Tinnitus, das lästige Klingeln oder Rauschen im Ohr, betrifft Millionen Menschen weltweit. Lange Zeit wurde die Ursache im Ohr vermutet, doch die Forschung zeigt zunehmend, dass der Ursprung des Problems im Gehirn liegt. Dieser Artikel beleuchtet die neuesten Erkenntnisse darüber, wie Tinnitus entsteht, welche Hirnregionen beteiligt sind und welche Therapieansätze vielversprechend sind.
Wo entsteht Tinnitus wirklich?
Die Antwort auf diese Frage überrascht viele: Tinnitus entsteht nicht im Ohr, sondern im Gehirn. Experimente haben gezeigt, dass Tinnitus zwar durch Ereignisse im Ohr ausgelöst werden kann, aber die Entscheidung, ob man ihn wahrnimmt oder nicht, im Gehirn getroffen wird.
Bei Tierversuchen wurde Tinnitus durch Lärm und Medikamente erzeugt. Anschließend untersuchten die Forscher, welche Teile des Gehirns bei diesen Tieren aktiv waren und ob es Unterschiede zu "normalen" Tieren gab. Erstaunlicherweise stellten sie fest, dass die Hörnerven kurz hinter dem Innenohr keine oder erheblich weniger Aktivität aufwiesen. In höheren Zentren im Gehirn traten jedoch plötzlich vermehrt Impulse auf, die an die Hörrinde weitergeleitet wurden.
Es ist sogar so, dass bei Tieren mit Tinnitus weniger Signale von den Ohren an die Hörnerven weitergeleitet wurden. Dies ist nicht verwunderlich, da der Tinnitus durch die Schädigung von Haarzellen im Innenohr erzeugt wurde.
Noch dramatischer ist die Beobachtung von Patienten, die auf einem Ohr völlig ertaubt sind, weil ihr Hörnerv zerstört wurde. Obwohl diese Patienten keine Signale mehr aus dem Ohr erhalten, hören sie dennoch einen Tinnitus. Ein besonders tragischer Fall ist der eines Patienten, der sich aufgrund seines Tinnitus den Hörnerv durchtrennen ließ, in der Hoffnung, dass das Ohrgeräusch verschwindet. Dies war jedoch nicht der Fall.
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Die Rolle des Gehirns bei der Entstehung von Tinnitus
Einem Tinnitus liegt fast immer eine Hörstörung zugrunde. Der Mechanismus ähnelt dem Phantomschmerz nach einer Amputation. Forscher der University of California in Berkeley haben Belege für diese Annahme in der Fachzeitschrift "PNAS" veröffentlicht. Ihre Ergebnisse stellen einige der heutigen Therapieansätze für Tinnitus in Frage.
In Deutschland leiden etwa drei Millionen Menschen unter einem ständigen Pfeifen, Klingeln oder Summen, das für andere nicht wahrnehmbar ist. Die US-Forscher konnten in Rattenversuchen zeigen, wie dieses Leiden zustande kommt.
Der Verursacher von Tinnitus ist meist eine Hörstörung, etwa infolge lauter Geräusche oder eines Hörsturzes. Im Innenohr werden dabei Haarzellen zerstört, die zuvor Signale bestimmter Frequenzen an die Hörregion in der Großhirnrinde übermittelt haben. Wenn kein Input mehr aus dem Ohr kommt, nimmt die Hemmung der nun unterbeschäftigten Neuronen ab. Sie werden übererregbar und feuern spontane Impulse ab, die als Tinnitus-Geräusche wahrgenommen werden.
Den Forschern zufolge beruhen diese Veränderungen auf der Tendenz des Gehirns, die Aktivitätsrate im System konstant zu halten. Bei Amputationen übernimmt das Gehirn teils Funktionen der Nachbarfinger, wenn ein Finger fehlt. Ähnlich wird auch bei Tinnitus die Hörregion umstrukturiert, und der Bereich für die Wahrnehmung niederer Frequenzen dehnt sich auf Regionen aus, in denen verlorene hohe Frequenzen verarbeitet wurden.
Diese Veränderungen wurden bisher als eine Ursache für Tinnitus angesehen und sollten rückgängig gemacht werden. Die neuen Ergebnisse lassen jedoch schließen, dass sie ein sinnvoller Versuch des Gehirns sein könnten, Tinnitus zu bekämpfen.
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Studienleiter Bao schlägt vor, dass Medikamente das spontane Abfeuern der Neuronen in der Hörregion unterbinden könnten. Die sonst für diese Hemmung zuständigen GABA-ergen Neuronen sind bei Tinnitus geschwächt, wie die Versuche zeigten. Die Erhöhung der GABA-Konzentration könnte demnach den Tinnitus lindern. Erste Experimente mit zwei Wirkstoffen, die die Konzentration von GABA steigern, haben den Tinnitus bei Ratten erfolgreich beseitigen können. Diese Substanzen sind jedoch sehr giftig, bislang nur im Tierversuch erprobt und kommen deshalb auf keinen Fall für die Therapie beim Menschen in Frage.
Umbauprozesse im Gehirn als Ursache für Tinnitus
Forscher sind zunehmend überzeugt, dass Tinnitus im Gehirn entsteht. Der Auslöser ist häufig ein Defekt wie zerstörte Haarzellen im Innenohr. Die eigentliche Ursache suchen Forscher mittlerweile aber im Gehirn. Einer weit verbreiteten Theorie zufolge entsteht Tinnitus durch Umbauvorgänge im Gehirn: Die noch intakten Frequenzen im normalen Hörbereich werden in der Hörrinde überrepräsentiert - das Klingeln entsteht.
Möglicherweise sind neben der Hörrinde noch andere Hirnareale an dem Entstehen des nervtötenden Geräuschs beteiligt. Limbische Regionen etwa könnten zur negativen emotionalen Färbung des Klingelns im Ohr beitragen.
Subjektiver und objektiver Tinnitus
Es gibt zwei Arten von Tinnitus: den subjektiven und den objektiven Tinnitus. Den subjektiven Tinnitus kann nur der Betroffene selbst wahrnehmen. Vermutlich kommt er durch eine Fehlverarbeitung im Gehirn zustande. Beim objektiven Tinnitus hingegen liegt eine konkrete Erkrankung zu Grunde. Dann kann beispielsweise der Arzt das Pfeifen beim Abhören mit einem Stethoskop erkennen.
Die Auswirkungen von Tinnitus auf Körper und Geist
Tinnitus kann massive Auswirkungen auf Körper und Geist haben. Er kann zu Depressionen, Schlafstörungen, verminderter Konzentration oder psychischem Stress führen. Zwar beginnt Tinnitus meist mit einer Störung an der Peripherie, etwa einem Schalltrauma oder einem Fremdkörper im Gehörgang. Dennoch sehen viele Forscher immer mehr das Zentrale Nervensystem als den eigentlichen Verursacher.
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Die Remapping-Theorie
Der weit verbreiteten Remapping-Theorie zufolge könnten Umbauvorgänge in der Hörrinde, dem auditorischen Cortex, für Tinnitus verantwortlich sein. Zerstört etwa übermäßiger Lärm Haarzellen im Innenohr, die einer bestimmten Frequenz zugeordnet sind, bekommen die entsprechenden Neuronen der Hörrinde schlicht keinen oder wesentlich geringeren auditiven Input. Dadurch sinkt ihre hemmende Wirkung auf die Nachbarn, die angrenzende Frequenzen repräsentieren. Diese Frequenzen werden daraufhin in der Hörrinde überrepräsentiert und bilden nun das lästige Ohrgeräusch ohne eine externe Schallquelle.
„Unklar ist aber noch, ob die Hirn-Reorganisation eine kausale Voraussetzung des Tinnitus ist oder eher ein Kompensationsversuch“, sagt Berthold Langguth, Leiter des Tinnituszentrums der Uni Regensburg. Die Remapping-Theorie geht davon aus, dass sich die kortikale Antwort des normalen Hörfelds erhöht und dadurch das Pfeifen entsteht.
Die Rolle von GABA bei Tinnitus
Eine Studie von Neurowissenschaftlern um Sungchil Yang und Shaowen Bao von der University of California in Berkeley unterstrich 2011 diesen Widerspruch noch. Die Forscher untersuchten Ratten, die an Tinnitus litten, und stellten fest, dass die hemmende synaptische Übertragung in der Hörrinde der Nager reduziert war - und zwar genau in den Gebieten, die keinen auditiven Input mehr erhielten. Die entsprechenden Neuronen waren auf diese Weise leichter erregbar. Möglicherweise ist das eine Strategie, um den neuronalen Aktivitätslevel konstant zu halten und trotz des fehlenden Inputs nicht untätig zu bleiben.
Als die Forscher durch Medikamentengabe bei ihren tierischen Probanden den Spiegel des hemmenden Botenstoffs GABA erhöhten, konnten sie keinen Tinnitus mehr feststellen - und zwar völlig unabhängig von der Reorganisation in der Hörrinde. Statt der Umbauvorgänge könnte demnach die gesteigerte Erregbarkeit arbeitslos gewordener Neurone der Auslöser des Ohrgeräuschs sein.
Das limbische System und Tinnitus
Andere Forscher wie der Neurophysiologe Josef Rauschecker vom Georgetown University Medical Center in Washington halten eine umgebaute Hörrinde zwar für eine notwendige Bedingung von Tinnitus, aber längst nicht für eine ausreichende. „Immerhin entwickeln nur 20 bis 40 Prozent der Betroffenen mit lärmbedingtem Hörverlust das nervtötende Klingeln“, sagt er. „Ein Modell meiner Arbeitsgruppe schreibt daher dem limbischen System eine ebenfalls entscheidende Rolle zu.“
Rauschecker und seinen Kollegen zufolge ist insbesondere der mediale präfrontale Cortex - den einige Wissenschaftler zum erweiterten limbischen System zählen -, normalerweise in der Lage, die Tinnitus-Signale aus dem auditorischen Cortex zu unterdrücken. Doch wie die Forscher mit Hilfe bildgebender Verfahren zeigen konnten, ist bei Tinnitus-Patienten das Volumen dieser Hirnregion vermindert. Vereinfacht gesagt funktioniert offensichtlich der Schalter für die Rauschunterdrückung im limbischen System nicht richtig.
Der Denkansatz des Teams um Rauschecker vermag einige offene Fragen zu beantworten.
Netzwerktheorie des Tinnitus
Berthold Langguth und seine Kollegen vermuten, dass mehrere Netzwerke im Gehirn zum Klingeln im Ohr beitragen. „Mit unserem Modell wollen wir der klinischen Erfahrung Rechnung tragen, dass Tinnitus äußerst vielgestaltig ist.“ Bei den verschiedenen „Typen“ von Tinnitus-Patienten seien jeweils unterschiedliche Netzwerke im Gehirn gleichzeitig aktiv.
So nehmen Betroffene die Übererregung des auditorischen Systems erst bewusst wahr, wenn diese mit Aktivitäten in Aufmerksamkeitsnetzwerken im frontalen und parietalen Bereich verbunden sei. Das so genannte Salience-Netzwerk - beteiligt ist unter anderem das anteriore Cingulum - kodiert laut Langguth die Bedeutung des Tinnitussignals. „Dieses Netzwerk ist möglicherweise auch die Ursache, warum sich Tinnitus-Patienten darin unterscheiden, ob sie das Ohrgeräusch ausblenden können oder nicht“, sagt er. „Falls es mit aktiviert wird, ist die subjektive Bedeutsamkeit des Tinnitus hoch und die Ablenkung davon schwierig oder gar unmöglich.“
Das limbische System, zu dem etwa die Amygdala zählt, sorge dann für die emotional negative Färbung. „Zudem sprechen wir dem Gedächtnisnetzwerk um den Hippocampus eine entscheidende Rolle zu - vor allem beim chronischen Tinnitus.“ Die Arbeitsgruppe um Langguth nimmt eine Art Tinnitus-Gedächtnis an. Da es im Frequenzbereich der zerstörten Haarzellen keinen neuen Input gebe, könne die Gedächtnisspur von dem Störgeräusch nicht mehr überschrieben werden.
Therapieansätze bei Tinnitus
Da zumindest chronischer Tinnitus als nicht heilbar gilt und auch medikamentöse Behandlungen umstritten sind, setzen manche Therapien an der subjektiven Wahrnehmung des nervigen Klingelns an. Das Tinnitus-Retraining beispielsweise ist eine Behandlung, die auf mehreren Bausteinen aufbaut und die neben Hörtherapie auch Aufklärung und Beratung über die Erkrankung und psychologische Betreuung beinhaltet.
„Soweit es sich messen lässt, ist Tinnitus eigentlich kein lautes Geräusch“, sagt die Medizinerin Birgit Mazurek vom Tinnituszentrum der Berliner Charité, die selbst ihren Patienten diese Behandlung anbietet. Dennoch empfänden viele Betroffene die Ohrgeräusche als besonders laut. Das Tinnitus-Retraining richtet sich letztlich an Patienten, für die das Klingeln eine echte Belastung darstellt. Ein Umlernen soll die Wahrnehmung des Ohrgeräusches vermindern oder beseitigen. Ziel ist, dass sich die Betroffenen an den Tinnitus gewöhnen und ihn in ihrem Alltag beherrschen.
„Beim Retraining geht es darum, eine Verbesserung der Lebensqualität zu erzielen, - eine Heilung verspricht es gar nicht“, betont Mazurek. „Schließlich lässt sich die Ursache des Tinnitus oft nicht bestimmen.“ Außerdem lasse sich auch gar nicht an Schäden in der Peripherie und den zentralen Strukturen drehen. „Man kann beispielsweise keine neuen Hörzellen bilden.“ Beim pharmakologischen Eingriff wiederum sei die Gefahr von Nebenwirkungen wie Sprachstörungen sehr hoch.
Das Retraining ist langfristig angelegt. „Nach etwa sechs Monaten reduziert sich der Belastungsgrad, der sich danach noch weiter vermindern kann“, sagt Birgit Mazurek. Den Patienten gehe es nicht nur hinsichtlich des Tinnitus, sondern auch psychisch besser.
Weitere Therapieansätze
Neben dem Retraining gibt es noch andere Behandlungsmöglichkeiten wie das Biofeedback: Bei Tinnitus-Patienten wird häufig das so genannte Muskel-Biofeedback angewandt. Der Betroffene bekommt optisch oder akustisch den Spannungszustand seiner Muskeln oder Muskelgruppen rückgemeldet und soll versuchen, die Muskeln anhand dieses Feedbacks zu entspannen. Gelingt dies, lässt sich bei einigen Tinnitus-Patienten auch das Ohrgeräusch vermindern.
Aktuelle Forschungen interessieren sich besonders dafür, wie die Abläufe im Gehirn verändert werden können. Etwa durch die "repetitive transkranielle Magnetstimulation": Durch magnetische Impulse von außen hofft man, die Aktivität bestimmter überaktiver Hirnstrukturen beeinflussen zu können.
Bewährt hat sich auch die Kognitive Verhaltenstherapie, in Verbindung mit Entspannungstechniken.
Stress und Tinnitus
Stress wird heute als Ursache für Tinnitus weitgehend ausgeschlossen, steuert aber die Wahrnehmung des Störgeräuschs. "Da würden wir sagen: der Stress ist die Ursache dafür, dass du den Tinnitus hörst, den du vorher nicht beachtet hast."
Bei Stress wird das Hormon Cortisol ausgeschüttet, das die Blutgefäße verengt. So kann es auch im Innenohr in den kleinsten Blutgefäßen zu Verschlüssen kommen. Wie und ob dies genau zu einem Tinnitus führt, ist allerdings noch nicht abschließend geklärt. Klar ist auch, dass Stress einen schon bestehenden Tinnitus verstärkt und der Tinnitus wiederum das Stresslevel erheblich steigern kann. Daher ist eine entsprechende Therapie sehr wichtig.
Schwerhörigkeit und Tinnitus
Oft sind es Schwerhörige, die unter Tinnitus leiden. Bei vielen steht eine Schädigung des Innenohres am Anfang, etwa nach großer Lärmbelastung oder in Folge eines Hörsturzes.
Die Behandlung mit Hörgeräten für schwerhörige Menschen mit Tinnitus ist "eine der einfachsten Methoden", sagt Birgit Mazurek. Allerdings reicht das oft nicht, um den Menschen komplett von seinem Leiden zu befreien. Abends würde der Patient ja das Hörgerät herausnehmen und dann sei der Tinnitus wieder hörbar.
Emotionale Verarbeitung bei Tinnitus-Patienten
Forscher haben festgestellt, dass Tinnitus-Patienten Emotionen anders verarbeiten. Hörten gesunde Probanden emotionale Geräusche, begann wie erwartet ihre Amygdala zu feuern. Bei den Tinnitus-Patienten fiel diese Reaktion sehr viel schwächer aus. Dafür aber wurden überraschenderweise zwei andere Hirnareale bei ihnen aktiv, der Parahippocampus und die Insula, die bei den gesunden Probanden kaum reagierten.
Offensichtlich hat sich das Gehirn durch raffiniertes Umstrukturieren an das ständige Generve angepasst: Es regelt die Sensibilität der Amygdala herunter, damit das Ohrgeräusch nicht ständig negative Gefühle auslöst. Emotionale Reize von außen werden dafür in andere Hirnareale umgeleitet, um diese "Abstumpfung" zu kompensieren.
Prävention ist wichtig
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt in ihrem ersten World Hearing Report 2021, dass bis 2050 jeder vierte Mensch weltweit Hörprobleme haben wird. Aktuell leiden bereits 1,5 Milliarden Menschen unter solchen Problemen. Daher sei Prävention auch sehr wichtig. In Berlin gibt es dafür die Stiftung Tinnitus und Hören, ebenfalls angesiedelt an der Charité. Dort werden Kinder und Jugendliche schon früh über die Risiken von lauter Musik oder Geräuschen aufgeklärt.