Manche Lebewesen existieren ganz ohne Gehirn. Und doch hat sich das Denkorgan als der evolutionäre Hit erwiesen. Aber warum ist das so?Diese Frage führt uns auf eine faszinierende Reise durch die Evolution der Nervensysteme, von den einfachsten Einzellern bis zum komplexesten Organ im bekannten Universum - dem menschlichen Gehirn.
Die Anfänge: Chemische Signale und erste Nervensysteme
Die ersten Lebewesen nutzten chemische Signale zur Kommunikation zwischen Zellen. Ein Zuckermolekül zum Beispiel braucht in stillem Wasser bei Zimmertemperatur rund 27 Stunden, um einen einzigen Zentimeter voranzukommen. Für vielzellige Lebewesen war diese Art der Kommunikation aber zu langsam.Die ersten Nervensysteme entstanden als evolutionäre Antwort auf dieses Problem, vermutlich vor rund 700 Millionen Jahren. Sie boten den Vielzellern gegenüber der rein chemischen Zellkommunikation einen enormen Geschwindigkeitsvorteil - und damit einen evolutionären Vorsprung gegenüber Lebewesen ohne Nervenzellen.Zwar haben sich seither auch die chemischen Signaloptionen weiterentwickelt, zum Beispiel zu effizienten Hormonsystemen in Wirbellosen und Säugetieren. Doch ohne die millisekundenschnellen Signale der Nervenzellen wäre es Tieren nicht möglich, rechtzeitig auf Fressfeinde, Artgenossen oder Beute und andere Nahrungsquellen zu reagieren.
Von Nervennetzen zu zentralen Nervensystemen
Die frühesten Nervenzellen entstanden wahrscheinlich in Nesseltieren, zu denen heute unter anderem Seeanemonen, Medusen, Hydras und die gemeine Ostsee-Urlaubs-Qualle gehören. Die meisten Nesseltiere besitzen noch heute lediglich simple Netze aus Nervenzellen, mit denen sie sich, ohne etwas davon zu wissen, an Rentnerehepaaren und planschenden Kindern vorbeischieben. Ein solches dezentrales Nervensystem kann aber nur recht simple Reflexe erzeugen, für eine klügere Interpretation verschiedener Sinnesdaten dagegen reicht ein Nervennetz nicht.
Einige Vorfahren der heutigen Quallen waren zudem die Protagonisten einer weiteren evolutionären Première: Vor mindestens 580 Millionen Jahren, das wissen wir von Fossilienfunden, schlossen sich Nervenzellen auf der Körperoberfläche der Nesseltiere erstmals zu Augen, Riech- und Gleichgewichtsorganen zusammen. Nur 10 Millionen Jahre später - auch das zeigen Fossilienfunde - betraten dann erstmals Wesen die Bühne der Urmeere, die sich anschickten, klüger zu sein als die Ahnen der Qualle.Anders als ihre Nesseltier-Verwandten waren diese Tiere spiegelsymmetrisch aufgebaut. Diese so genannten „Zweiseiter” oder „Bilateria“ sind die Vorfahren aller spiegelsymmetrischen Tiere, inklusive der Wirbeltiere, also auch uns Menschen. Als erste Lebewesen hatten sie ein Kopfende mit Augen und einem kleinen Gehirn, Ganglion genannt, und einen verlängerten Körper, durch den Nervenstränge bis zum Hinterteil liefen. Mit einem zentralen Nervensystem konnten die Zweiseiter erstmals Sinnesdaten auf vielfältige Weise verrechnen und so sinnvolle Reaktionen auf Reize entwickeln. Über die Nervenstränge, die den Körper durchzogen, steuerte zudem erstmals ein zentraler Taktgeber Muskelgruppen zielgenau an - es entwickelten sich komplexe Motorprogramme, die den Körper je nach Situation angemessen steuern konnten wie ein Dirigent sein Orchester.
Der Game-Changer: Synaptische Transmission und Lernen
Zum echten Game-Changer aber wurden zentrale Nervensysteme aus einem anderen Grund: Die besonders effiziente Weiterleitung der Erregungen. Nervenzellen sind nicht direkt aneinander gekoppelt. Am Ende ihrer langen Leitung übertragen sie ihre Impulse auf die nachgeschalteten Neurone über einen winzigen Spalt. In diesem Spalt, der so genannten „Synapse”, springt meist kein elektrischer Funke über. Stattdessen schüttet die erste Nervenzelle chemische Botenstoffe in die Synapse, so genannte Neurotransmitter. Diese verbreiten sich von der ersten Zelle über die zweite Neurotransmitter - Botenmoleküle im Gehirn. Der Clou dieser „synaptischen Transmission” ist, dass damit die Informationsverarbeitung relativ simpel geregelt werden kann: Je mehr Botenstoffe in die Synapse ausgeschüttet werden, desto stärker wird die empfangende Zelle aktiviert.
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Stritten sich bisher nur genetisch vererbte Reflexe im evolutionären Rennen, so begann mit dem Zeitalter der zentralen Nervensysteme der Kampf um das schnellste und sinnvollste Lernprogramm. Schon der simple durchsichtige Fadenwurm C. Elegans, dessen Nervensystem nur 302 Neuronen hat, kann sich erstaunlich viele Dinge merken. Er „erschrickt“ mit der Zeit immer weniger, wenn neugierige Forscher andauernd gegen seine Petrischale klopfen - zumindest zuckt er weniger zurück. Diese Gewöhnung geht ins Langzeitgedächtnis im Mini-Gehirn der Würmer über. Sie merken sich sogar die Farbe des Umgebungslichtes, bei der ihnen Forscher ein paar Algen zu futtern gegeben haben: ein Beispiel für assoziatives Lernen.
Die Komplexität des Säugetiergehirns und das Bewusstsein
Je komplexer das Nervensystem, desto feiner sind die Unterscheidungen von Sinnesreizen, die ein Lebewesen leisten - und desto ausgefeilter die Reaktionen, die es lernen kann. Und desto vielseitiger werden auch die motorischen Fertigkeiten.Das komplexeste Nervensystem, in der Tat das komplexeste Objekt im bekannten Universum, tragen Säugetiere wie Sie und ich in unserem Schädel herum. Hat der Fadenwurm C. Elegans nur 302 Nervenzellen, so sind es im Säugetierhirn viele Milliarden, und beim Menschen rund 90 Milliarden. Jede einzelne Nervenzelle sendet seine Signale an bis zu Zehntausend Empfänger. Manche Neurone aktivieren nachgeschaltete Zellen, andere hemmen sie; je nachdem, welcher der über einhundert möglichen Neurotransmitter die Synapse nutzt. Bei einer derartigen Komplexität verwundert es nicht, dass zahlreiche Säugetiere auch komplexe Vorstellungen über ihre Lebenswelt haben. In der hohen Anzahl der verfügbaren Nervenzellen und der besonderen Architektur des Cortex liegt ihr evolutionäres Erfolgsrezept. Es erlaubt Säugetieren, aber auch Vögeln und zum Beispiel Tintenfischen, Objekte zu erkennen und zu kategorisieren - Nahrung oder Gift, Freund oder Feind -, mit Artgenossen zu kommunizieren und ziemlich schwierige Rätsel zu lösen.
Zu solchen Erkenntnissen über die eigene Lebenswelt kommt beim Menschen - und zumindest in rudimentärer Form auch bei einigen Tieren wie etwa Elefanten und Menschenaffen - noch eine Vorstellung hinzu: die vom Selbst oder Ich. Wir haben ein Bild von uns, unseren Stärken und Schwächen, unseren Vorlieben und Abneigungen. Menschen mit Hirnverletzungen lassen vermuten, dass die Persönlichkeit, also die Art, wie wir mit Handlungen, Ideen und Emotionen auf unsere Umwelt reagieren, im Frontallappen des menschlichen Cortex angesiedelt ist. Und wie alle anderen Vorstellungen nicht in Hirn „gemeißelt“ sein muss. Nicht nur Verletzungen des Frontallappens zeigen, dass unser Selbst ein wandelbares Konstrukt ist. Drogen, Lebensereignisse, hormonelle Veränderungen - etliche Einflüsse auf die Informationsverarbeitung in unserem Gehirn verändern, wie wir die Welt und uns selbst wahrnehmen. Auch Sie sind nicht mehr dieselbe Person, die sie in der ersten Grundschulklasse waren. Und wenn Sie diesen Artikel aufmerksam genug gelesen haben, ist ihr Gehirn schon jetzt nicht mehr dasselbe wie vor wenigen Minuten.
Gehirne im Tierreich: Rekorde und Besonderheiten
Neben Tieren, die gar kein Hirn haben, findet man im Tierreich aber auch Lebewesen mit unglaublichen Gehirnen. Das Tier mit dem schwersten Gehirn lebt ebenfalls im Wasser: Das Hirn des Pottwals erreicht ein Gewicht von über neun Kilogramm. Damit ist es etwa siebenmal schwerer als das menschliche Gehirn. Betrachtet man nur die Landtiere, liegt der Elefant auf dem ersten Platz. Delfine können die größte Kapazität des Gehirns nutzen. Der medizinische Blutegel hat nicht nur ein Gehirn, sondern ganze 32. Im Vergleich zur Körpermasse haben Seekühe das kleinste Gehirn.
Lernen ohne Gehirn: Die erstaunlichen Fähigkeiten der Schlangensterne
Wie lernen eigentlich Tiere, die gar kein Gehirn besitzen? Geht das überhaupt? Eine Forschergruppe hat sich die Lernfähigkeit von solchen Lebewesen angeschaut. Die „Stars“ dieser Forschung waren Schlangensterne. Jeder der 5 Arme der Tiere hat einen Nervenstrang, die in der Nähe des Mundes in einem Ring zusammenlaufen. Anders als bei anderen Tieren fehlt jedoch das Zentrum, die Schaltzentrale.Die Forschungsergebnisse zeigten, dass Schlangensterne lernen können. Nach einer Weile kamen die Schlangensterne, die in der Dunkelheit gefüttert worden waren, schon aus ihrem Versteck, sobald das Licht aus ging. Sie hatten also gelernt, dass es immer Futter gibt, sobald es dunkel wird. Und selbst nach 13 Tagen erinnerten sich die Schlangensterne noch daran und kamen bei Ausschalten des Lichtes aus ihrem Unterschlupf. Das taten sie auch dann, wenn es kein Futter gab.
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Gehirngröße und Intelligenz: Mehr als nur ein quantitativer Faktor
Der Mensch besitzt ein verhältnismäßig großes Gehirn und eine hohe Intelligenz. Daher ist es natürlich logisch anzunehmen, dass große Gehirne auch hohe Intelligenz bedeuten. Ein Walgehirn beispielsweise wiegt bis zu 9000 Gramm und es enthält 200 Milliarden Neuronen, von denen ein menschliches Hirn »nur« rund 85 Milliarden besitzt. Aber auch die auf Körperlänge oder Körpergewicht bezogene relative Gehirngröße ist als Maßstab irreführend, denn das Gehirn wächst nicht proportional zur Körpergröße, sondern etwas langsamer.
Lars Chittka und Jeremy Niven mahnen zur Vorsicht: Zwar könne man von der Körper- auf die Gehirngröße schließen, aber ein Schluss von der Gehirngröße auf die Intelligenz sei nicht so einfach möglich. Zur Begründung verweisen sie auf die Honigbiene, deren Hirn nur ein Milligramm wiegt und kaum eine Million Neuronen besitzt. Gleichwohl ist dieses Insekt fähig zu zählen, Regeln zu erlernen, Objekte in verschiedene Kategorien einzuteilen sowie symmetrische und asymmetrische Formen unterschieden. Und es hat ein Gedächtnis für räumliche Zusammenhänge.
Diese seien notwendig geworden, antworten die Forscher, um bei größeren Tieren etwa die zahlreichen Muskeln zu steuern, die Wahrnehmung und Gedächtnisleistung zu verbessern oder die parallele Verarbeitung von Informationen zu verstärken. Das bedeute aber nicht, dass größere Gehirne zwangsläufig zu einem höheren Grad an Komplexität führten. »Vielleicht könnte man sagen, dass Tiere mit größerem Gehirn größere Festplatten, aber nicht unbedingt bessere Prozessoren haben«, erläutert Chittka.
Die Bedeutung der Hirnfaltung und der Neuronenpackungsdichte
Die Forscher haben einen bestimmten Wert der Hirnfaltung ausgemacht, der Säugetiere in zwei Gruppen einteilt. Je nachdem, ob ein Lebewesen diesen Wert über- oder unterschreitet, hat es ein stark gefaltetes oder wenig bis gar nicht gefaltetes Gehirn. Tiere mit wenig oder gar nicht gefalteten Gehirnen leben z.B. vorwiegend in kleinen Gruppen in eng bemessenen Lebensräumen, bei der anderen Gruppe der Säugetiere mit stark gefalteten Gehirnen hingegen sind es große soziale Verbände, die sich über teils sehr große Gebiete ausdehnen können.
Entscheidend ist, wie dicht die Neuronen gepackt sind. Bei den meisten Wirbeltieren ist es so: Je größer ihr Gehirn, umso geringer ist die Packungsdichte der Neuronen. Vögel und Primaten sind die einzigen Wirbeltiere, bei denen dieses Prinzip nicht gilt. Ihre Neuronen sind in großen wie in kleinen Gehirnen gleich dicht gepackt. "Bei Vögeln ist die Packungsdichte sogar noch höher als bei den Primaten, sie haben also je Gramm Hirngewicht noch mehr Nervenzellen. Das erklärt zumindest zum Teil, warum sie trotz ihrer kleinen Gehirne so erfolgreich sind", so Güntürkün.
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Die Verbindungen machen den Unterschied: Synapsen und neuronale Schaltkreise
Die eigentliche Musik spielt sich in den Verbindungen der Nervenzellen ab. Und wir können davon ausgehen, dass eine größere Zahl an Nervenzellen auch mehr synaptische Verbindungen ausbildet. Unstrittig ist, dass der Mensch sämtliche Tiere auch in der Zahl der Synapsen übertrifft. Unsere Hirnrinde ist mit maximal fünf Millimetern rund viermal so dick und zudem noch doppelt so dicht mit Neuronen bepackt wie die der Wale und Elefanten. Diese vielen, eng benachbarten Zellen können besonders schnell miteinander kommunizieren. "Nach meinen Schätzungen ist die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn sechs- bis zehnmal höher als in den sehr viel größeren Gehirnen der Elefanten und Wale", erläutert Gerhard Roth.
Je mehr Neuronen in diesen parallel verknüpften Pilzkörper-Modulen liegen, umso komplexer sind die Leistungen, die sie ermöglichen: Honigbienen haben dort mit etwa 130.000 Neuronen rund 26-mal so viele wie die Taufliege Drosophila. Auch die Hirnrinde im Säugergehirn ist in Parzellen unterteilt, wo die Vielzahl von äußeren Sinneseindrücken und inneren Körperzuständen verarbeitet und zusammengeführt werden. Je stärker diese Parzellierung ist, umso besser: Mäuse und andere kleine Säugetiere haben etwa zehn Areale, die unterschiedliche Informationen aufnehmen und weiterleiten. Dagegen verfügt die menschliche Hirnrinde über 150 Areale mit 60 Verbindungsstellen, die insgesamt 9000 Areal-Verschaltungen ermöglichen.