Die diabetische Polyneuropathie (DPN) ist eine Form der Polyneuropathie, die als Folge eines Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) auftritt. Sie ist durch Schädigungen an multiplen Nerven gekennzeichnet.
Was ist eine Polyneuropathie?
Die Polyneuropathie (PNP) ist eine Erkrankung des peripheren Nervensystems, bei der mehrere Nerven geschädigt werden. Das periphere Nervensystem umfasst alle Nerven, die sich außerhalb des Gehirns und des Rückenmarks befinden. Diese Nerven sind für die Reizweiterleitung zuständig, die bei einer Polyneuropathie gestört sein kann. Die Reize können entweder abgeschwächt oder verstärkt an das Gehirn weitergeleitet werden.
Polyneuropathien können verschiedene Gebiete des Körpers und verschiedene Nervenqualitäten (Schmerz, Temperatur und/oder Tastempfindung) betreffen. Typischerweise beginnt die Polyneuropathie mit Beschwerden an den unteren Extremitäten, wobei meist Missempfindungen im Bereich der Zehen oder der Fußsohle initial auftreten.
ICD-Codes für Polyneuropathie
ICD-Codes (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) sind international gültige Verschlüsselungen für medizinische Diagnosen. Sie werden von der WHO herausgegeben und dienen der einheitlichen Benennung von Krankheiten. Für Polyneuropathien sind die ICD-Codes G63, G61 und G62 relevant. Es gelten sowohl Version ICD-10 als auch Version ICD-11.
Epidemiologie der diabetischen Polyneuropathie
Die diabetische Polyneuropathie ist eine häufige Komplikation des Diabetes mellitus. Schätzungsweise 30 bis 50 % aller Neuropathien sind diabetisch bedingt. 20 bis 40 Prozent der Diabetiker/innen zeigen eine mehr oder weniger ausgeprägte Neuropathie-Symptomatik. Betroffen sind hierbei meist Menschen zwischen 60 und 70 Jahren, die bereits seit mehreren Jahren erkrankt sind. Männer und Frauen sind etwa gleich häufig betroffen. Die Häufigkeit von Polyneuropathien in der erwachsenen bzw. älteren Bevölkerung wird auf ca. 5-8 % geschätzt.
Lesen Sie auch: Einblick in die Pathophysiologie der diabetischen Polyneuropathie
Ursachen und Risikofaktoren
Die Ursachen für eine Polyneuropathie sind vielfältig. Neben dem Diabetes mellitus gibt es zahlreiche weitere Auslöser:
- Metabolische Ursachen: Diabetes mellitus, Hepatopathie, Urämie, Hypothyreose, Hyperurikämie
- Toxische Ursachen: Alkoholabusus, Arsen, Blei, Thallium, Quecksilber, Medikamente (Chemotherapeutika, Cisplatin, Thalidomid, Vinblastin, Vincristin, Nitrofurantoin, Amiodaron, Penicillin…), Alkohol
- Infektiöse Ursachen: Borreliose, CMV, HIV, Hepatitis, FSME, Masern, Mononukleose, Mykoplasmen
- Vaskulitiden und Kollagenosen
- Vitamin B12 Mangel
- Paraneoplastische Syndrome
- Critical-illness-PNP
- Hereditäre Polyneuropathien (HMSN)
Ein schlecht eingestellter Blutzuckerspiegel über längere Zeit und andere Störungen des Stoffwechsels schädigen nach und nach die Nerven. Die Nervenschäden bei einer diabetischen Neuropathie entstehen durch mehrere Faktoren.
Risikofaktoren für die Entwicklung einer diabetischen Polyneuropathie sind:
- Lange Diabetesdauer
- Schlechte Blutzuckereinstellung
- Erhöhte Blutfette
- Bluthochdruck
- Übergewicht
- Rauchen
- Alkoholabusus
Symptome
Die Symptome einer diabetischen Polyneuropathie können vielfältig sein und hängen davon ab, welche Nerven geschädigt sind. Typische Symptome sind:
- Sensibilitätsstörungen:
- Hypästhesie (verminderte Berührungsempfindlichkeit)
- Parästhesien (Kribbeln, Ameisenlaufen, Brennen, Stechen)
- Taubheitsgefühl
- Hyperalgesie (erhöhte Schmerzempfindlichkeit)
- Thermhypästhesie (verminderteTemperaturempfindlichkeit)
- Eingeschränktes oder fehlendes Spitz-Stumpf-Empfinden
- Beeinträchtigung des Lageempfindens
- Reduzierte 2-Punkte-Diskrimination
- Schmerzen:
- Brennende, stechende oder bohrende Schmerzen
- Überempfindlichkeit auf Berührung
- Schmerzen verstärken sich oft nachts
- Motorische Störungen:
- Muskelschwäche, insbesondere in den Füßen und Unterschenkeln
- Muskelkrämpfe (Crampi), häufig nachts in Ruhe
- Muskelatrophie (Muskelschwund), z. B. des M. extensor digitorum brevis
- Schwierigkeiten beim Hackenstand
- Gangunsicherheit, Ataxie
- Autonome Funktionsstörungen:
- Orthostatische Dysregulation (Schwindel beim Aufstehen)
- Herz-Kreislauf-Probleme
- Hydrosis (vermehrtes Schwitzen) oder trockene Haut
- Blasenentleerungsstörungen
- Verdauungsstörungen (Übelkeit, Verstopfung, Durchfall)
- Erektionsstörungen
- Weitere Symptome:
- Pelzigkeitsgefühl, Engegefühl (Manschetten)
- Gefühl, auf Watte zu laufen
- Zunahme der Gangunsicherheit im Dunkeln
Ungefähr die Hälfte der Menschen mit einer diabetischen Neuropathie hat jedoch keine Beschwerden. Bei ihnen können trotzdem das Empfindungsvermögen und Muskelreflexe vermindert sein oder fehlen. Auch haben sie oft einen unsicheren Gang und stürzen leichter. Ebenso bleiben Fußverletzungen häufig unbemerkt, weil sie nicht schmerzen.
Lesen Sie auch: Therapieansätze bei diabetischer Polyneuropathie
Diagnose
Die Diagnose der diabetischen Polyneuropathie basiert auf einer Kombination aus Anamnese, körperlicher Untersuchung und technischen Untersuchungen.
Anamnese
Der Arzt wird sich ausführlich nach den Beschwerden des Patienten erkundigen und nach möglichen Risikofaktoren fragen. Wichtige Fragen sind:
- Seit wann bestehen die Beschwerden?
- Treten die Beschwerden gleichzeitig auf?
- Leiden Sie an Vorerkrankungen, insbesondere Diabetes mellitus?
- Welche Medikamente nehmen Sie ein?
- Sind Sie mit giftigen Substanzen in Kontakt gekommen?
- Traten bei anderen Familienmitgliedern ähnliche Beschwerden auf?
- Haben sich die Beschwerden in letzter Zeit verschlechtert?
- Gibt es Hinweise auf Alkohol- oder Drogenkonsum?
- Gibt es Hinweise auf Mangelernährung?
Körperliche Untersuchung
Bei der körperlichen Untersuchung wird der Arzt die Reflexe, die Sensibilität und die Motorik des Patienten überprüfen. Dabei achtet er besonders auf:
- Abschwächung oder Fehlen des Achillessehnenreflexes
- Sensibilitätsstörungen (s. Symptome)
- Muskelschwäche oder -atrophie
- Gangunsicherheit
- Fehlbildungen des Skeletts (z. B. Krallenzehen, Hohlfuß)
Technische Untersuchungen
Zur weiteren Abklärung können folgende technische Untersuchungen durchgeführt werden:
- Elektroneurographie (ENG): Messung der Nervenleitgeschwindigkeit. Bei der Polyneuropathie ist diese meist herabgesetzt. Nervus peronaeus und Nervus tibialis mit F--Wellen, Nervus suralis.
- Elektromyographie (EMG): Messung der elektrischen Muskelaktivität. Sie kann zeigen, ob das Problem beim Muskel selbst oder bei den ihn versorgenden Nerven liegt.
- Quantitative sensorische Testung (QST): Prüfung, wie ein Nerv auf bestimmte Reize wie Druck oder Temperatur reagiert.
- Evozierte Potentiale: Messung der Hirnaktivität als Reaktion auf einen elektrischen Reiz. Tibialis- oder Peronaues-SEP, Medianus- oder Ulnaris-SEP.
- Herzfrequenzvarianzanalyse: Untersuchung der autonomen Nervenfasern des Herzens.
- Sympathischer Hautreflex: Messung der Schweißdrüsenaktivität.
- Ultraschall-Untersuchung der Harnblase: Feststellung, ob sich nach dem Wasserlassen noch Restharn in der Blase befindet.
- Nervenbiopsie: Entnahme einer Gewebeprobe des Nervengewebes zur mikroskopischen Untersuchung.
- Hautbiopsie: Entnahme eines kleinen Stücks Haut zur Untersuchung.
Laboruntersuchungen
Blutuntersuchungen dienen vor allem dazu, häufige und behandelbare Ursachen der Nervenschädigung zu erkennen. Einige Beispiele für solche Labortests bei Polyneuropathie sind:
Lesen Sie auch: Diagnose und Behandlung diabetischer Polyneuropathie
- Blutzucker: Nüchternblutzucker, oraler Glukosetoleranztest (oGTT), HbA1c-Wert ("Langzeitblutzucker")
- Entzündungswerte: CRP, weiße Blutkörperchen etc.
- Vitamin B12-Status
- Leber- und Nierenwerte
- Schilddrüsenwerte
- Vaskulitisparameter
- Serumelektrophorese
- Spezielle Blutuntersuchungen zum Nachweis von Infektionskrankheiten (z. B. Borreliose)
- Genetische Untersuchung: Bei familiärer Häufung von Polyneuropathie oder bestimmten Fehlbildungen des Skeletts.
- Liquordiagnostik: Untersuchung des Nervenwassers.
- 24h Urin: Bei Verdacht auf Intoxikation oder Porphyrie.
- Muskelbiopsie: Entnahme einer Muskelprobe zur Untersuchung.
Differentialdiagnose
Es ist wichtig, andere Ursachen für Polyneuropathie auszuschließen, wie z.B.:
- Alkoholische Polyneuropathie
- Medikamentös-toxische Polyneuropathie
- Entzündliche Polyneuropathien (z.B. Guillain-Barré-Syndrom)
- Hereditäre Polyneuropathien
Therapie
Eine diabetische Neuropathie ist nicht heilbar. Das Ziel der Therapie ist daher, den Verlauf der Erkrankung zu verlangsamen und Komplikationen wie ein Fußgeschwür zu verhindern. Die Therapie der Polyneuropathie sollte vor allem ursächlich erfolgen.
Optimale Blutzuckereinstellung
Eine optimale und stabile Blutzuckerkontrolle ist wichtig, um eine diabetische Neuropathie möglichst lange aufzuhalten - besonders bei Menschen mit Typ-1-Diabetes. Menschen mit Typ-2-Diabetes können besonders darauf achten, sich gesund zu ernähren und viel zu bewegen, um so die Blutfette, den Blutdruck, das Körpergewicht und den Blutzucker zu normalisieren.
Medikamentöse Therapie
- Schmerzmittel: Schmerzen werden oft mit Medikamenten gelindert, die üblicherweise bei Depressionen und Epilepsie zum Einsatz kommen. Sie hemmen die Weiterleitung der Schmerzreize an das Gehirn und können bei diabetischer Neuropathie helfen.
- Antidepressiva: Trizyklische Antidepressiva (z. B. Amitriptylin) und selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI, z. B. Duloxetin, Venlafaxin)
- Antikonvulsiva: Gabapentin, Pregabalin
- Opioide: Nur in Ausnahmefällen bei sehr starken Schmerzen
- Lokale Medikamente: Capsaicin-Creme oder -Pflaster
Nicht-medikamentöse Therapie
- Physiotherapie: Kann helfen, die körperliche Fitness zu verbessern und so auch Stürzen und Verletzungen vorzubeugen.
- Ergotherapie: Hier lernt man, mit körperlichen Einschränkungen zurechtzukommen.
- Fußpflege: Regelmäßige medizinische Fußpflege ist wichtig, um Verletzungen und Infektionen vorzubeugen.
- Elektrische Nervenstimulation (TENS)
- Akupunktur
Weitere Maßnahmen
- Regelmäßige Fußuntersuchung: Täglich die Füße auf Verletzungen, Druckstellen, Risse oder Infektionen untersuchen.
- Geeignetes Schuhwerk: Bequeme, gut passende Schuhe tragen, um Druckstellen zu vermeiden.
- Vermeidung von Risikofaktoren: Nicht rauchen, Alkoholkonsum einschränken, Übergewicht reduzieren.
- Sicherheitsmaßnahmen im Alltag: Stolperfallen in der Wohnung beseitigen, Haltegriffe im Bad anbringen, Nachtlichter verwenden.
Verlauf und Prognose
Der Verlauf einer diabetischen Polyneuropathie ist individuell unterschiedlich. Durch eine gute Blutzuckereinstellung und eine konsequente Behandlung können die Beschwerden gelindert und das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamt werden. Unbehandelt kann sich die Polyneuropathie immer weiter im peripheren Nervensystem ausbreiten und auch innere Organe befallen. Sollte die PNP im weitreichenden Verlauf wichtige Organe, wie Lunge oder Herz befallen, kann sie unbehandelt auch zu einer kürzeren Lebenserwartung führen.
Prävention
Einer diabetischen Polyneuropathie kann vorgebeugt werden, indem man:
- Den Blutzucker optimal einstellt
- Bluthochdruck und erhöhte Blutfette behandelt
- Sich gesund ernährt und regelmäßig bewegt
- Nicht raucht
- Alkohol nur in Maßen konsumiert
- Regelmäßig die Füße kontrolliert und pflegt
tags: #icd #diabetische #polyneuropathie #definition