trägt verschiedene Eigenschaften, die sich entlang von Skalen einordnen lassen. Ähnliches würde geschehen, wenn wir an Freunde oder Verwandte denken, die wir ebenfalls entlang von Größenachsen ordnen, etwa entlang ihrer Körpergröße, ihres Humors oder auch ihres Einkommens, sodass wir sie dann als eher groß oder klein, humorvoll oder humorlos, mehr oder weniger wohlhabend abspeichern.

Die Rolle der Orts- und Rasterzellen

Ausgangspunkt waren dabei zwei später mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Entdeckungen aus den Jahren 1971 und 2005 zur Rolle der Orts- und Rasterzellen im Gehirn von Nagetieren während der Orientierung. Sie zeigen jeweils ein einzigartiges Aktivitätsmuster, je nachdem wo sich das Tier gerade in einem Raum aufhält, während es nach Futter sucht. Diese sehr regelmäßigen Aktivitätsmuster der Rasterzellen zeigen sich auch beim Menschen - und zwar nicht nur, wenn er durch geografische Räume navigiert, sondern auch während er sich geistige Konzepte erschließt.

Die Kartografie des Denkens: Connectomics

Um zu verstehen, wie wir denken, lernen oder uns erinnern, müssen wir die Struktur unseres Gehirns entschlüsseln. „Connectomics“ heißt dieses relativ neue Gebiet der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung. Dabei geht es auch darum, die Unterschiede in den Gehirnstrukturen von Menschen und anderen Säugetieren zu erfassen.

Unterschiede zwischen menschlichem Gehirn und Mäusehirn

Unser Gehirn ist zum Beispiel vom Volumen her ungefähr eintausend Mal so groß wie das einer Maus. Aber unterscheidet sich ein menschliches Gehirn auch auf der neuronalen Ebene vom Mäusehirn? Also darin, wie die Nervenzellen miteinander kommunzieren? Ja, das tut es tatsächlich - und zwar auf unerwartete Weise. Sowohl Menschen als auch Mäuse, haben erregende und hemmende Nervenzellen. Doch Menschen haben viel mehr hemmende Nervenzellen als Mäuse. Unser Gehirn ist so geschaltet, dass Signale gebremst und wieder losgelassen und wieder gebremst werden. Das Gehirn der Maus funktioniert nicht so. Es könnte daher sein, so Moritz Helmstaedter, dass dieser Mechanismus dazu beiträgt, dass wir Gedanken länger im Kopf behalten können als Mäuse.

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Die Anzahl unserer Gedanken: Mythos und Realität

In der Literatur findet man immer wieder Hinweise darauf, dass der Mensch angeblich pro Tag ungefähr 60.000 bis 80.000 Gedanken denkt. Eine Studie aus dem Jahre 2020 von JULIE TSENG und JORDAN POPPENK von der Queen’s University mit 184 Teilnehmern stellt den weit verbreiteten Mythos in Frage, dass Menschen täglich zwischen 60.000 und 80.000 Gedanken haben. Stattdessen deutet die Forschung darauf hin, dass wir eher auf etwa 6.000 Gedanken pro Tag kommen, wenn man ihre Ergebnisse extrapolieren würde.

Gedankenwürmer und Neurotizismus

Die Forscher konzentrierten sich darauf, wie sich die neuronale Aktivität im Gehirn während des Denkens verändert, insbesondere auf die Übergänge zwischen verschiedenen Denkzuständen. Mit Hilfe von Hirnscans (fMRT-Technologie) beobachteten sie den Übergang von einem Gedanken zum nächsten und identifizierten dabei sogenannte “Gedankenwürmer”. Diese bestehen aus aufeinanderfolgenden Perioden, in denen wir denselben Gedanken denken.

Die Studie untersuchte auch den Zusammenhang zwischen Übergängen in der Netzwerkaktivität des Gehirns und dem Persönlichkeitsmerkmal Neurotizismus. Die Ergebnisse zeigten, dass Personen mit höherem Neurotizismus tendenziell eine höhere Rate von Übergängen in der Netzwerkaktivität aufwiesen, sowohl im Ruhezustand als auch beim Ansehen von Filmen.

Biochemische Prozesse beim Denken

Jeder Gedanke, wenn ein bestimmtes Aktionspotential erreicht wird, löst im Gehirn eine biochemische Reaktion aus. Botenstoffe (Neurotransmitter, Neuropeptide und Hormone) werden ausgeschüttet. Bei negativen Gedanken werden zum Beispiel Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol, Cytokine und Histamine ausgeschüttet, bei positiven Gedanken Serotonin, Oxytocin, Dopamin, Endorphine und Vasopressin. Diese Botenstoffe führen zu negativen oder positiven Emotionen. Auch auf der Körperebene nehmen wir die Gedanken schlussendlich wahr, zum Beispiel als Kloß im Hals, als Druck im Magen oder als verspannte Schultern.

Mentaltraining und positive Gedanken

Mentaltraining zeichnet aus, dass wir entscheiden können, wie wir denken. Wer ist verantwortlich für unser Denken? Ja genau, nur wir selbst! Und weil wir ohnehin den ganzen Tag denken, können wir entscheiden, unsere Gedanken in eine für uns positive Richtung zu lenken. Veränderungen sind jederzeit möglich.

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Neuroplastizität: Die Veränderbarkeit des Gehirns

Neuroplastizität umschreibt die Fähigkeit unseres Gehirns, lebenslang veränderungs- und lernfähig zu sein. Die Plastizität ist immer gegeben, in unserem Gehirn finden ständig Aufbau- und Abbauprozesse statt. Bei Veränderungen werden neue Schaltkreise werden gebildet, d. h. wenn wir Neues lernen, eine neue berufliche Herausforderung haben, uns sportlich betätigen oder meditieren. Alte Schaltkreise werden abgebaut, wenn wir sie nicht mehr nutzen, z. B. wenn wir einen alten Glaubenssatz, der uns blockiert hat, durch eine neue Überzeugung ersetzen.

Die Auswirkungen von Gedanken auf die Gehirnstruktur

Wissenschafter haben untersucht, wie das Gehirn sich beim Lernen verändert. PASCUAL-LEONE et al. haben in einer oft zitierten Untersuchung gezeigt, dass alleine die Gedanken in der Lage sind, die physische Struktur des Gehirns zu verändern. In seinem Experiment bildete er zwei Testgruppen, die noch nie in ihrem Leben Klavier gespielt haben. Die erste Gruppe hatte im Training die Aufgabe, sich nur vorzustellen, die Tasten der Tonfolge zu drücken. Die zweite Gruppe spielte die Tonfolge im Training real am Klavier. Pascual-Leone stellte dabei fest, dass sich die Gehirne beider Gruppen auf ähnliche Weise verändert haben. Sowohl die praktische Übung mit dem Klavier als auch die rein mentale Vorstellung schien eine Veränderung im Bewegungszentrum des Gehirns zu bewirken. Es wurden neue Synapsen gebildet und vorhandene Synapsen wurden verstärkt.

Das Gehirn als "kognitiver Delfin"

Die spielerische und gleichzeitig effektive Akrobatik der Zahnwale ist eine fruchtbare Metapher für das, was passiert, wenn wir denken. Was die meisten von uns immer noch als "unsere eigenen bewussten Gedanken" bezeichnen, sind in Wirklichkeit eher so etwas wie kognitive Delfine in unserem Kopf, die für kurze Zeit aus dem Ozean unseres Unterbewusstseins auftauchen, bevor sie wieder abtauchen.

Mentales Schlafwandeln und der Mythos der Autonomie

Eines der interessantesten aktuellen Forschungsgebiete in den Neurowissenschaften und der experimentellen Psychologie ist der anscheinend ziellos umherschweifende Geist, das Tagträumen, die ungebetenen Erinnerungen und das automatische Planen. Dabei geht es um das, was ich selbst "mentales Schlafwandeln" nenne, also das permanente Auftreten anscheinend spontaner, aufgabenunabhängiger Gedanken, der sich täglich hundertfach wiederholende Verlust der Aufmerksamkeitskontrolle. Das autonome "Selbst" als Initiator oder Ursache unserer kognitiven Handlungen ist ein weit verbreiteter Mythos, denn wenn man den Traumzustand hinzunimmt, dann besitzen Wesen wie wir geistige Autonomie nur für etwa ein Drittel unserer bewussten Lebenszeit.

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