Das Gehirn ist die Schaltzentrale unseres Körpers und der Sitz unseres Bewusstseins. Es ist das Organ, das uns Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Es steuert unsere Gedanken, Emotionen, Reflexe und Reaktionen auf die Welt um uns herum. Doch was genau ist Bewusstsein? Wie koordiniert unser Gehirn komplexe Bewegungsabläufe? Wie nehmen wir unsere Umwelt wahr, und wie entstehen Gefühle? Und gibt es so etwas wie einen freien Willen?
Die Evolution des Gehirns: Drei zentrale Instanzen
Das menschliche Gehirn hat sich über Millionen von Jahren entwickelt und besteht aus drei zentralen Instanzen, die unser Denken, Fühlen und Handeln steuern: den Diplomaten, den Automaten und den Primaten.
Der Diplomat: Dieser jüngste Teil des Gehirns, der sich im präfrontalen Kortex befindet, ist für rationale Entscheidungen, kognitives Denken und Empathie zuständig. Hier finden bewusste Reflexion, Selbstkontrolle und strategische Planung statt. Unter Stress oder bei Überlastung wird der Diplomat oft "ausgeschaltet", wodurch andere Instanzen die Kontrolle übernehmen.
Der Automat: Auch als limbisches System oder Säugetiergehirn bekannt, ist der Automat etwa 150 Millionen Jahre alt. Er speichert erlernte Verhaltensweisen, Emotionen und kulturelle Programme. In sozialen Interaktionen läuft der Automat oft auf Autopilot, was erklärt, warum Menschen immer wieder auf die gleiche Weise reagieren, selbst wenn sie anders handeln möchten.
Der Primat: Mit rund 300 Millionen Jahren ist das Reptiliengehirn der älteste Teil unseres Gehirns. Hier sitzen unsere Reflexe und instinktiven Reaktionen. Der Primat sorgt dafür, dass wir im Bruchteil einer Sekunde entscheiden, ob wir kämpfen, fliehen oder erstarren. Diese Funktion war in der Steinzeit überlebenswichtig, kann aber heute in stressigen Situationen zu unüberlegten Reaktionen führen.
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Jede dieser Instanzen ist wichtig, aber die Frage ist, wer wen steuert. Sind wir wirklich so bewusst und rational, wie wir glauben?
Stress und seine Auswirkungen auf das Gehirn
In Stresssituationen reagieren Menschen oft unbewusst und greifen auf automatische Muster zurück. Das Gehirn spart Energie, indem es bekannte Verhaltensweisen abruft, anstatt neue Lösungen zu suchen. Dies geschieht, weil der präfrontale Kortex, der für rationales Denken, bewusste Entscheidungen, Selbstreflexion und Empathie zuständig ist, viel Energie benötigt und daher unter Stress heruntergefahren wird. Stattdessen übernimmt das limbische System die Steuerung, indem es Emotionen und gespeicherte Verhaltensmuster aktiviert. Im Extremfall aktiviert das Reptilienhirn Reflexe, die für sofortige Überlebensreaktionen wie Flucht, Kampf oder Erstarrung sorgen.
Das Ergebnis ist, dass Menschen unter Druck oft impulsiv handeln, ohne sich der Alternativen bewusst zu sein. Diese Dynamik entsteht meist unbewusst und verhindert eine echte Klärung von Konflikten. Wenn Stress abnimmt, kann das Gehirn wieder auf bewusstes Denken umschalten. Dann wird es möglich, nicht nur Muster zu erkennen, sondern auch neue Handlungsweisen zu entwickeln.
Top-Down vs. Bottom-Up: Zwei Wege der Informationsverarbeitung
Das Gehirn verarbeitet Informationen auf zwei Wegen: Top-Down und Bottom-Up.
Top-Down-Steuerung: Hier übernimmt der Diplomat die Kontrolle. Der präfrontale Kortex analysiert eine Situation, wägt Argumente ab und trifft eine bewusste Entscheidung. Dieser Prozess ist langsam, energieaufwendig und erfordert Konzentration. Wer sich in einem Gespräch aktiv bemüht, wirklich zuzuhören, anstatt sofort zu antworten oder zu bewerten, nutzt diesen Mechanismus. Das Gehirn schaltet diesen Modus jedoch nur dann ein, wenn ausreichend Energie vorhanden ist und keine akute Bedrohung wahrgenommen wird.
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Bottom-Up-Prozesse: Diese verlaufen unbewusst und sind darauf ausgelegt, schnell auf Umweltreize zu reagieren. Der Automat und der Primat arbeiten hier eng zusammen, um Situationen intuitiv zu bewerten und Handlungen blitzschnell auszuführen. Bottom-Up-Prozesse sind jedoch auch fehleranfällig, da sie auf gespeicherten Mustern beruhen und Situationen vorschnell mit ähnlichen aus der Vergangenheit gleichsetzen können.
Ob das Gehirn eher Top-Down oder Bottom-Up gesteuert wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab. In einem ruhigen Umfeld mit wenig Ablenkung fällt es leichter, bewusst zu denken und rationale Entscheidungen zu treffen. Auch die digitale Welt verstärkt diesen Mechanismus. Permanente Reizüberflutung, schnelle Informationswechsel und ständige Erreichbarkeit aktivieren das automatische System, während die Fähigkeit zu fokussiertem Denken geschwächt wird.
Die Plastizität des Gehirns: Lernen und Anpassung
Eine der wichtigsten Eigenschaften des Gehirns ist seine Lernfähigkeit. Bis vor wenigen Jahren galt unter Wissenschaftlern als ausgemacht, dass sich das Gehirn eines Erwachsenen nicht mehr verändert. Heute weiß man jedoch, dass das Gehirn bis ins hohe Alter laufend umgebaut wird. Manche Neurobiologen vergleichen es sogar mit einem Muskel, der trainiert werden kann. Die Vorstellung, dass das Gehirn ein Leben lang lernfähig bleibt, ist aus wissenschaftlicher Sicht unbestritten.
Lernen findet an den Synapsen statt, also den Orten, an denen die elektrischen Signale von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen werden. Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass Synapsen die Effektivität der Übertragung variieren können. Man bezeichnet dieses Phänomen auch als synaptische Plastizität. So kann eine Synapse durch einen Vorgang namens Langzeitpotenzierung (LTP) verstärkt werden, indem sie mehr Botenstoff ausschüttet oder mehr Botenstoffrezeptoren bildet. Die Übertragung von Signalen kann aber nicht nur verstärkt oder abgeschwächt werden, sie kann auch überhaupt erst ermöglicht oder völlig gekappt werden. So wissen Neurowissenschaftler heute, dass Synapsen selbst im erwachsenen Gehirn noch komplett neu gebildet oder abgebaut werden können. An wenigen Stellen wie zum Beispiel im Riechsystem können sogar zeitlebens neue Nervenzellen gebildet werden. Es ist also nicht übertrieben, wenn man sagt: Unser Gehirn gleicht zeitlebens einer Baustelle.
Seine Plastizität hilft dem Gehirn zudem, Schäden zumindest teilweise zu reparieren. Sterben beispielsweise bei einem Schlaganfall Nervenzellen ab, können benachbarte Hirnregionen die Aufgaben des betroffenen Gebiets zum Teil übernehmen.
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Die Verschaltung des Gehirns: Ein komplexes Netzwerk
Das menschliche Gehirn lässt sich nach verschiedenen Kriterien untergliedern. Entwicklungsgeschichtlich beispielsweise besteht es wie das aller Wirbeltiere aus dem End-, Zwischen-, Mittel-, Hinter- und Markhirn, auch als Tel-, Di-, Mes-, Met- und Myelencephalon bezeichnet. Besonders auffällig ist die zum Endhirn gehörende sogenannte Großhirnrinde, der sogenannte Kortex. Sie ist im Laufe der Evolution so stark gewachsen, dass sie fast das gesamte Gehirn umgibt. Die Großhirnrinde ist Sitz vieler höherer geistiger Fähigkeiten. Einzelne Bereiche haben dabei unterschiedliche Aufgaben. So sind manche Areale darauf spezialisiert, Sprache zu verstehen, Gesichter zu erkennen oder Erinnerungen abzuspeichern. In der Regel ist aber keine Region allein für eine bestimmte Fähigkeit verantwortlich, sondern nur im Zusammenspiel mit anderen.
Welche Gehirngebiete miteinander verbunden sind, untersuchen Wissenschaftler mithilfe der sogenannten Magnetresonanztomografie (MRT). Mit dieser Technik können sie die zu Fasersträngen gebündelten Fortsätze von Nervenzellen sichtbar machen, die die Areale der Großhirnrinde miteinander verbinden.
Das Gehirn als soziales Organ
Das Gehirn ist nicht nur für unser individuelles Denken, Fühlen und Handeln verantwortlich, sondern auch für unsere sozialen Interaktionen. Es ermöglicht uns, die Welt und uns selbst zu erspüren, und beeinflusst maßgeblich, wie wir denken und handeln. Gestik und Körperhaltung haben einen Einfluss auf unser Verhalten, und es macht einen Unterschied, ob wir uns selbst oder etwas Fremdes fühlen.
Das Gehirn hat ein genaues Bild davon, wie unser Körper aussieht und welche Empfindungen er aussenden sollte. Manchmal jedoch passen Erwartung und Realität nicht zusammen, was zu Phänomenen wie Phantomschmerzen führen kann.
Fühlen, Denken, Handeln: Die Rolle des limbischen Systems
Gerhard Roth argumentiert, dass das Gefühl, das limbische System, das erste und das letzte Wort hat. Das Gefühl erzeugt in uns Wünsche, Pläne und Absichten und stößt damit unser bewusstes Denken an. Unser Verstand wird eingesetzt, wenn Gefühle keine fertigen Rezepte haben, wenn etwas so komplex ist, dass die Gefühle damit nicht fertig werden. Denn Gefühle sind einfach strukturiert und können große Datenmengen nicht schnell miteinander verbinden.
Das Bewusstsein ist aus dieser Sicht eine Art Großrechner ohne Entscheidungsgewalt. Bei der Frage, was getan oder unterlassen wird, darf es nicht mitreden. Erste und letzte Handlungsgründe werden im Limibischen System verhandelt, in jener Ebene des Gehirns also, die uns gerade nicht bewusst ist.
Die Illusion des Ich und des freien Willens
Experimente zeigen, dass sich schon etwa 350 Millisekunden vor der bewussten Entscheidung für eine Handlung ein Bereitschaftspotential nachweisen lässt. Der Willensakt tritt also auf, nachdem das Gehirn bereits entschieden hat, welche Bewegung es ausführen wird. Trotzdem aber tut das Ich so, als ob es bewusst handelt.
Das Ich ist eine wichtige Instanz, denn ohne diesen virtuellen Akteur könnten wir sozial nicht überleben. Es ist aber ein virtueller Akteur, eine Lupe sozusagen, ein Hilfsmittel, das selbst nichts tut. Es ist, wenn man es zynisch sagen will, eine Benutzeroberfläche, mit der man Dinge viel besser handhaben kann. Das Ich ist eine Instanz, die hartnäckig ihren Produzenten leugnet.
Da unser Ich nur begrenzte Einsicht in die Antriebe unseres Verhaltens hat, ist die subjektiv empfundene Freiheit des Wünschens, Planens und Wollens eine Illusion.