Demenz: Eine historische Reise von der Vergessenheit zur globalen Herausforderung

Die Geschichte der Demenz ist eine faszinierende Reise, die uns von den ersten vagen Beobachtungen in der Antike bis hin zu den komplexen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Moderne führt. Sie ist eine Geschichte des Wandels, der Stigmatisierung und der wachsenden Erkenntnis, dass Demenz nicht einfach nur "Altersblödsinn" ist, sondern eine ernstzunehmende Erkrankung, die Millionen von Menschen weltweit betrifft.

Frühe Beobachtungen und Deutungen

Schon in der Antike erkannten die alten Griechen und Römer das Phänomen des geistigen Abbaus im Alter. Der römische Dichter Juvenal beklagte vor fast 2000 Jahren den Zustand, wenn ein alter Mann seine eigenen Kinder nicht mehr erkennt. Aristoteles betrachtete den letzten Lebensabschnitt als eine "vom Ungleichgewicht der Körpersäfte verursachte natürliche Krankheit". Der Begriff "dementia" tauchte im 1. Jahrhundert n.Chr. im römischen medizinischen Sprachgebrauch auf, als der Arzt Aulus Cornelius Celsus ihn zur Beschreibung einer länger andauernden Sinnestäuschung verwendete.

Im europäischen Mittelalter wurden Verwirrtheit und geistiger Verfall oft als Strafe Gottes, Zeichen von Sünde oder Besessenheit interpretiert. Alte, verwirrte Frauen wurden nicht selten zu Außenseiterinnen und manchmal sogar verfolgt. Medizinische, religiöse und volkstümliche Erklärungen verschmolzen miteinander, und Menschen mit Demenz wurden oft gemieden oder ausgestoßen.

Aufklärung und erste systematische Beschreibungen

Erst in der Renaissance kam es zu ersten Ansätzen einer systematischen Beschreibung geistiger Erkrankungen. Felix Platter, ein Basler Gelehrter, publizierte 1596 eine erste Klassifikation der Geistesstörungen und verwendete im Zusammenhang mit Dementen den Ausdruck „Verblödung“. Er unterschied Demenz deutlich von angeborener geistiger Behinderung. Im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, änderte sich das Menschenbild. Vernunft, Wissenschaft und Ordnung rückten in den Vordergrund. Der französische Arzt Philippe Pinel setzte sich für eine humanere Behandlung von Menschen mit geistigen Störungen ein und befreite 1795 die Insassen der Irrenanstalt Bicêtre von ihren Ketten. Pinel unterschied die "démence sénile" (Altersdemenz) von angeborener Intelligenzminderung. Sein Schüler Jean Esquirol beschrieb 1838 Demenz als "Gehirnleiden, charakterisiert durch eine Beeinträchtigung von Empfindungsfähigkeit, Intelligenz und Willen".

Trotz dieser Fortschritte blieben Menschen mit Demenz oft in Armenhäusern oder Gefängnissen untergebracht, zusammen mit Kriminellen und anderen psychisch Kranken. In der breiten Öffentlichkeit sprach man von "Altersblödsinn" oder "Greisenalbernheit", und in der medizinischen Fachsprache von "erworbenem Blödsinn" oder "mentis stupor" (erstarrter Geist).

Lesen Sie auch: Die Geschichte der neurologischen Forschung und Praxis in Berlin.

Alois Alzheimer und die Entdeckung einer neuen Krankheit

Ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte der Demenz war die Arbeit des deutschen Arztes Alois Alzheimer. Am 14. Juni 1864 in Marktbreit geboren, studierte Alzheimer Medizin an den Universitäten Berlin, Tübingen und Würzburg. 1887 promovierte er an der Julius-Maximilians-Universität zum Thema „Über die Ohrenschmalzdrüsen“. Durch diese Tätigkeit wurde Alzheimers Interesse an menschlichen Gehirnen geweckt. 1895 wurde er Oberarzt in Frankfurt. Später setzte er seine Forschungen unter Emil Kraepelin in Heidelberg und München fort. 1912 übernahm Alzheimer eine Professur für Psychiatrie an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Breslau.

Alzheimer traf Auguste Deter erstmals 1901, als er sie in Frankfurt am Main behandelte. Er beobachtete bei ihr starke Gedächtnisprobleme, Desorientierung und Halluzinationen. Da zu diesem Zeitpunkt eine derartige Verwirrtheit nur bei älteren Menschen als Krankheitsbild bekannt war, wollte Alzheimer nach Deters Tod im Jahr 1906 das Gehirn der Patientin erneut untersuchen. Er vermutete, dass es biologische Ursachen für ihren Zustand geben könnte. Dabei bemerkte er, dass die Hirnrinde dünner war als bei gesunden Gehirnen und zudem Ablagerungen (Plaques) zu finden waren.

Am 3. November 1906 hielt Alois Alzheimer einen Vortrag bei der 37. Versammlung Südwestdeutscher Irrenärzte und beschrieb dort erstmals das „eigenartige Krankheitsbild“, das er bei Auguste Deter entdeckt hatte. 1907 veröffentlichte er seine Entdeckung in der Schrift „Über eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde“. 1910 verwendete Emil Kraepelin den Fall unter dem Namen „Alzheimersche Krankheit“ in seinem Buch. Die moderne pathologische Diagnose der Alzheimer-Krankheit basiert noch immer auf denselben Untersuchungsmethoden wie 1906, als Alzheimer diese das erste Mal verwendete.

Die "vergessene" Krankheit und ihr Wiederaufstieg

Trotz der Namensgebung gerieten Alzheimers Forschungsergebnisse zunächst in Vergessenheit. Erst in den 1970er Jahren wurde die Alzheimer-Krankheit wiederentdeckt und rückte in den Fokus der medizinischen Forschung. Robert Katzman identifizierte 1976 die Alzheimer-Krankheit als die mit 60 Prozent der Demenzen am weitesten verbreitete Demenzerkrankung überhaupt.

In den 1980er Jahren gelangen wichtige Fortschritte bei der Erforschung der biologischen Grundlagen der Alzheimer-Krankheit. 1984 veröffentlichten George Glenner und Caine Wong Ergebnisse, wonach ein Peptid namens Beta-Amyloid Hauptbestandteil der Plaques ist. 1986 publizierten Inge Grundke-Iqbal und Kollegen, dass ein Protein namens „Tau“ Bestandteil der Neurofibrillen ist.

Lesen Sie auch: Epilepsiebehandlung: Eine historische Perspektive

Von der Forschung zur globalen Herausforderung

In den letzten Jahrzehnten hat die Alzheimerforschung enorme Fortschritte gemacht. Es wurden neue diagnostische Verfahren entwickelt, und es gibt erste vielversprechende Ansätze für die Entwicklung von Medikamenten, die den Krankheitsverlauf verlangsamen oder sogar aufhalten könnten.

Allerdings ist die Alzheimer-Krankheit nach wie vor eine unheilbare Erkrankung, die eine enorme Belastung für die Betroffenen, ihre Familien und die Gesellschaft darstellt. Die steigende Lebenserwartung und der demografische Wandel führen dazu, dass immer mehr Menschen an Demenz erkranken. Laut Schätzungen von Alzheimer’s Disease International (ADI) aus dem Jahr 2010 werden sich die weltweiten Kosten für Demenzerkrankungen bis 2030 um 85 Prozent erhöhen.

Kulturelle Unterschiede im Umgang mit Demenz

Die westlich-medizinische Entwicklung bildet nur einen Teil der Geschichte der Demenz. Menschen aller Kulturen und aller Zeiten sahen sich mit den Folgen kognitiver Veränderung konfrontiert. Die Deutungen und gesellschaftlichen Reaktionen fielen jedoch sehr unterschiedlich aus, geprägt von jeweiliger Weltanschauung, Familienstrukturen und Wissenssystemen.

In der traditionellen chinesischen Kultur erkannte die chinesische Medizin bereits vor über 2000 Jahren Erscheinungen von Gedächtnisschwund und Desorientierung im Alter. Im Huangdi Neijing („Innerer Klassiker des Gelben Kaisers“, ca. 1. Jh. v. Chr.) wird beschrieben, wie im hohen Alter die Lebensenergie nachlässt und das Gedächtnis schwindet. Bemerkenswert ist, dass Demenz in China als behandelbar galt.

In Japan gab es bis ins 20. Jh. den volkstümlichen Begriff „boke“ für altersbedingte Vergeßlichkeit. In ländlichen japanischen Regionen wird altersbedingte Verwirrung („boke“) nicht rein medizinisch interpretiert, sondern als kulturell vertrauter Zustand verstanden, in dem ein alter Mensch allmählich in eine andere soziale Rolle übergeht.

Lesen Sie auch: Von "Altersblödsinn" zu globaler Herausforderung

Auch in der indischen Ayurveda-Tradition wurde altersbedingter Gedächtnisverlust früh thematisiert. Ayurveda betrachtet das Altern ganzheitlich als Zunahme des Vata-Doshas (Bewegungsprinzip), was Trockenheit und Verfall bringt. In der islamischen Gelehrtenmedizin des Mittelalters (Persien/Arabien) finden sich ebenfalls Abhandlungen über Gedächtnisverlust im Alter.

Herausforderungen und Ausblick

Die Geschichte der Demenz zeigt, dass die Krankheit lange Zeit stigmatisiert und tabuisiert wurde. Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich das Bewusstsein für die Krankheit in der Öffentlichkeit und in der Politik geschärft. Es gibt mittlerweile zahlreiche Initiativen und Organisationen, die sich für die Belange von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen einsetzen.

Trotz der großen Fortschritte in der Forschung gibt es noch viele offene Fragen. Es ist noch nicht vollständig geklärt, wie die Alzheimer-Krankheit entsteht und wie sie wirksam behandelt werden kann. Es ist jedoch zuversichtlich, dass die Forschung in den kommenden Jahren weitere wichtige Erkenntnisse liefern wird, die zu neuen Therapien und Präventionsstrategien führen werden.

Die Alzheimer-Krankheit ist eine multifaktorielle Krankheit. Neben einem genetischen Risikofaktor und epigenetischen Einflüssen sind Entzündungsprozesse beteiligt. Der wichtigste nachgewiesene Risikofaktor ist hohes Alter. Bis heute gibt es keine ursächliche Behandlung, lediglich die Symptome können behandelt werden. Die weltweiten Kosten von Alzheimer beliefen sich 2010 auf 604 Milliarden Dollar. Rund 70 Prozent der Kosten gehen auf zwei Weltregionen zurück: Nordamerika und Westeuropa.

tags: #Demenz #Geschichte