Das Zusammenspiel von Gehirn und Seele: Eine wissenschaftliche Betrachtung

Seit der Antike beschäftigt die Menschheit die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Gehirn und Seele. War das eigene Fühlen, Denken und Handeln zunächst rätselhaft, so versuchte man, durch Naturbeobachtungen und religiös-mythologische Vorstellungen Ordnung in die Welt zu bringen. Im Laufe der Zeit wurden religiöse Erklärungen zunehmend durch wissenschaftliche Erkenntnisse ersetzt, auch wenn dies nicht immer auf Gegenliebe stieß.

Die Entzauberung der Welt durch die Wissenschaft

Heute scheinen die Naturwissenschaften, insbesondere die Quantenphysik und Kosmologie, noch einige unerklärliche Phänomene zu bergen. Die Biowissenschaften haben jedoch große Fortschritte erzielt und die grundlegenden Prozesse des Lebens und der Vererbung weitgehend aufgeklärt. Dies gilt auch für die Vorgänge im Gehirn auf zellulärer Ebene. Die Vorstellung von der Einheit der Natur besagt, dass die gleichen Prinzipien, die für die unbelebte Natur gelten, auch in der belebten Natur wirksam sind.

Der Wendepunkt in der Wissenschaftsgeschichte

Bis ins späte 19. Jahrhundert glaubte man, dass Lebewesen von anderen Kräften und Prinzipien bestimmt würden als die unbelebte Natur, wie beispielsweise einer mystischen Lebenskraft (vis vitalis). Man ging von einer spezifischen "organischen" Chemie in Lebewesen aus, die sich von der "anorganischen" Chemie der unbelebten Materie unterscheidet. Der Nachweis von Friedrich Wöhler im Jahr 1828, dass beide Bereiche denselben Gesetzen unterliegen, markierte einen Wendepunkt, auch wenn diese Erkenntnis nur langsam akzeptiert wurde und vitalistische Konzepte bis heute existieren.

Die Herausforderung der "Seele"

Im Gegensatz zu den Fortschritten in anderen Bereichen der Wissenschaft, gibt es hinsichtlich der Fragen "Was sind Geist und Bewusstsein?", "Woher kommen meine Gefühle und meine Gedanken?" oder "Warum handle ich in dieser Weise und nicht anders?" - also hinsichtlich dessen, was man in einem umfassenderen Sinn als das "Seelische" des Menschen versteht - augenscheinlich nicht gegeben. Viele Philosophen und Geisteswissenschaftler sind der Überzeugung, dass bei seelisch-geistigen Zuständen Prinzipien wirken, die die Grenzen des Naturgeschehens und einer naturalistischen Erklärung überschreiten.

Die Verteidigung des menschlichen Geistes

Immer wieder erscheinen Bücher und Artikel, in denen Geisteswissenschaftler gegen die "reduktionistischen Anmaßungen" und "naturalistischen Grenzüberschreitungen" der Hirnforschung argumentieren und die Einzigartigkeit des menschlichen Geistes betonen. Dies kann als Kampf um akademische Macht oder als Verteidigung eines Alleinerklärungsanspruchs gesehen werden. Es weist aber zugleich auf einen tieferen Beweggrund hin: Die Gesetze und Abläufe der Wahrnehmung und des Denkens, das Entstehen und die Erkrankungen unserer Gefühlswelt und deren mögliche Heilung sind nach dieser Auffassung nämlich rein geistig oder rein psychisch und lassen sich auch nur auf diese Weise erklären. Sie mit Strukturen und Funktionen des Gehirns in Verbindung zu bringen liefert zumindest keinerlei zusätzlichen Nutzen, und sie mit ihrer Hilfe gar erklären zu wollen erscheint absurd.

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Das dualistische Weltbild

Im täglichen Empfinden und Erleben sind Bewusstsein, Denken und Fühlen etwas anderes als die materielle Welt. Diese lässt sich messen, wiegen und in ihren gesetzmäßigen Abläufen erfassen. Geist und Gefühle kann man - so scheint es - grundsätzlich nicht messen und wiegen; sie haben offenbar gar keine Ausdehnung und kein Gewicht, keinen definitiven Ort, und ihre zeitlichen Eigenschaften sind verwirrend. Dies alles drängt uns ein dualistisches Weltbild auf, in dem Geist und Seele und das Naturgeschehen zwei unterschiedliche "Wesenheiten" sind und von wesensverschiedenen Prinzipien beherrscht werden.

Das Dilemma des Dualismus

Gleichzeitig gibt es gute Gründe, an einem solchen dualistischen Weltbild zu zweifeln, so plausibel es auf den ersten Blick erscheint. Wir kennen die enge Beziehung zwischen Psyche und Körper: Große Freude ebenso wie große Furcht lässt unseren Körper erbeben. Gefühle können unseren Körper ergreifen. Wie aber kann es geschehen, dass Psyche und Geist als immaterielle Wesenszustände auf Gehirn und Körper einwirken, ohne dabei die Naturgesetze zu verletzen, was sie ja ganz offensichtlich nicht tun? Die umgekehrte Wirkungsrichtung scheint genauso rätselhaft: Auf welche Weise führt eine Verletzung zu einer Schmerzempfindung, also etwas rein Seelischem? Seit René Descartes hat kein Dualist diese Fragen plausibel beantworten können.

Fortschritte der Neurowissenschaften

Die Neurowissenschaften identifizieren in enger Zusammenarbeit mit Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie zunehmend diejenigen Hirnprozesse, die mit den geistig-psychischen Vorgängen verbunden sind. Noch vor rund zehn Jahren, als das "Manifest der Hirnforscher" geschrieben wurde, konnte man sich als Geisteswissenschaftler damit beruhigen, dass die bunten Hirnbilder eigentlich gar nichts Wichtiges beinhalten, denn sie zeigen auf den ersten Blick nichts weiter als die Tatsache, dass geistig-psychische Prozesse und neuronale Vorgänge irgendwie parallel verlaufen. Mit der klassisch- geisteswissenschaftlichen Maxime "Verstehen statt Erklären" und "Gründe statt Ursachen" kamen Psychiater und Psychotherapeuten über lange Zeit gut zurecht.

Der psychophysische Parallelismus

Eine beträchtliche Zahl der heutigen Philosophen, Psychologen, Psychiater und Psychotherapeuten vertritt entsprechend einen psychophysischen Parallelismus. Dieser akzeptiert natürlich einen gewissen Zusammenhang zwischen Geist-Psyche und Gehirn, hält ihn aber für irrelevant. Ein solcher Parallelismus wird allerdings umso rätselhafter, als je enger sich die Beziehung zwischen dem Psychischen und dem Neuronalen erweist. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass die mit bewusstem Erleben verknüpften neuronalen Prozesse vom Stoffwechsel her sehr "teuer" sind. Warum wird ein solcher Parallelaufwand betrieben, wenn er ohne funktionale Bedeutung ist?

Der neuronale "Vorlauf" bewussten Erlebens

Ganz unplausibel wird ein psychophysischer Parallelismus spätestens mit dem experimentellen Nachweis, dass dem bewussten Erleben von Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen unbewusste neuronale Prozesse in einem gut messbaren Rahmen von einigen Hundert Millisekunden zeitlich vorhergehen, und dass ihr spezifischer Ablauf auch die Inhalte des Bewusstseins bestimmt. Das bedeutet, dass bewusstes Erleben stets einen unbewussten neuronalen "Vorlauf" hat, und dass bestimmte unbewusste neuronale Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit überhaupt etwas bewusst wird. Gleichzeitig heißt dies, dass es sehr viele neuronale Prozesse gibt, die niemals oder zumindest nicht unter den gegebenen Bedingungen bewusst werden, aber keine bewussten Prozesse, denen nicht unbewusste neuronale Prozesse vorhergehen würden.

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Die spezifischen neuronalen Bedingungen geistig-psychischen Erlebens

Darüber hinaus erhebt sich die dringliche Frage nach den spezifischen neuronalen Bedingungen für das Entstehen und die Art geistig-psychischen Erlebens. Diese Frage steht im Mittelpunkt unseres Buches, wenn es um die Entwicklung von Psyche und Gehirn geht, um die Grundlagen von Persönlichkeit, um das Entstehen psychischer Erkrankungen und die Wirkungsweisen von Psychotherapie.

Kritik an der Hirnforschung

Der Hirnforschung wird immer wieder vorgeworfen, dass sie über reine Korrelationen hinaus nichts vorzuweisen hat. So liefert die Feststellung, dass die Amygdala bei Furchtzuständen eine erhöhte Aktivität aufweist, erst einmal keine Erkenntnisse über die kausalen Zusammenhänge zwischen beiden Ereignissen. Für einen interaktiven Dualisten, für den das Gehirn ein Instrument in den Händen des Geistes ist, heißt dies nichts anderes, als dass der Empfindungszustand der Furcht bzw. Angst die Amygdala aktiviert und diese dann den Körper in Bewegung setzt, z.B. um zu fliehen. Natürlich kann man sofort fragen, warum eigentlich der Geist dafür die Amygdala oder überhaupt das Gehirn benötigt. Dem könnte der interaktive Dualist mit dem Argument begegnen, dass ein Pianist eben einen Flügel braucht, um Musik zu produzieren.

Der neurobiologische Reduktionismus

Nach den Erkenntnissen der Hirnforschung scheint das neuronale Geschehen die psychischen Erlebniszustände zu verursachen und nicht umgekehrt. Läuft dies nicht doch auf einen "platten" Reduktionismus hinaus, für den etwa psychische Erkrankungen wie Depressionen nichts anderes sind als Fehlverdrahtungen in der Amygdala oder Unterfunktionen im Serotoninhaushalt? Solche Aussagen sind in der Tat unter Neuropharmakologen und naturwissenschaftlich orientierten Psychiatern keineswegs selten anzutreffen und dienen dann der geisteswissenschaftlichen Gegenseite als Schreckensbild eines neurobiologischen Reduktionismus.

Die Grenzen der neurobiologischen Erklärung

Zwar werden die meisten Neurobiologen zugeben, dass sie psychische Erkrankungen noch nicht in allen ihren Details neurobiologisch erklären können. Aber was ist in vielleicht 20 Jahren? Können wir dann das diagnostische Gespräch des Therapeuten nicht doch durch eine gründliche Untersuchung des Patientengehirns ersetzen? Immerhin kann die moderne Medizin in anderen Bereichen nicht auf technische Diagnoseverfahren verzichten, und viele Ärzte beschränken sich zunehmend darauf, weil es für sie billiger und weniger risikoreich ist. Aber was ist dann mit der Psychotherapie? Könnte auch sie durch neurobiologische oder neuropharmakologische Verfahren ersetzt werden?

Die Hoffnung der Pharmaindustrie

In der Tat erwecken viele neuropharmakologisch orientierten Psychiater und erst recht die dahinterstehende Pharmaindustrie genau diese Hoffnung: Wenn denn Depression nichts anderes ist als eine Fehlfunktion des Serotoninsystems, dann muss man diesen Defekt eben durch Medikamente, z.B. Natürlich kann man argumentieren, dass die genaue langfristige Wirkung der SSRI nicht bekannt ist, dass diese Medikamente keineswegs bei allen Depressiven gleichermaßen wirken und bei manchen Patienten überhaupt nicht, und dass in der Regel die Wirkung mit der Zeit nachlässt - wie bei vielen anderen Psychopharmaka auch.

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Die Bedeutung der therapeutischen Allianz

Ein kritischer Experte wird zudem darauf hinweisen, dass die Wirkung sowohl der Neuro- und Psychopharmaka als auch der Psychotherapien verschiedenster Richtung signifikant von einem ganz unspezifisch wirken den Faktor, nämlich der "therapeutischen Allianz", dem Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Therapeut bestimmt wird, und dass daher auch viele angeblich spezifische Wirkungen psychopharmakologischer und psychotherapeutischer Behandlung vornehmlich auf diesen Effekt zurückzuführen sind. Was könnte mehr die Unzulänglichkeit eines reduktionistischen Ansatzes in Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie demonstrieren?

Die große Herausforderung

Die große Herausforderung besteht also darin, die neurobiologischen Grundlagen des "Seelischen" zu bestimmen und zugleich die Fallstricke eines Reduktionismus wie die eines Dualismus zu vermeiden. Dies wird uns gelingen, wenn wir zeigen können, in welcher Weise im Gehirn Gene und Umwelt miteinander interagieren, vor allem wie vorgeburtliche und nachgeburtliche Erfahrungen auf die Genexpression einwirken, die ihrerseits die synaptische Verschaltung steuert.

Die neuronale Sprache der Seele

Eine zentrale Rolle wird dabei entsprechend die Darstellung der "neuronalen Sprache der Seele", nämlich der Neuromodulatoren, Neuropeptide und Neurohormone spielen, welche die Kommunikation zwischen Zellen, Zellverbänden und ganzen Hirnregionen zugleich bestimmen und widerspiegeln. Auf der Ebene der synaptischen Kommunikation spielt sich nämlich das Gehirngeschehen ab, das für das Psychische entscheidend ist. Entsprechend ist dies die Ebene, auf der sich psychische Erkrankungen "materiell" manifestieren, nämlich durch Veränderungen in der Produktion und Freisetzung der Substanzen, in der Anzahl, Verteilung und Empfindlichkeit der Rezeptoren und in der Interaktion zwischen diesen Systemen.

Die Wirkung psychischer Traumatisierung

In den vergangenen Jahren hat sich ein wahrer "Quantensprung" ergeben, indem es gelang, die Wirkung psychischer Traumatisierung, etwa infolge von Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch in früher Kindheit, auf der Ebene neurochemischer Veränderungen und der damit verbundenen Gehirnmechanismen nachzuweisen und so die Einsicht in die neuronalen Korrelate psychischer Erkrankungen zu vertiefen. Es wurde deutlich, dass die individuellen Gene der neurochemischen Systeme die Empfindlichkeit gegenüber den Auswirkungen früher Erfahrungen vorgeben und so die Psyche schützen oder gefährden können. Die Erfahrungen können ihrerseits in einem epigenetischen Prozess auf die Gene zurückwirken und deren Umsetzung in Proteine, d.h. in Komponenten der neurochemischen Systeme beeinflussen. Damit ist zumindest im Prinzip hinsichtlich des Psychischen das uralte "Gen-Umwelt"-Problem gelöst, und es bestätigt sich die Anschauung.

Das Somato-Cognitive Action Network (SCAN)

Eine aktuelle Studie eines US-amerikanischen Forschungsteams liefert einen möglichen Erklärungsansatz für die Verbindung von Körper und Geist. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben ein bisher unbekanntes System in dem Bereich der Hirnrinde entdeckt, der für die Steuerung von Bewegungen zuständig ist. Es befindet sich zwischen einzelnen Bereichen, von denen schon lange bekannt ist, dass sie die Bewegungen unserer Hände, unserer Füße und unseres Gesichts steuern. Dieses neu entdeckte System wird zum Beispiel dann aktiv, wenn wir an Bewegungen denken. Darüber hinaus steht es in Verbindung mit einem Netzwerk, das an zahlreichen anderen Prozessen beteiligt ist: am Denken und Planen, am Schmerzempfinden, an der Kontrolle von inneren Organen und an Funktionen wie Blutdruck und Puls. Die Entdeckung könnte also eine Erklärung dafür liefern, warum unser Puls steigt, wenn wir nur an eine schwierige Aufgabe denken. Oder warum bestimmte Atemübungen helfen, nicht nur den Körper, sondern auch den Geist zu beruhigen. Die Forschenden gaben ihrer Entdeckung den Namen SCAN: Somato (Körper) -Cognitive (Geist) Action Network.

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