Hereditäre Neuropathien, auch erbliche Neuropathien genannt, umfassen eine heterogene Gruppe von Erkrankungen des peripheren Nervensystems. Diese Erkrankungen sind genetisch bedingt und können motorische, sensible oder autonome Nerven betreffen. Die Symptome variieren stark und können von leichten Beschwerden bis hin zu schweren Einschränkungen reichen. Obwohl es derzeit in den meisten Fällen keine kausale Therapie gibt, die die Ursache der Erkrankung bekämpft, gibt es eine Reihe von Behandlungsansätzen, die darauf abzielen, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Dieser Artikel bietet einen Überblick über aktuelle Behandlungsstrategien und neue Entwicklungen im Bereich der hereditären Neuropathien.
Überblick über hereditäre Neuropathien
Hereditäre Neuropathien umfassen verschiedene Formen, darunter die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT), hereditäre sensorische und autonome Neuropathien (HSAN), hereditäre motorische Neuropathien (HMN) und Small-Fiber-Neuropathie (SFN). Mutationen in über 100 Genen können diese Erkrankungen verursachen, wobei autosomal-dominante, autosomal-rezessive und X-chromosomal vererbte Formen unterschieden werden. Die genetische Diagnostik spielt eine wichtige Rolle, um die spezifische Ursache der Neuropathie zu identifizieren und die Patienten über mögliche Risiken für ihre Kinder und andere Familienangehörige zu informieren.
Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT)
Die Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung (CMT), auch bekannt als hereditäre motorisch-sensible Neuropathie (HMSN), ist die häufigste Form der hereditären Neuropathie. Sie zeichnet sich durch fortschreitende distal-symmetrische Paresen, Muskelatrophien und Sensibilitätsstörungen aus. Im Vergleich zu erworbenen Neuropathien stehen bei CMT meist motorische Defizite im Vordergrund, wie z.B. Fußheberschwäche, Hohlfüße und Krallenzehen. Die Erkrankung kann auch mit neuropathischen Schmerzen, Skoliose, Schwerhörigkeit und kognitiven Defiziten einhergehen.
Elektrophysiologisch lassen sich CMT-Erkrankungen in demyelinisierende (CMT1), axonale (CMT2) und intermediäre Formen einteilen. Bei der demyelinisierenden Form ist die Myelinscheide der Nerven geschädigt, was zu einer verringerten Nervenleitgeschwindigkeit führt. Bei der axonalen Form ist das Axon der Nervenzelle primär betroffen.
Hereditäre sensorische und autonome Neuropathien (HSAN)
Die hereditären sensorischen und autonomen Neuropathien (HSAN) sind durch einen Verlust des Schmerzempfindens gekennzeichnet, was zu Verletzungen und schmerzlosen Frakturen führen kann. Je nach Unterform können autonome Symptome wie Herzrhythmus-, Verdauungs- oder Schweißsekretionsstörungen auftreten.
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Small-Fiber-Neuropathie (SFN)
Die Small-Fiber-Neuropathie (SFN) betrifft vorwiegend kleine, unmyelinisierte Schmerzfasern (C-Fasern) und Aδ-Fasern. Sie äußert sich typischerweise durch brennende, zum Teil periodische Schmerzen. Die konventionelle Neurographie ist bei SFN oft unauffällig, während der Nachweis einer reduzierten intraepidermalen Nervenfaserdichte in einer Hautbiopsie die Diagnose untermauern kann.
Hereditäre motorische Neuropathien (HMN)
Bei hereditären Neuropathien ohne wesentliche sensible Beteiligung spricht man von hereditären motorischen Neuropathien (HMN) oder distalen spinalen Muskelatrophien (dSMA). Diese sind meist distal betont.
Diagnostik hereditärer Neuropathien
Ein junges Manifestationsalter und eine positive Familienanamnese sind wichtige Hinweise auf eine hereditäre Neuropathie. Dennoch ist eine gründliche Ausschlussdiagnostik erforderlich, um andere Ursachen wie metabolische, nutritiv-toxische, infektiöse und inflammatorische Erkrankungen auszuschließen.
Klinische Untersuchung und Familienanamnese
Die Diagnose beginnt mit einer ausführlichen Anamnese und klinischen Untersuchung. Dabei werden die Symptome, der Verlauf der Erkrankung und das Vorhandensein ähnlicher Fälle in der Familie erfasst.
Elektrophysiologische Untersuchungen
Elektrophysiologische Untersuchungen wie die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) und die Elektromyographie (EMG) sind wichtig, um die Art und das Ausmaß der Nervenschädigung zu beurteilen. Bei CMT-Erkrankungen können diese Untersuchungen helfen, zwischen demyelinisierenden, axonalen und intermediären Formen zu unterscheiden.
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Bildgebende Verfahren
In der Nervensonografie können bei einigen hereditären Neuropathien verdickte Nerven dargestellt werden. Eine Kernspintomografie (MRT) des Muskels kann als sensitiver und objektiver Verlaufsparameter zur Darstellung distaler Muskelatrophien dienen.
Nervenbiopsie
Eine Nervenbiopsie des Nervus suralis kann in bestimmten Fällen erforderlich sein, um andere behandelbare Neuropathien wie Vaskulitis, Perineuritis oder Amyloid-Neuropathie auszuschließen. Die Aufarbeitung von Nerven- und Hautbiopsien sollte in spezialisierten Zentren erfolgen.
Molekulargenetische Diagnostik
Die molekulargenetische Diagnostik spielt eine zunehmend wichtige Rolle bei der Diagnose hereditärer Neuropathien. Durch die Analyse von Genen, die mit Neuropathien in Verbindung stehen, kann die spezifische Ursache der Erkrankung identifiziert werden.
Einzelgenanalyse
Bei Verdacht auf eine demyelinisierende CMT sollte zunächst die Kopienzahl des PMP22-Gens bestimmt werden, da eine Duplikation dieses Gens häufig bei CMT1-Patienten vorkommt. Bei Hinweisen auf einen X-chromosomalen Erbgang sollte das GJB1-Gen überprüft werden. Bei primärer Beteiligung der kleinen Fasern im Sinne einer SFN können Mutationen in den für spannungsgesteuerte Natriumkanäle codierenden Genen SCN9A, SCN10A und SCN11A nachgewiesen werden.
"Next Generation Sequencing" (NGS)
Die NGS-Panel-Diagnostik ermöglicht die parallele Sequenzierung und Beurteilung einer Vielzahl von Genen, die mit Neuropathien in Verbindung stehen. Dies ist besonders nützlich, da Mutationen in einzelnen Genen oft nur einen kleinen Anteil an der Gesamtmutationsrate ausmachen. In einigen Fällen kann auch eine Exom-Sequenzierung, die parallele Sequenzierung aller Gene des Menschen, in Betracht gezogen werden.
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Aktuelle Therapieansätze
Obwohl es derzeit keine Heilung für die meisten hereditären Neuropathien gibt, gibt es verschiedene Therapieansätze, die darauf abzielen, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.
Symptomatische Therapie
Die symptomatische Therapie umfasst Maßnahmen zur Linderung von Schmerzen, Muskelkrämpfen und anderen Beschwerden.
Schmerztherapie
Neuropathische Schmerzen können mit verschiedenen Medikamenten behandelt werden, darunter Antidepressiva, Antikonvulsiva und Opioide. Topische Capsaicin-Pflaster können ebenfalls zur Behandlung peripherer neuropathischer Schmerzen eingesetzt werden.
Physiotherapie und Ergotherapie
Physiotherapie und Ergotherapie spielen eine wichtige Rolle, um die Muskelkraft und Beweglichkeit zu erhalten und Fehlstellungen von Gelenken zu vermeiden. Aktive Physiotherapie ist besonders wichtig, um die Muskelkraft und Beweglichkeit möglichst lange zu erhalten. Bei starken Lähmungen können passive Techniken zur Unterstützung und Vorbeugung von Kontrakturen eingesetzt werden. Ergotherapie kann helfen, die Feinmotorik zu verbessern und den Umgang mit Hilfsmitteln zu erlernen.
Orthopädische Hilfsmittel
Orthopädische Hilfsmittel wie Orthesen und orthopädische Schuhe können helfen, Fußfehlstellungen zu korrigieren und die Gehfähigkeit zu verbessern. Bei eingeschränkten Gehstrecken kann die Versorgung mit einem Rollator oder Rollstuhl erforderlich sein.
Chirurgische Maßnahmen
Operative Verfahren können infrage kommen, um bestimmte Beschwerden zu behandeln oder Folgeerkrankungen zu vermeiden. So können bei Hammerzehen operative Korrekturen vorgenommen werden, um der Gefahr einer Geschwürbildung vorzubeugen. In manchen Fällen können stark zerstörte Gelenke in Versteifungsoperationen wieder Halt geben und dadurch Schmerzen beheben.
Spezifische Therapien für bestimmte hereditäre Neuropathien
In einigen Fällen gibt es spezifische Therapien für bestimmte hereditäre Neuropathien.
Transthyretin-Amyloidose (ATTR)
Die hereditäre Transthyretin-Amyloidose (hATTR-PN) ist eine seltene Erkrankung, bei der es zu Ablagerungen von fehlgefalteten Monomeren des Transportproteins Transthyretin (TTR) im peripheren Nervensystem kommt. Dies führt zu einer Schädigung der peripheren Nerven und verläuft ohne Behandlung im Allgemeinen innerhalb eines Jahrzehnts tödlich.
Mit Eplontersen steht seit März 2025 eine neue Therapieoption für die hATTR-PN zur Verfügung. Eplontersen ist ein Antisense-Oligonukleotid, das die Produktion von Transthyretin in der Leber reduziert und somit die Ablagerung von Amyloidfibrillen verhindert. Vutrisiran ist ein weiteres RNAi-Therapeutikum, das das Potenzial hat, bei Patienten mit gleichzeitig neurologischen und kardialen Symptomen die Progression zu verhindern. Tafamidis ist ein Transthyretin-Stabilisator, der zur Behandlung der ATTR-CM eingesetzt wird.
CAR-T-Zell-Therapie bei Autoimmunneuropathie
Ein Bochumer Ärzteteam hat erstmals erfolgreich die CAR-T-Zell-Therapie eingesetzt, um zwei Menschen mit einer seltenen Form der Autoimmunneuropathie zu behandeln. Bei der Therapie wurden körpereigene Immunzellen gentechnisch so verändert, dass sie krankheitsverursachende Zellen gezielt erkennen und eliminieren.
Neue Entwicklungen und Forschung
Die Forschung im Bereich der hereditären Neuropathien schreitet stetig voran. Neue genetische Ursachen werden entdeckt, und es werden neue Therapieansätze entwickelt.
Gentherapie
Die Gentherapie ist ein vielversprechender Ansatz zur Behandlung hereditärer Neuropathien. Dabei werden defekte Gene durch funktionierende Kopien ersetzt oder die Expression schädlicher Gene unterdrückt.
Medikamentöse Therapien
Es werden laufend neue Medikamente entwickelt, die spezifisch auf die Ursachen und Mechanismen hereditärer Neuropathien abzielen.
Stammzelltherapie
Die Stammzelltherapie ist ein weiterer vielversprechender Ansatz zur Behandlung von Nervenschäden bei hereditären Neuropathien.
Bedeutung der interdisziplinären Zusammenarbeit
Die Behandlung hereditärer Neuropathien erfordert eine enge Zusammenarbeit verschiedener Fachrichtungen, darunter Neurologen, Humangenetiker, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Orthopäden. Durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit kann eine umfassende Diagnostik und Therapie gewährleistet werden, die auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten zugeschnitten ist.
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