Es ist ein allzu bekanntes Gefühl: Manchmal scheint einfach alles und jeder auf die Nerven zu gehen. Sei es der Mensch, der auf der Straße zu nah vorbeiläuft, der Mitbewohner, der laut kaut, oder der Partner, der nach dem Befinden fragt. Doch woher kommt diese Gereiztheit? Und warum trifft sie oft gerade die Menschen, die wir mögen? Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Ursachen für dieses Phänomen und bietet Lösungsansätze, um besser damit umzugehen.
Die Rolle der Angststörung
Ein möglicher Auslöser für erhöhte Reizbarkeit kann eine Angststörung sein. Andrea Bonior, Doktorin der klinischen Psychologie, erklärt: „Personen mit Angststörung sind generell gereizt und lassen sich leicht aus dem Ruder bringen. Sie sind schnell aufgebracht, verletzt und manchmal wirklich sensibel, was Geräusche und Reize angeht.“ Chronische Angst versetzt das Nervensystem in ständige Alarmbereitschaft, was zu einer schnelleren Reaktion auf äußere Einflüsse führt - ob positiv oder negativ.
Physiologische Ursachen: Nervensystem und Schlafmangel
Es gibt eine physiologische Erklärung für das Gefühl, genervt zu sein. „Bei einer chronischen Angststörung ist das Nervensystem immer in höchster Alarmbereitschaft“, so Bonior. Hinzu kommt, dass Schlafmangel die Reizbarkeit verstärken kann. „Je weniger Schlaf man abgekommen hat, desto bedrohlicher ist die Ansicht, die du über deine Umgebung hast“, sagt Dr. Bonior. „Wenn du unausgeschlafen bist, scheinen die Dinge nerviger, weil du mit einer negativen Einstellung an sie herantrittst.“ Auch Langeweile kann zu erhöhter Gereiztheit führen, da die Gedanken dann vermehrt umherwandern und Dinge wahrnehmen, die man sonst übersehen würde.
Rigide Standards und Erziehung
Ein weiterer Grund für ständiges Genervtsein können überhöhte Standards sein. Wer rigide Vorstellungen davon hat, wie das Leben zu laufen hat, ist oft enttäuscht, wenn die Realität nicht mit diesen Vorstellungen übereinstimmt. Dr. Bonior erklärt: „Du könntest der Typ Mensch sein, der einfach unflexibel und unnachgiebig ist, weshalb du es schwer findest, entspannter mit deinen eigens aufgelegten Regeln umzugehen und zu akzeptieren, dass manche Dinge einfach nicht so laufen, wie du es dir vorstellst.“ Oftmals wurzelt dieses Verhalten in der Kindheit: „Üblicherweise resultiert das alles aus einer Erfahrung im Kindesalter. Wir sind mit etwas aufgewachsen, dass uns wahnsinnig gemacht hat.“
Spezifische Auslöser: Misophonie und Co.
Manche Menschen reagieren besonders empfindlich auf bestimmte Reize, wie beispielsweise das Geräusch von Kauenden. In einigen Fällen kann dies auf Misophonie hindeuten, eine neurologische Erkrankung, bei der bestimmte Geräusche extreme Reaktionen auslösen. Aber auch ohne diagnostizierte Misophonie ist es normal, dass bestimmte Verhaltensweisen anderer Menschen auf die Nerven gehen.
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Wenn mehr dahinter steckt: Unterdrückte Gefühle
Es ist wichtig zu erkennen, dass hinter dem Genervtsein von bestimmten Personen auch tieferliegende Probleme stecken können. „Es kann sein, dass wir manchmal gewisse Themen für uns behalten und dann wiederum super genervt von einer Nichtigkeit sind, die gar keine Rolle gespielt hätte, wenn man nicht die ganze Zeit den Ärger über das andere Thema heruntergeschluckt hätte“, so Dr. Bonior.
Umgang mit dem Genervtsein: Selbstreflexion und Akzeptanz
Auch wenn man das Verhalten anderer nicht ändern kann, so kann man doch die eigene Reaktion darauf beeinflussen. Wer merkt, dass er überdurchschnittlich genervt ist, sollte sich auf den eigenen Körper konzentrieren. „Oftmals sind wir irgendwie angespannt und dann genervt, dass wir angespannt sind - es ist ein Teufelskreis“, sagt Dr. Bonior. Atemübungen oder Mantras können helfen, sich zu zentrieren und bewusster zu reagieren.
Innere Unruhe und der Blick nach Innen
Wer sich ständig von seinen Mitmenschen getriggert fühlt, zeigt, wie unruhig es in seinem Inneren aussieht, erklärt Paartherapeut Christian Hemschemeier. Ewiges Beschweren über andere, ohne bei sich selbst zu schauen, führt nur zu noch mehr Frustration. Um das zu ändern, ist es wichtig, den Schmerz anzunehmen. Streitigkeiten haben oft weniger mit unserem Gegenüber, dafür aber viel mehr mit uns zu tun. Ständiges „genervt sein“ zeigt oft ein Ungleichgewicht.
Energieblockaden und emotionale Unabhängigkeit
Werden wir häufig getriggert, können wir davon ausgehen, dass wir eine Art Energieblockade in uns haben. Diese wächst und gedeiht immer dann, wenn wir eine Emotion nicht im Inneren fühlen, sondern sie ins Außen tragen und gegen Andere richten. Um dieses Ungleichgewicht zu beheben, empfiehlt Hemschemeier, sich auf den Atem zu konzentrieren, den Schmerz wahrzunehmen und anzunehmen. Nur durch das Annehmen lassen sich Energieblockaden auflösen. Und nebenbei werden wir emotional unabhängiger vom Verhalten unserer Mitmenschen.
Der liebevolle Blick und klare Grenzen
Trotz allem wird es natürlich immer wieder Situationen und Menschen geben, die uns triggern. Unsere Aufgabe ist es, unseren eigenen Umgang damit zu finden. Ein hilfreicher Gedanke ist: „Wie dich jemand behandelt, sagt nichts über dich aus, sondern über ihn.“ Wir sehen immer nur die Hülle eines Menschen, sein Inneres oder seine Geschichte kennen wir meist nicht. Deswegen sollten wir uns viel weniger über andere aufregen, sondern sie mit einem wohlwollenden, liebevollen Blick betrachten. Denn vielleicht ist ihr Weg viel mühsamer und leidvoller als unserer!? Ein solch liebevoller Blick kostet uns übrigens viel weniger Energie und ist darüber hinaus deutlich angenehmer für unser eigenes Seelenwohl. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns alles gefallen lassen müssen. Denn klare Grenzen setzen, lässt sich in reflektiertem Zustand ganz ohne Streit. Und das hat übrigens auch etwas mit einem liebevollen Blick zu tun - nämlich mit dem auf uns selbst.
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Introversion und soziale Interaktion
Für manche Menschen kann das Zusammensein mit anderen zwar schön sein, es raubt ihnen aber sehr viel Energie. Wie sehr soziale Interaktionen dich anstrengen, hängt grundsätzlich mit deinem Persönlichkeitstypen zusammen. Introvertierte Menschen laden ihre Akkus auf, wenn sie alleine sind. Andere Menschen entziehen ihnen eher Energie. Gehörst du aber zu den eher introvertierten Menschen, dann hast du vermutlich gerne genug Zeit für dich und deine Ruhe.
Ursachen für Erschöpfung nach sozialen Interaktionen
Es gibt verschiedene Gründe, warum soziale Interaktionen anstrengend sein können:
- Verhalten als Extrovertierter: Vielleicht verhältst du dich so, als seist du extrovertiert, obwohl du eigentlich introvertiert bist. Das führt dazu, dass du dir zu wenig Zeit zum Regenerieren gönnst.
- Ignorieren der eigenen Bedürfnisse: Vielleicht nimmst du deine Bedürfnisse nicht gut genug wahr und verbringst zum Beispiel zu lange Zeit mit anderen oder mit zu vielen Menschen gleichzeitig.
- Übersehen von nonverbaler Kommunikation: Es kann sehr heilsam sein, das Handy abends für eine Zeit in einen anderen Raum zu legen (lautlos!) und so gar nicht mitzubekommen, was die Welt von dir möchte.
- Unpassende Gesellschaft: Natürlich kann es auch schlicht und einfach mit der Person oder der Gruppe zusammenhängen, wenn du dich nach einem Treffen besonders ausgelaugt fühlst. Vielleicht bist du - möglicherweise unbewusst - genervt von dem Menschen oder seinem Verhalten oder ihr habt einfach nicht mehr so viel gemeinsam.
- Andere Belastungen: Manchmal sind es vielleicht auch gar nicht die sozialen Interaktionen, die dich so anstrengen - zumindest nicht ausschließlich. Vielleicht bist du gesundheitlich nicht auf der Höhe, du hast auf der Arbeit viel Stress oder Probleme in der Familie.
Achtsamkeit und Anpassung
Das Wichtigste ist Achtsamkeit: Höre in dich hinein und hinterfrage, was sich gerade gut für dich anfühlt und was nicht. Natürlich lässt sich nicht jede soziale Interaktion vermeiden, etwa im Jobkontext oder in der Familie. Aber vielleicht kannst du die Rahmenbedingungen so anpassen, dass du dich damit wohlerfühlst, oder in anderen Bereichen deines Lebens dafür sorgen, dass du deine Akkus wiederaufladen kannst.
Projektion und innere Konflikte
Es gibt Menschen, die uns regelrecht zur Weißglut treiben können - und das, ohne dass wir so richtig benennen können, was uns denn an ihnen so nervt. Psycholog:innen sind sich einig, dass die Antwort ganz woanders liegt. Und zwar in uns selbst. Tatsächlich projizieren wir unsere eigenen Gefühle, Eigenschaften und inneren Konflikte auf Situationen mit anderen Menschen. Anstatt uns damit auseinanderzusetzen, spiegeln wir unsere Traumata - und laden sie damit auf die Person ab, die uns vermeintlich schon mit ihrer bloßen Existenz furchtbar aufregt.
Schattenelemente und Schutzmechanismen
Jodie Cariss ist Therapeutin und erklärt das Phänomen gegenüber der britischen Glamour: "Wenn wir eine sehr starke Reaktion auf eine Person haben, kann das oft eine Projektion sein." Sprich: Auch wenn wir das Gefühl haben, dass unsere Reaktion auf diesen Menschen zumindest teilweise gerechtfertigt ist, weil er sich einfach anstrengend oder nervig verhält, sind unsere Gefühle dazu vermutlich deutlich größer, als rational in dieser Situation angebracht wäre. Die Expertin sagt weiter: "Hier projizieren wir Schattenelemente unserer selbst auf die Situation." Solche Aspekte unserer Persönlichkeit sind meist gänzlich unbewusst, es handelt sich dabei oft um ungelöste Konflikte, innere Verletzungen oder Eigenschaften, die wir lieber verdrängen möchten. Diese Verhaltensweise beruht aber in der Regel nicht auf böser Absicht. Vielmehr ist dieses Spiegeln ein Schutzmechanismus, mit dem wir uns unbewusst vor der Auseinandersetzung mit unliebsamen Persönlichkeitsanteilen bewahren möchten.
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Die Tiefen der Nervensägenforschung
Früher war es irgendwie leichter, jemanden zu treffen, den man mag und Freundschaften zu schließen. Doch je älter man wird, desto genervter ist man von anderen. Vermutlich liegt es daran, dass man nicht mehr bereit ist, sich allzu sehr für andere zu verändern und von Freundschaften heute mehr erwartet als oberflächliches Abhängen und Feiern gehen. Wir verstellen uns nicht mehr, um anderen zu gefallen, weil wir gelernt haben, dass wir toll sind, genau so wie wir sind. Wir müssen auch nicht mehr um jeden Preis irgendwo dazu gehören, sondern kommen sehr gut alleine klar. Wir haben auch keine Lust mehr, unsere wenige freie Zeit mit jemandem zu verbringen, der uns nicht gut tut.
Die eigene Wahrnehmung: Nerven oder Genervtwerden?
Manchmal hat man das Gefühl, andere zu nerven. Dies kann auf mangelndes Selbstvertrauen zurückzuführen sein. Es ist wichtig, ein gesundes Gespür dafür zu entwickeln, ob dies zutrifft. Oft ist diese Frage nach dem Nerven nerviger als was auch immer davor war. Wahrscheinlich interpretierst du in ihre Körpersprache etwas hinein.
Soziale Allergien: Wenn Kleinigkeiten zur Belastung werden
Genervtsein sei eine milde Form von Ärger, meinen einige Psychologen. "Soziale Allergene" sind nach Definition des Psychologen Michael Cunningham Verhaltensweisen anderer Menschen, die einen anfangs vielleicht nur leicht stören, mit der Zeit aber ganz gewaltig. Je öfter man aber mit dem Verhalten konfrontiert wird, desto sensibler wird man, bis es auf Dauer zu heftigen Reaktionen kommt. Cunningham ist einer der wenigen, der sich wissenschaftlich mit dem Thema "Wann nerve ich?" auseinandergesetzt hat. Um herauszufinden, wer am ehesten soziale Allergien auslöst, hat er in einer Studie 150 Menschen gefragt, welche Person sie durch Kleinigkeiten irremacht. Jeder Studienteilnehmer war in der Lage, auf Anhieb jemanden zu benennen. Das heißt, jeder reagiert mal sozial allergisch.