Gottfried Benn: Eine Analyse seiner Werke und Interpretationen

Gottfried Benn, eine der schillerndsten Figuren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, war ein Arzt und Dichter, dessen Werk von Widersprüchen, Brüchen und einer tiefen Auseinandersetzung mit derConditio humana geprägt ist. Seine Lyrik und Prosa, oft expressionistisch, nihilistisch und formalistisch zugleich, fordern bis heute zu vielfältigen Interpretationen heraus.

Leben und Werk: Eine ambivalente Figur

Gottfried Benn wurde am 2. Mai 1886 in Mansfeld geboren. Geprägt durch ein strenges Elternhaus und theologische Studien, wandte er sich bald der Medizin zu. Nach dem Abschluss des Gymnasiums begann Benn im Jahre 1903, wie vom Elternhaus erwartet, sein Theologie- und Philosophiestudium in Marburg bzw. Berlin. Aber bereits 1905 brach er dieses Studium ab, um sich ganz dem Medizinstudium zu widmen. 1910 wurde er mit dem Königlichen Preis der medizinischen Fakultät der Universität Berlin ausgezeichnet. 1911, nach Abschluss seines Studiums wurde er Unterarzt in der Berliner Charité. Nach seiner Promotion 1912 war er zunächst aktiver Militärarzt, aber schon 1912 nahm er Abschied von der Militärlaufbahn, hauptsächlich aus gesundheitlichen Gründen und arbeitete dann als Pathologe und Serologe an verschiedenen Berliner Krankenhäusern, so u. a. als Assistenzarzt am Krankenhaus Charlottenburg-Westend. Seine Erfahrungen als Pathologe, die ihn mit der körperlichen Realität von Tod und Verfall konfrontierten, prägten sein frühes Werk nachhaltig.

Expressionistische Anfänge und die "Morgue"

Benns literarische Karriere begann im Expressionismus. Seine Lyrik provozierte, indem er die menschliche Existenz als Banalität und ihren körperlichen Verfall darstellte. 1912 erregte er in avantgardistischen Kreisen mit seinem Gedichtband „Morgue“ Aufsehen. Grund dafür war sein Infragestellen der bis dahin üblichen Vorstellung von Lyrik. BENN schilderte in den Gedichten das Leben in all seiner Negativität und verarbeitete dabei seine Erfahrungen als Pathologe und Arzt, aus denen heraus er einen starken Zynismus entwickelte. BENNs Umgang mit der Sprache beeinflusste die expressionistische Lyrik.

Ein Beispiel für Benns schonungslose Darstellung der Realität findet sich in dem Gedicht "Kleine Aster". In diesem Gedicht wird die Obduktion eines ertrunkenen Bierfahrers beschrieben. Der Leichnam wird auf den Tisch "gestemmt", und jemand steckt eine Aster zwischen seine Zähne. Während der Obduktion gleitet die Aster in das Gehirn des Toten. Diese Szene, die Tod, Verwesung und eine makabre Schönheit vereint, ist typisch für Benns frühen Stil.

Kriegserfahrung und innere Emigration

Während des Ersten Weltkriegs war Benn als Oberarzt in Brüssel tätig. Mit dem Krieg rechnete er ab, indem er 1917 die Gedichtsammlung „Fleisch“ mit ihrer Menschenverachtung und der Darstellung der grausamsten Seiten des Krieges veröffentlichte. In dieser Zeit entstanden auch die sogenannten Rönne-Novellen, der Novellenband „Gehirne“. Hier nutzte BENN das Mittel des inneren Monologs (des jungen Arztes Rönne), um die Realität als nicht mehr beschreibbar darzustellen. Nach einer kurzen Phase der Annäherung an den Nationalsozialismus distanzierte er sich von diesem und ging in die "innere Emigration". BENNs Hoffnungen auf die neue Regierung und den Nationalsozialismus verlor sich schon bald und so ging er ab 1934 in die „innere Emigration“ - er blieb also in Deutschland, distanzierte sich jedoch zunehmend vom Nationalsozialismus, ohne dabei zum offenen Widerstand überzugehen. Die Nationalsozialisten kritisierten seine Werke und verhängten schließlich 1938 gegen ihn ein Schreibverbot. Auch wurde er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Ebenfalls 1938 heiratete er HERTA VON WEDEMEYER.

Lesen Sie auch: Forschung zu Übergewicht und Gehirnveränderungen

Spätwerk und Anerkennung

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Benn eine späte Anerkennung. Mehrere neue Publikationen im Jahre 1949 waren der Grund dafür, dass BENN wieder in das Bewusstsein der Öffentlichkeit geriet. Mit seinem Spätwerk beeinflusste er die Nachkriegslyrik stark. Von zurückkehrenden Exilschriftstellern wurde BENN wegen seiner Haltung während der Zeit des Nationalsozialismus kritisiert, von der jungen Schriftstellergeneration wurde er dagegen wegen seines modernen Stils verehrt. In seiner Autobiografie „Doppelleben“, die 1950 erschien, versuchte er, sein Verhalten im Nationalsozialismus zu rechtfertigen. Sein Spätwerk, insbesondere die "Statischen Gedichte", festigte seinen Ruf als einer der bedeutendsten deutschen Dichter des 20. Jahrhunderts.

Analyse ausgewählter Werke

"Kleine Aster" (1912)

Dieses Gedicht, entstanden in Benns Zeit als Pathologe, ist ein Schlüsselwerk des Expressionismus. Es zeigt die schonungslose Konfrontation mit dem Tod und die Reduktion des Menschen auf seinen Körper. Die Aster, ein Symbol der Schönheit, wirkt in dieser makabren Szene fehl am Platz und unterstreicht die Absurdität der Existenz.

"Gehirne" (1916)

In den "Gehirne"-Novellen experimentiert Benn mit dem inneren Monolog, um die Zerrissenheit und Entfremdung des modernen Menschen darzustellen. Die Novellen thematisieren die Krise der Erkenntnis und die Unfähigkeit, die Realität adäquat zu beschreiben.

"Statische Gedichte" (1948)

Die "Statischen Gedichte" markieren eine Wende in Benns Schaffen. Sie sind geprägt von einer formalen Strenge und einer philosophischen Reflexion über die Kunst und dieConditio humana. Der Begriff "statisch" bezieht sich auf die Abwendung von der Dynamik des Expressionismus und die Hinwendung zu einer zeitlosen, überhistorischen Perspektive.

Interpretationen und Kontroversen

Benns Werk ist Gegenstand vielfältiger Interpretationen und Kontroversen. Seine Haltung zum Nationalsozialismus, seine Menschenverachtung und sein Nihilismus wurden kritisiert, aber auch seine Sprachkraft, seine formale Virtuosität und seine intellektuelle Schärfe wurden bewundert.

Lesen Sie auch: "SOKO Wismar" entlarvt die neun Gehirne des Oktopus

Benn und der Expressionismus

Die Zuordnung Benns zum Expressionismus ist komplex. Zwar weist sein Frühwerk typische Merkmale dieser Epoche auf, wie die provokative Bildsprache, die Kulturkritik und die Darstellung von Angst und Entfremdung. Wie jedoch mit Benns eher naturalistisch beeinflusster Naturauffassung oder seiner populärwissenschaftlich inspirierten Neigung zum Metaphysischen zu verfahren sei, bleibt ungeklärt.

Benn und der Nihilismus

Benns Werk ist von einer tiefen Skepsis gegenüber traditionellen Werten und Weltanschauungen geprägt. Sein Nihilismus äußert sich in der Ablehnung von Sinn und Bedeutung, in der Betonung der Vergänglichkeit und in der Konfrontation mit dem Tod.

Benn und die Sprache

Benn war ein Sprachkünstler, der die Grenzen der Sprache auslotete. Er experimentierte mit neuen Formen und Ausdrucksweisen, schuf Neologismen und verwendete eine präzise, oft sezierende Sprache.

Das Gedicht „Verlorenes Ich“

Das Gedicht ist nicht strophisch gegliedert und besteht aus einer einzigen Versgruppe mit zwanzig Versen unterschiedlicher Länge. Sowohl ein durchgehendes Reimschema als auch ein Metrum1 lässt das Gedicht vermissen. Allerdings kann das Gedicht in vier Sinnesabschnitte unterteilt werden: Es wird eine Finalstruktur erkennbar. Der erste Sinnabschnitt hat eine einleitende Funktion. Das lyrische Ich behauptet von dem Menschen, sich in keiner Weise von den Tieren zu unterscheiden. In dem zweiten Sinnabschnitt zählt der Sprecher einige Krankheiten des Menschen auf, um ihn zu degradieren. Diese „Attacken“ auf den Menschen und seine vermeintliche Stellung auf der Erde werden im dritten Sinnabschnitt fortgesetzt. Zum Schluss schließt der Sprecher in dem letzten Sinnabschnitt des Gedichtes aus den vorhergegangenen Argumenten, dass der Mensch und dessen Rolle vollkommen überbewertet seien. Der Mensch unterscheide sich durch nichts von anderen Lebewesen. Das Gedicht beginnt mit einer bekannten Metapher2, der „Krone der Schöpfung“ (V. 1). Dem Leser wird hierdurch erkenntlich gemacht, welches Thema nun folgen wird, nämlich „der Mensch“. Doch bevor das lyrische Ich diesen als „Krone der Schöpfung“ tituliert, macht es einen Einschub („das Schwein“ V. 1). Es ist fraglich, ob sich nun der Titel auf das Schwein als Tier bezieht oder ob „das Schwein“ nicht als Beleidigung des Menschen verstanden werden muss. Eindeutig ist allerdings, dass der Sprecher den Menschen nicht als „Krone der Schöpfung“ ansieht, sondern im Gegenteil diesen durch den Vergleich mit einem Schwein zu degradieren versucht. Der Folgevers gibt hierfür einen Beweis: „Geht doch mit anderen Tieren um!“ (V. 2). Das lyrische Ich sieht im Menschen keinen Unterschied zu anderen Tieren. Der folgende Sinnabschnitt (V. 3-6) ist argumentativ, d. h. der Sprecher versucht den Leser von seiner Sichtweise zu überzeugen. Der Mensch habe bereits „Mit siebzehn Jahren Filzläuse“ (V. ), was den Vergleich mit dem „dreckigen Schwein“ zulässt. Trotz aller Hygiene ist der Mensch in seiner scheinbaren Perfektion anfällig für Filzläuse. Es folgt in den weiteren Versen (4-6) die Aufzählung weiterer Krankheiten und Schwächen des Menschen. In seiner jugendlichen Naivität („siebzehn Jahren“ V. 3) führt ihn sein Leichtsinn zu „Darmkrankheiten“ und „Alimenten“ (V. 5). Gründe hierfür seien „Weiber und Infusorien“ (V. 6). Diese Krankheiten des Menschen, dargestellt durch einen Chiasmus (V. 5 f. ), zeigen Schwächen des Menschen, die das lyrische Ich ausnutzt um dessen Autorität zu untergraben. Hierfür benutzt es unter anderem das abfällige und aus dem Tierbereich stammende Wort „Schnauze“ (V. 4). Statt mit ihren Mündern, küssten sich Jugendliche mit ihren Schnauzen, Schweinen gleich, die mit ihren Schnauzen im Dreck wühlen. Es folgt nun der dritte Sinnabschnitt (V. 7-14). Der jugendliche Mensch von siebzehn Jahren ist nun einem vierzigjährigen gewichen (V. 7). Es wird folglich eine zeitliche Entwicklung des Menschen erkennbar, durch die der Sprecher das Leben eines Menschen verfolgt und kritisiert bzw. herabwürdigt. „Mit vierzig fängt die Blase an zu laufen“ (V. 7). Der Mensch hat ein Alter erreicht, in dem einige Organfunktionen nachlassen. Zwar wird mit dieser Aussage kein konkreter Vergleich mit einem Tier vorgenommen, doch lässt sie erkennen, dass der Mensch nicht perfekt ist, sondern empfindlich gegenüber Krankheiten. Diese Empfindlichkeit nimmt mit steigendem Alter sogar zu, was den Menschen (oder „die Krone der Schöpfung“ V. 1) allzu normal und sterblich erscheinen lässt. Mit dem nächste Vers wendet sich der Sprecher mit seinen Vorwürfen erstmals an andere Personen: „Meint ihr, um solch Geknolle wuchs die Erde“ (V. 8). Zieht man nun den Titel des Gedichtes in Betracht, so erscheint das lyrische Ich in der Rolle eines Arztes, der eine (vermutlich christliche) Ihr-Gruppe um sich versammelt hat, um die Nichtigkeit des Menschen auf der Erde zu beweisen. Ferner spielt der Sprecher auf einen religiösen Bezug an; die Schöpfungsgeschichte, aus der der Mensch als Herrscher über Natur und Umwelt hervorgeht und ebenso über die gesamte Tierwelt verfügt. Der Neologismus3 „Geknolle“ (V. 8) lässt den Menschen wiederum als eine unbedeutsame Kreatur erscheinen, die in keiner Weise über das Gefüge aus Erde, Sonne und Mond (V. 9) zu herrschen im Stande erscheint. Die Reaktion des Publikums auf das lyrische Ich spiegelt sich in der folgenden Aussage wieder: „Was kläfft ihr denn?“ (V. 9). Die Ihr-Gruppe scheint erstaunt und verärgert zugleich, was aufgrund der gewagten Thesen des Arztes nicht verwunderlich erscheint. „Ihr sprecht von Seele- Was ist eure Seele?“ (V. 10). Der Begriff „Seele“ verdeutlicht hierbei, dass es sich um eine religiöse Gruppe handeln muss. Ferner fragt das lyrische Ich völlig indiskret, ob nicht“ die Greisin Nacht für Nacht ihr Bett [verkacke]“ und ob nicht der Greis sich die „mürben Schenkel“ zuschmiere (V. 11 f. ). Es wird ersichtlich, dass die zeitliche Entwicklung weiter fortgeschritten ist und dass nun ein Greis und eine Greisin das Angriffsziel des Sprechers sind. In der letzten Lebensphase vor dem Tod haben die alten Menschen jegliche Kontrolle über ihre Organe und somit auch über ihren Körper verloren. Sie sind gezeichnet von dem Leben, das hinter ihnen liegt, und bereiten sich auf den Tod vor. Die Verben „verkackt“ und „schmiert“ (V. 10 f. ) weisen abermals eine Ähnlichkeit zu den Tieren auf. Die vulgäre Ausdrucksweise des Sprechers erweckt sogar Abscheu vor den Menschen. Ähnlich abstoßend erscheinen die Bedürfnisse der Menschen zu essen. Das Bedürfnis wird von dem lyrischen Ich so umschrieben, dass die Aussage auch auf die Ernährung eines Schweins passt (V. 13). Noch einmal wendet sich das lyrische Ich fragend an sein Publikum. Es fragt sie, ob die Menschen wirklich dazu bestimmt wurden, über die Erde zu verfügen, oder ob der Mensch nicht doch irrtümlicherweise für die „Krone der Schöpfung“ gehalten wird (V. 14). Die vom Sprecher verwendete Interpunktion in Form von Auslassungspunkten zeigt, dass er davon abgehalten wurde, eine weitere Frage diesbezüglicher Art zu stellen. Sein Publikum versucht wahrscheinlich zu antworten, doch der Sprecher wehrt mit einer Interjektion („Äh!“ V. 15) ab. Das lyrische Ich ignoriert die kritischen und zweifelnden Stimmen seiner Audienz und fährt unbeirrt fort. Der Ausruf „Äh!“ zeigt zum einen den Ekel, den der Sprecher gegenüber dem Menschen empfindet und zum anderen dessen Unbeholfenheit sich adäquat auszudrücken, was seiner Gleichgültigkeit den Kritikern gegenüber besonderen Ausdruck verleiht. In dem letzten Sinnabschnitt ist die zeitliche Entwicklung der genannten Personen abgeschlossen. Das lyrische Ich betont noch einmal, dass der Mensch keineswegs die Krone der Schöpfung ist, sondern vielmehr das Produkt einer ziellosen und hässlich-brutalen Evolution vom Anorganischen zum Organischen (V. 15-17). Letztendlich ist auch er, der Mensch, sowohl als Individuum wie als Spezies zum allmählichen Untergang verdammt (V. 19). Der Sprecher beendet das Gespräch in dem Glauben die Ihr-Gruppe von seinen Thesen überzeugt zu haben. Der Mensch verschwindet mit seinem Tod spurlos von der Erde; hier: im Schatten. Die Krone der Schöpfung ist tot. Das Gedicht ist der Epoche des Expressionismus zuzuordnen. Hierfür spricht zum einen die Sprache: die vielen ungeordneten Verse (Syntax und Form) und der vulgäre Sprachgebrauch (Beleidigungen und Interjektionen4). Diese zeugen von Sprachnot und suggerieren einen euphorisierten und wütenden Sprecher. Das durch Darwin, Freud und Nietzsche veränderte Menschenbild erklärt hierbei den Anlass des lyrischen Ichs für dessen Argumentation: Es sieht (als Arzt) durch die neuen menschlichen Erkenntnisse nichts weiter als ein Tier in dem Menschen. Die für den Expressionismus typische Weltuntergangsstimmung geht mit den o. g. Thesen einher.

Lesen Sie auch: Gehirntransplantation: Eine kritische Analyse

tags: #Gottfried #Benn #Gehirne #Analyse #Interpretation