Geist und Gehirn: Eine kritische Auseinandersetzung mit der modernen Hirnforschung

Die Hirnforschung hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht und beansprucht zunehmend die Deutungshoheit über viele Bereiche des menschlichen Lebens. Doch diese Entwicklung ist nicht unumstritten. Kritiker warnen vor einer Überbewertung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse und einer reduktionistischen Sichtweise auf den Menschen.

Der Aufstieg der Neurowissenschaften

Vor etwa zehn Jahren veröffentlichten führende Hirnforscher ein Manifest, in dem sie große Versprechungen machten. Sie äußerten die Hoffnung, zahlreiche schwere Krankheiten heilen zu können. Diese optimistischen Prognosen trugen dazu bei, dass die Hirnforschung in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte.

Der Begriff "Neuro" ist zu einem regelrechten Label geworden, wie der Pharmakologe Felix Hasler feststellt. Wer heute über den "Geist" spricht, muss auch das "Gehirn" erwähnen. Die Hirnforschung hat sich als eine Disziplin etabliert, die scheinbar Antworten auf grundlegende Fragen der menschlichen Existenz liefern kann.

Dirk Baecker, ein Soziologe und Kulturtheoretiker, sieht in der Hirnforschung sogar eine Art Ersatz für traditionelle Orientierungsinstanzen. Politik, Wirtschaft, Moral und Kultur scheinen an Deutungsmacht verloren zu haben. Die Hirnforschung hingegen beruft sich auf naturwissenschaftliche Experimente und präsentiert suggestive Bilder, die den Eindruck von Objektivität und Wahrheit erwecken.

Die Versprechen der Hirnforschung

Die Hirnforschung hat in den letzten 25 Jahren große Erwartungen geweckt. Im Jahr 1990 rief der damalige US-Präsident George Bush die "Dekade des Gehirns" aus und förderte Forschungsprogramme zur Behandlung von Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson.

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Führende Neurobiologen wie Wolf Singer und Gerhard Roth äußerten sich optimistisch, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis man psychische Leistungen wie Imagination, Gefühle und Handlungsplanung vollständig als physikalisch-chemische Vorgänge beschreiben könne. Auch die molekularbiologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen sollten innerhalb weniger Jahre besser verstanden werden.

Es wurde die Entwicklung einer neuen Generation von Psychopharmaka erwartet, die selektiv und nebenwirkungsarm in bestimmten Hirnregionen wirken sollten.

Ernüchterung und Kritik

Im November 2014 trafen sich jedoch Neurobiologen, Mediziner, Psychologen, Sozialforscher und Philosophen an der "Berlin School of Mind and Brain", um eine ernüchternde Bilanz zu ziehen. Zehn Jahre nach dem Manifest von 2004 waren die erhofften Durchbrüche ausgeblieben.

Ein großes Problem ist die hohe Fehlerquote in der biomedizinischen Forschung. Studien haben gezeigt, dass ein erheblicher Teil der veröffentlichten Ergebnisse vermutlich falsch ist. Dies liegt unter anderem am falschen Einsatz von Statistik, dem Zwang zum Erfolg, dem Konkurrenzdruck und den Erwartungen der Förderinstitutionen und der Politik.

Felix Hasler kritisiert, dass in Fachzeitschriften meist nur positive und spektakuläre Ergebnisse veröffentlicht werden, was zu einer Verzerrung der Forschungsergebnisse führt. Replikationsstudien, die die Aussagekraft von Ergebnissen überprüfen könnten, sind teuer und bringen wenig Anerkennung.

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Die Rolle der Bilder

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die suggestive Kraft der Bilder, die in der Hirnforschung verwendet werden. Die farbigen Darstellungen von Aktivitätsmustern im Gehirn erwecken den Eindruck, als könne man dem Gehirn beim Denken zusehen. Dabei handelt es sich in der Regel um hochgerechnete Durchschnittswerte vieler Versuchspersonen.

Die Bilder zeigen, wann und wo im Durchschnitt mehr Sauerstoff verbraucht wurde. Sie sind also eher Bild gewordene Statistik als eine direkte Abbildung der Gehirnaktivität eines einzelnen Menschen.

Steven Rose betont, dass die vermeintlich "harten" naturwissenschaftlichen Erkenntnisse oft fragwürdiger sind, als es den Anschein hat. Die Verbindung von Hirn-Scans mit psychischen Phänomenen ist oft spekulativ. Zudem ist die Vorstellung, dass man einzelnen Hirnregionen spezifische Funktionen zuordnen könnte, überholt. Das Gehirn ist ein hochdynamisches System, in dem alle Teile miteinander kommunizieren.

Die Komplexität des Gehirns

Die Hirnforschung steht vor der großen Herausforderung, die Komplexität des Gehirns zu verstehen. Es handelt sich um das komplizierteste Organ des bekannten Universums.

Dirk Baecker betont, dass die Hirnforschung selbst bisher über keine allgemein anerkannte Theorie verfügt, um diese Komplexität zu bändigen und schlüssig zu erklären, wie wir uns in einer ebenso komplexen Umwelt zurechtfinden.

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Ein Beispiel für die Komplexität des Gehirns ist das Phänomen des Kitzelns. Warum kann man sich nicht selbst kitzeln? Die Erklärung liegt darin, dass das Gehirn in dem Moment, in dem man eine Bewegung ausführt, Signale an die Empfindungsregionen weitergibt und so die erwarteten Empfindungen vorwegnimmt. Eingehende Reize werden mit diesen Vorannahmen abgeglichen.

Der Neurowissenschaftler Karl Friston versucht, diese Interaktion von Gehirn und Umwelt in mathematischen Formeln zu beschreiben und damit überprüfbar zu machen. Seine Theorie des "predictive coding" wird derzeit von Forschern auf der ganzen Welt experimentell untersucht.

Ethische und gesellschaftliche Implikationen

Die Hirnforschung hat nicht nur wissenschaftliche, sondern auch ethische und gesellschaftliche Implikationen. Steven Rose beobachtet seit Jahren, wie die Hirnforschung für gesellschaftliche Belange in Beschlag genommen wird.

So werden beispielsweise Kinder mit Lernschwierigkeiten häufig mit Labels wie Legasthenie, Dyskalkulie oder ADHS versehen. Das Problem wird im Gehirn des Kindes gesucht, anstatt das Umfeld zu betrachten.

In Großbritannien wird die Hirnforschung von Bildungspolitikern als Ressource für "mentales Kapital" betrachtet. Die Neurowissenschaften sollen Schülern zu besserer Bildung verhelfen und Kindern aus sozial schwachen Familien zu einer besseren Entwicklung verhelfen. Auf diese Weise will man Kosten für Gefängniszellen und Sozial-Programme sparen.

Gerhard Roth warnt vor den Gefahren, wenn Forscher behaupten, sie könnten eine psychische Veranlagung für kriminelles Verhalten im Gehirn lokalisieren. Solche Visionen spielen bereits eine Rolle, wenn Hirnforscher über künftige Anwendungsmöglichkeiten ihres Fachs spekulieren.

Geist und Gehirn: Eine multidisziplinäre Herausforderung

Die Frage, wie das Gehirn die Seele macht, kann die Neurobiologie nicht allein beantworten. Die Hirnforschung ist auf die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen wie Psychiatrie, Psychotherapie und den Geisteswissenschaften angewiesen.

Die Reibereien zwischen den Disziplinen entzünden sich regelmäßig am Selbstverständnis der Naturwissenschaften als "Hard Science". Doch auch die vermeintlich "weichen" Wissenschaften erforschen konkrete Realität.

Die Hirnforschung kann wichtige Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns liefern. Sie kann jedoch nicht alle Fragen beantworten, die uns Menschen bewegen. Bewusstsein, Persönlichkeit, Gefühl und Wille sind komplexe Phänomene, die nicht auf rein biologische Prozesse reduziert werden können.

Die Bedeutung der Umwelt

Die Hirnforschung hat in den letzten Jahren die Bedeutung der Umwelt für die Entwicklung des Gehirns erkannt. Die Gene legen uns nicht weitgehend fest. Vielmehr sind es epigenetische Prozesse, die auf einem Niveau im Gehirn ablaufen, auf dem Gene und Umwelt aufs Engste miteinander wechselwirken. Was die Gene tun und wie sie das tun, wird weitestgehend von der Umwelt bestimmt.

Diese Erkenntnis ist umso wichtiger, als sie von der Naturwissenschaft kommt und nicht nur von den Gesellschaftswissenschaften.

Das Gehirn in den Gesellschaftswissenschaften

In den Gesellschaftswissenschaften war das Gehirn lange Zeit kein Thema. Man hat es als Voraussetzung für menschliches Verhalten einfach hingenommen und nicht weiter hinterfragt.

Dirk Baecker kritisiert die Soziologie für ihre zögerliche Reaktion auf die Hirnforschung. Er fordert eine stärkere Auseinandersetzung mit den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen.

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