Gehirnzellen spielen Pong: Eine wissenschaftliche Studie und ihre ethischen Implikationen

Im vergangenen Jahr sorgte eine wissenschaftliche Sensation für Aufsehen: Dr. Brett Kagan und sein Team von Cortical Labs in Melbourne, Australien, veröffentlichten eine Studie, in der sie zeigten, dass im Labor gezüchtete Gehirnzellen in einer Petrischale eine vereinfachte Version des klassischen Computerspiels Pong erlernen konnten. Diese "Dish Brains" demonstrierten die Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen und sich an veränderte Bedingungen anzupassen.

Cortical Labs: Vorreiter der biologischen Computertechnik

Das innovative Start-up Cortical Labs hat sich auf biologische Computertechnik spezialisiert. Hierbei werden lebende Säugetierneuronen auf Elektroden kultiviert und bilden Netzwerke. Die potenziellen Anwendungen für diese einzigartigen organisch-digitalen Konvergenzwerkzeuge sind vielfältig. Sie reichen von neuartigen Ex-vivo-Modellen für das Wirkstoff-Screening bei ZNS-Erkrankungen wie Epilepsie und Demenz über ein tieferes Verständnis der Organisation und des Lernens unseres Gehirns bis hin zur Inspiration für neue Methoden des maschinellen Lernens. Letztendlich zielt Cortical Labs darauf ab, die inhärente Intelligenz lebender Neuronen für ihre überlegene Rechenleistung und ihren geringen Energieverbrauch zu nutzen, um echte neuromorphe Computer zu entwickeln.

CL1: Der erste biologische Computer der Welt?

Cortical Labs präsentierte kürzlich sein neuestes Produkt: CL1. Dieses Gerät, oder besser gesagt, dieser Zellhaufen, der in ein Gerät eingebaut ist, besteht aus 800.000 menschlichen Gehirnzellen, die aus neuronalen Stammzellen gezüchtet wurden. Sie bilden einen Schaltkreis, der in einem Gehäuse untergebracht ist, das einer handlichen Musikbox ähnelt. Dieses Produkt, halb Maschine, halb menschliches neuronales Netzwerk und ein Drittel Software, soll selbstständig lernen und Aufgaben lösen können. Es verfügt sogar über einen USB-Anschluss.

Das Hauptziel des CL1 ist nicht die Nutzung durch Privatanwender für alltägliche Aufgaben, sondern der Einsatz als Werkzeug in der naturwissenschaftlichen Forschung. Hier bietet er beachtliche Möglichkeiten.

Funktionsweise: Selbstlernende semi-biologische Intelligenz

Im CL1 leben Neuronen auf einem Chip, der 59 Elektroden enthält. Die Neuronen können ihre elektrischen Signale über die Elektroden senden und empfangen. Auf Veränderungen ihrer simulierten Umwelt - durch einen vom Benutzer gesetzten Stimulus wie Computercode, ein Video usw. - reagieren sie, indem sie in die eigene Software neuen Code hineinprogrammieren. Dadurch ist der CL1 selbstlernend. Überraschenderweise haben die Neuronen nicht nur den Softwarecode verändert, sondern auch untereinander neue synaptische Verbindungen geschaffen.

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Die Neuronen reagieren auf Reize durch einen Input (Video, Computercode, Audiosignal o.ä.) woraufhin die Neuronen reagieren. Dieser Output soll laut den Entwicklern das Ziel haben, die Unsicherheit über die neugeschaffene Umgebung (also die Veränderung durch den Input) zu minimieren - Lernen stellt sich ein. Die zugrundeliegende Theorie (Free Energy Principle) ist wissenschaftlich umstritten.

Anwendungen in der Forschung

Die Möglichkeiten dieses neuen Organoid-Modells sind beeindruckend. Es kann in der Forschung als Leinwand eingesetzt werden, auf der verschiedenste Experimente zu kognitiver, klinischer und pharmakologischer Neurowissenschaft durchführbar werden - ohne Tierversuche. So kündigte Kagan an, in einem nächsten Experiment zu versuchen, die Nervenzellen mit Alkohol zu betrinken, um die Unterschiede in der Leistung zu sehen. Die Vorgängerversion des CL1 lernte bereits in wenigen Minuten, Pong zu spielen.

Dem Organoid soll in der Forschung zum Beispiel eine Krankheit und dann eine medikamentöse Therapie verabreicht werden, ohne Tiere zu quälen. Im Prinzip handelt es sich um eine nicht-digitale Simulationsmaschinerie: Schlaganfall, Demenz, Stoffwechselstörung, alles ließe sich dem Zellhaufen ‚antun‘. In den Laboren der Welt, wo schon heute mit einfacheren Organoiden gearbeitet wird, könnte der CL1 oder ein Konkurrenzmodell bald ein Standard Equipment werden.

Mehr Power, weniger Strom?

In der Lerngeschwindigkeit, zum Beispiel des Pong-Spiels, ist der CL1 einer herkömmlichen KI tatsächlich haushoch überlegen. Und dabei ist der Stromverbrauch viel niedriger - einer der Gründe, warum es überhaupt erst zur Idee kam. Eine KI verbraucht enorme Mengen Strom und Wasser (zur Kühlung der Recheneinheiten). Reservoir Computing ist der Begriff für diese sparsame Informationsverarbeitung, die biologische Systeme effizienter als Computerprogramme macht. Noch potenter werden Systeme, in denen KI und biologischer Neuronenschaltkreis gekoppelt werden. In einer Studie von 2023 haben Forscher in einem ähnlichen Organoid demonstriert, dass ihre Silizium-Neuronen-Schaltkreise menschliche Sprache erkennen konnten.

Allerdings könnte die Koppelung mit KI den geringen Stromverbrauch wieder zunichte machen, da Cloud-Dienste, die für die Vernetzung mehrerer CL1-Einheiten benötigt werden, extrem energieintensiv sind. Ob die neue Technologie wirklich einen Beitrag gegen die Klimakrise leistet oder sie gar verschlimmert, lässt sich deshalb aktuell noch nicht abschätzen.

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Ethische Bedenken und die Notwendigkeit von Grenzen

Cortical Labs wirbt zwar damit, dass der CL1 eine ethisch überlegene Alternative zu Tierversuchen darstellt. Ob das lange so bleibt, ist allerdings fraglich, wenn man sich die Aussagen von Brett Kagan noch einmal vor Augen führt: Ziel ist eine Produktreihe, die sich natürlicher Intelligenz immer weiter annähert. Aus ethischer Perspektive wird es genau an diesem Punkt brenzlig, denn intelligentes Leben steht in den meisten Ländern unter rechtlichem Schutz - in Deutschland beispielsweise mindestens unter dem Tierschutzgesetz. Wenn nun eine Firma wie Cortical Labs ankündigt, sich echter Intelligenz annähern zu wollen, um diese dann zu manipulieren, und wenn sie dabei Erfolg hätten, dann wären irgendwann forschungsethische Grenzen erreicht. Eine grenzenlose Technologie erfordert ethische Schranken. Man kann nicht beliebig weit einen denkenden oder fühlenden Organismus züchten - irgendwann greifen Personenrechte. Davon sind wir aktuell noch sehr weit entfernt, der Weg jedenfalls ist nun beschritten worden.

Die Rolle von Brain-Computer-Interfaces (BCI)

Die Entwicklung des CL1 und ähnlicher Technologien steht im Kontext der Fortschritte im Bereich der Brain-Computer-Interfaces (BCI). Die kabellose Neuralink-Technologie, die vielversprechende Anwendungen bei neurologischen Störungen ankündigt, stellt nach den ersten Anfängen der BCI in den 1970er Jahren einen großen Entwicklungssprung dar.

Ein Beispiel für die Leistungsfähigkeit von BCI ist der Affe Pager, der in einem Video von Neuralink gezeigt wird. Pager spielte zunächst mit einem Joystick das Computerspiel Pong und wurde bei jedem Treffer mit einem Bananenshake belohnt. Nach einiger Zeit wurde der Joystick entfernt und Pager steuerte das Ping-Pong-Spiel nur mit seinen Gedanken - trotz gesteigertem Tempo mit verblüffender Geschicklichkeit. Ermöglicht wurde ihm diese Leistung durch zwei unsichtbar in seinen beiden Hirnhälften eingepflanzte Computerchips, die mit 2.000 Elektroden die neuronalen Signale seiner Handbewegungen im Motorcortex in Echtzeit aufzeichnen und damit den Cursor des Spiels steuern.

Kritische Perspektiven und ethische Implikationen von BCI

Trotz des Potenzials von BCI gibt es auch kritische Stimmen. Die Wiener Wirtschaftsinformatikerin Sarah Spiekermann-Hoff warnt vor einem blinden Vertrauen in die Technologie und betont die Komplexität der Gehirnfunktion. Sie kritisiert die Vorstellung, dass Informationen einfach wie auf eine Festplatte ins Gehirn "hochgeladen" werden können.

Auch die Philosophin Lorena Jaume-Palasí weist darauf hin, dass künstliche Intelligenz nicht objektiv ist, sondern Diskriminierungen verstärken kann. Sie betont, dass der Körper keine Hardware und der Geist keine Software ist, sondern dass es sich um ein dynamisches, sich ständig veränderndes biologisches System handelt.

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