Lesen ist mehr als nur das Entschlüsseln von Buchstaben; es ist ein aktiver Denkprozess, der unser Verständnis erweitert und uns neue Perspektiven eröffnet. Jorge Luis Borges drückte dies treffend aus: "Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn". Dieser Artikel beleuchtet die Bedeutung des Lesens, insbesondere im akademischen Kontext, und untersucht, wie wir wissenschaftliche Texte effektiv nutzen können, um unser eigenes Denken zu schärfen.
Die Wahl des Lesestoffs
Die Entscheidung, was wir lesen, ist oft von persönlichen Vorlieben, Empfehlungen oder dem Wunsch, im sozialen Umfeld mitzureden, beeinflusst. Wir lesen, weil uns ein Thema interessiert oder weil wir unser soziales Umfeld beeindrucken wollen. Pierre de La Gorçe soll gesagt haben: „Sage mir, was du liest und ich sage dir, was du bist“. Die Vorstellung, einen Text zu lesen, der von jemand anderem ausgewählt wurde, mag zunächst als Zumutung erscheinen. Doch gerade in Hochschulen ist das Lesen von Texten, die von Dozenten vorgegeben werden, ein zentrales Instrument akademischer Erziehung.
Wissenschaftliches Lesen als Instrument akademischer Bildung
Das Lesen wissenschaftlicher Texte unterscheidet sich wesentlich vom Lesen zur Unterhaltung. Es ist ein Handwerk, das gelernt sein will. Wissenschaftliche Texte sind im Grunde Argumentationen in Schriftform und unterscheiden sich von Romanen und Gedichten vor allem darin, dass sie sowohl unsere Erinnerungsfähigkeit als auch unsere Fähigkeit, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, besonders beanspruchen. Hierbei geht es nicht nur um das bloße Aufnehmen von Informationen, sondern um das kritische Hinterfragen und Analysieren des Gelesenen.
Herausforderungen beim Lesen wissenschaftlicher Texte
Eine der größten Herausforderungen besteht darin, den roten Faden eines Textes zu erkennen und ihm zu folgen. Wir müssen jederzeit im Kopf behalten, was sein Ausgangspunkt war: Von welchem wissenschaftlichen Problem geht der/die Autor:in aus, um es in seinem/ihrem Artikel oder in seiner/ihrer Monografie zu behandeln? Welche Behauptung stellt der/die Autor:in auf, von der er/sie ihre Leser:in so umfassend wie möglich überzeugen möchte? Es gilt, sich nicht von jedem Detail ablenken zu lassen, sondern die Kernaussagen zu identifizieren und die Schlüssigkeit der Argumentation zu prüfen. Kurz: Wir stehen als erstes vor der Aufgabe, die Kernaussagen eines Textes zu identifizieren und uns klar zu machen, dass wir vieles, was der Text enthält, auch vergessen dürfen.
Der Standpunkt des Lesers
Das Lesen wissenschaftlicher Literatur erfordert auch, dass wir uns unseres eigenen Standpunkts bewusst sind. Es ist zu entscheiden, ob der Text für das Projekt überhaupt relevant ist und, wenn ja, in Bezug auf welche Frage eigentlich. Was ist der spezifische Grund, weswegen wir den Text in die Hand nehmen? Nehmen wir zum Beispiel Joseph Bensmans und Israel Gervers berühmte „Gewindebohrerstudie“, in der sich die beiden damit beschäftigen, dass es in einer von ihnen untersuchten Flugzeugfabrik zwar strikt verboten ist, einen Gewindebohrer zu nutzen, es viele aber dennoch machen. Andernfalls ließen sich einzelne Teile, die nicht gut aufeinanderpassen, gar nicht zusammenbauen. Die Studie lässt sich aus ganz verschiedenen Blickwinkeln lesen: wie und mit welchem Material man eine Fallstudie schreibt (Fokus: Methode), wie die Fabrikarbeiter es schaffen, den Einsatz des verbotenen Werkzeugs vor offiziellen Stellen zu verbergen (Fokus: Praxis), oder dass Organisationen formale und informale Strukturen ausdifferenzieren (Fokus: Theorie). Wir stehen damit als zweites vor der Aufgabe, uns den Standpunkt zu vergegenwärtigen, von dem aus wir den Text betrachten, und auch ihn während des Lesens zu erinnern.
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Intuition und Systematik
Studierende gehen sehr kreativ mit zugemuteten Texten um. In einem Seminar mit fortgeschrittenen Bachelorstudierenden forderte ich die Teilnehmenden auf, mir auf zwei bis drei Seiten zu erläutern, wie sie wissenschaftliche Texte lesen und warum ihre Methode die beste ist. Sie hatten dafür über die Weihnachtspause Zeit. Das ‚Wie?‘ konnten die meisten Schreiber:innen (N=21) gut für sich beantworten, auch wenn ich mitunter den Eindruck hatte, dass manche hier sozial erwünschte Aussagen machten, sich aber faktisch selten an ‚ihre‘ Methode hielten. Erstaunlich war, dass niemand - ohne Ausnahme! - einen Ratgeber nannte oder auf eine in Fachkreisen etablierte Lesemethode wie SQ3R oder PQ4R verwies, an der er/sie sich ursprünglich einmal orientiert hatte oder immer noch orientiert. Eine Erklärung, die die Studierenden in der gemeinsamen Auswertung ihrer Beiträge fanden, war, dass die Frage, wie man wissenschaftliche Texte liest, in ihrem Studium bisher kein Thema war. Dozent:innen setzen die Fähigkeit zu lesen und zu verstehen schlicht voraus. Dabei kann es sich durchaus lohnen, sich mit dem Lesen wissenschaftlicher Texte systematisch statt bastelnd zu beschäftigen. Letztlich ist es ‚nur‘ ein Handwerk, das Tricks, Kniffe, und Abkürzungen umfasst, um große Textmengen bearbeitbar zu machen. Jede:r kann es mithilfe expliziter Reflexion lernen - und sollte damit so früh wie möglich beginnen.
Praktische Anlässe und Herausforderungen
Es gibt viele Gründe, sich intensiv mit wissenschaftlichen Texten auseinanderzusetzen. Wir merken, dass die Dozentin, deren Veranstaltung wir besuchen, die Lektüre der genannten Literatur tatsächlich ernst nimmt. Weil die Texte unsere zentrale Arbeitsgrundlage darstellen, macht es keinen Sinn, unvorbereitet zum Seminar zu erscheinen. Es werden weder Referate gehalten, die über die Inhalte informieren, noch gibt es eine zu lang geratene Präsentation der Seminarleiterin, deren Kernpunkte man fleißig abschreibt, ohne nennenswert über das Gesagte nachzudenken. Stattdessen folgt die Dozentin dem fast schon romantischen Ideal, dass Seminare aus lebhaften Diskussionen bestehen und Texte gemeinsam erarbeitet werden. Daran können wir uns nur dann beteiligen, wenn wir den zugemuteten Artikel oder den Auszug aus einer Monografie bereits im Vorfeld durchgearbeitet haben. Wir stellen immer wieder fest, dass wir uns übermäßig lange mit den zu lesenden Texten beschäftigen und dass wir fast den ganzen Text markiert haben. Offensichtlich bereitet es uns Mühe, die Kernaussage(n) und den Argumentationsgang der Autor:innen zu erfassen. Der Text sieht inhaltlich gesehen vielversprechend aus, nur hat sich der Autor leider an keines der Gebote wissenschaftlicher Konversation gehalten, die H. Paul Grice vorgeschlagen hat: (1) Mache Deinen Beitrag so informativ wie nötig. (2) Mache ihn nicht informativer als nötig. (3) Behaupte nichts, von dessen Wahrheit Du nicht überzeugt bist. (4) Behaupte nichts, wofür Du keine Beweise hast. (5) Sei relevant. (6) Vermeide Unklarheiten im Ausdruck. (7) Vermeide Mehrdeutigkeiten. (8) Vermeide Weitschweifigkeit. (9) Alles der Reihe nach, nicht alles auf einmal. Dann müssen wir lesend selbst etwas Ordnung schaffen, allerdings ohne den Text dabei konsistenter zu behandeln als er tatsächlich ist. Wir schreiben unter Zeitdruck eine Studienarbeit und haben dafür einen Berg Literatur auf dem Schreibtisch angehäuft. Einfach mit dem erstbesten Material zu arbeiten, ist keine gute Idee, würden wir uns damit doch dem Vorwurf von amateurhafter Beliebigkeit und Ignoranz aussetzen. Wie erarbeiten wir uns also eine Menge an Texten in angemessener Zeit, was auch heißt: Wie sortieren wir möglichst schnell das aus, was wir gar nicht brauchen? Schließlich besteht sonst die Gefahr, einfach beim Lesen zu verharren und gar nicht ins Schreiben zu kommen - eine typische Situation, aus der Schreibblockaden resultieren.
Die Rolle der Erwartungshaltung
Welcher Anlass auch immer uns zum Lesen bringt (die Liste ist natürlich nicht vollständig), jedes Mal stehen wir vor den bereits genannten Aufgaben, die (für uns relevanten) Kernaussagen zu identifizieren und uns den Standpunkt vor Augen zu führen, von dem aus wir uns mit ebendiesen Kernaussagen auseinandersetzen. Wir verrätseln den Text und klären damit gleichsam unsere an ihn gestellten Erwartungen.
Lesemethoden und Strategien
Es gibt verschiedene Lesemethoden, die uns dabei helfen können, wissenschaftliche Texte effektiver zu bearbeiten. Zwei bekannte Methoden sind SQ3R und PQ4R.
SQ3R-Methode
Die SQ3R-Methode umfasst folgende Schritte:
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- Überblick gewinnen: Machen Sie sich mit dem Aufbau des Textes vertraut (Abstract, Inhaltsverzeichnis, Umschlag etc.).
- Fragen: Stellen Sie Fragen an den Text.
- Lesen: Achten Sie beim Lesen auf die Überschriften; suchen Sie die Hauptaussagen; achten Sie auf hervorgehobene Textteile, Fachausdrücke, Fremdwörter, Illustrationen und Definitionen.
- Rekapitulieren: Fertigen Sie Notizen über das Gelesene an oder erklären Sie es einem Kommilitonen.
- Repetieren: Überfliegen Sie nochmals alle Überschriften der einzelnen Kapitel; versuchen Sie, die wichtigsten Aussagen in Erinnerung zu rufen.
PQ4R-Methode
Die PQ4R-Methode ähnelt der SQ3R-Methode und besteht aus folgenden Schritten:
- Vorprüfung: Verschaffen Sie sich einen Überblick über die Kapitel und Abschnitte des Buches.
- Fragen: Stellen Sie Fragen an den Text, idealerweise zu jedem Abschnitt.
- Lesen: Versuchen Sie, Ihre zu jedem Abschnitt formulierten Fragen zu beantworten.
- Nachdenken: Denken Sie über das Gelesene nach, suchen Sie nach Beispielen und versuchen Sie, den Text auf Ihr vorhandenes Wissen über den dargestellten Gegenstand zu beziehen.
- Rekapitulieren: Versuchen Sie nach jedem Abschnitt, Ihre zuvor formulierten Fragen zu beantworten.
- Repetieren: Gehen Sie den Text noch einmal im Geiste durch; versuchen Sie, die wesentlichen Punkte wiederzugeben. Beantworten Sie die Fragen, die Sie an den Text gestellt haben!
Frank Smiths Ansatz
Frank Smith schlägt einen etwas anderen Ansatz vor, bei dem das Verrätseln an dritter Stelle steht:
- Überfliegen Sie den Text: Versuchen Sie, so schnell wie möglich herauszubekommen, um was es in dem Text geht. Kümmern Sie sich nicht um Details!
- Zusammenfassen: Schreiben Sie eine Zusammenfassung, die mindestens Antwort auf die Frage „Um was geht es in dem Text?“ gibt.
- Fragen formulieren: Formulieren Sie mindestens fünf Fragen, auf die der Text eine Antwort gibt! Nutzen Sie hierzu Ihre Zusammenfassung und Ihr Vorwissen. Schauen Sie sich den Text aber nicht erneut an!
- Antworten vorhersagen: Versuchen Sie nun, ohne den Text anzuschauen, Antworten auf Ihre Fragen zu geben.
- Antworten überprüfen: Lesen Sie jetzt den Text schnell durch, um Ihre Antworten zu überprüfen.
Gemeinsamkeiten der Methoden
Alle diese Methoden haben gemeinsam, dass sie uns dazu anregen, aktiv mit dem Text zu arbeiten und unsere Erwartungen zu klären. Wir müssen immer erst klären, was wir überhaupt von dem betreffenden Text erwarten können. Dabei handelt es sich durchweg um Schritte, die bereits Vorarbeiten von uns erfordern.
Lesekompetenz als Schlüsselqualifikation
Lesen ist eine Kulturtechnik, die auch mit Einzug der digitalen Medien in den Alltag nichts von ihrer Bedeutung verloren hat. Aus pädagogischer Sicht ist Lesekompetenz eine Schlüsselqualifikation, die ein ganzes Bündel an Fertigkeiten, Fähigkeiten, Kenntnissen, Strategien und Techniken beinhaltet. Sie umfasst die Fähigkeit, nicht nur kontinuierliche Texte wie Beschreibungen, Erzählungen oder Anweisungen lesen zu können, sondern auch das Verständnis von nicht-kontinuierlichen Texten wie Grafiken, Tabellen oder Karten.
Leseförderung in der Schule
Mit verschiedensten Maßnahmen in Sachen Leseförderung möchten wir bereits in der Grundschule präventiv ansetzen, z.B. durch die Einrichtung einer Schülerbibliothek, die Teilnahme am FLOH-Lesefitness-Training, den Einsatz des webbasierten Leseförderprogrammes Antolin und vieles mehr.
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Antolin als innovatives Online-Programm
Antolin ist ein innovatives Online-Programm zur Lesefördeung. Wie heißt der kleine Bruder der Hexe Lili? Wo wohnt die Familie Dursley? Um wie viel Uhr muss Aschenputtel das Fest verlassen? Welchen Beruf hat der Trainer der Wilden Kerle? Solche und ähnliche Fragen gilt es für die Schülerinnen und Schüler der KGS Mechernich unter www.antolin.de zu beantworten. Denn die KGS Mechernich hat, nachdem sie bei einem Wettbewerb zum Thema "Einsatz neuer Medien" eine Schullizenz gewonnen hat, das Leseförderprogramm Antolin eingeführt. Inzwischen hat sich Antolin als wichtiges zusätzliches Angebot zur Förderung der Lesefähigkeit an unserer Schule bewährt. Ob Jim Knopf, Harry Potter, das Sams, Schneewittchen, Pippi Langstrumpf oder das neue Filmbuch zu Oliver Twist - die riesige Datenbank von Antolin enthält Verständnisfragen zu über 14000 Kinder- und Jugendbüchern. Hat eine Schülerin oder ein Schüler ein selbst ausgewähltes Buch gelesen, so gibt es die Möglichkeit, im Internet Fragen zu diesem Buch zu beantworten; dies kann in der Schule aber auch zu Hause geschehen. Für Lehrerinnen und Lehrer stellt Antolin ein ideales Analyseinstrument dar. So können damit starke Leser, aber auch Kinder, die kaum lesen oder eine besondere Hilfestellung benötigen, identifiziert und gefördert werden.