Kampf oder Flucht: Wie das Gehirn in Stresssituationen reagiert

Wir alle kennen diese Momente, in denen unser Herz rast, wir im letzten Augenblick einem Auto ausweichen oder angespannt auf einen bellenden Hund reagieren. Diese Reaktionen zeigen, dass unser Nervensystem in Alarmbereitschaft ist. In diesem Artikel erfahren Sie, wie unser Nervensystem aufgebaut ist, was es mit der Stressreaktion auf sich hat und wie sich Stress im Laufe der Zeit verändert hat. Außerdem zeigen wir Ihnen, wie Sie Ihr Nervensystem beruhigen können, wenn es sich ohne akute Bedrohung bemerkbar macht.

Das Nervensystem verstehen

Um zu verstehen, wie das Gehirn in Stresssituationen reagiert, ist es wichtig, das Nervensystem zu betrachten.

Aufbau des Nervensystems

Das Nervensystem lässt sich mit einem riesigen Kommunikationsnetzwerk vergleichen, ähnlich dem Internet, aber in unserem Körper. Es nimmt über Sinnesorgane und Nerven Informationen aus der Umwelt auf und leitet sie an Gehirn oder Rückenmark weiter. Dort werden passende Reaktionen gesteuert und über das periphere Nervensystem an den Körper zurückgegeben. Die Nerven des somatischen Nervensystems sind hauptsächlich für die Bewegungsabläufe unseres Körpers zuständig.

Das vegetative Nervensystem

Wenn wir davon sprechen, dass unser Nervensystem in Aufruhr ist und wir es regulieren wollen, geht es vor allem um das vegetative bzw. autonome Nervensystem. Dieses können wir zum Großteil nicht direkt steuern, es funktioniert ohne unser willentliches Zutun. Das vegetative Nervensystem ist ständig aktiv und reguliert alle unsere Körperfunktionen, die immer ablaufen müssen, egal ob wir gerade daran denken oder nicht.

Der Sympathikus ist wie unser innerer Turbo-Modus, der unseren Körper aktiviert und uns auf körperliche oder geistige Leistungen vorbereitet (oft als „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“ bezeichnet). Der Parasympathikus hingegen ist unser innerer Entspannungsmodus, der für Erholung sorgt, die Verdauung aktiviert und verschiedene Stoffwechselvorgänge ankurbelt.

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Der Vagusnerv: Unser Entspannungsnerv

Ein wichtiger Teil des parasympathischen Nervensystems ist der Vagusnerv („Nervus vagus“), der längste Hirnnerv unseres Körpers. Er ist wie eine „Bremse“ für unser vegetatives Nervensystem. Wenn er aktiviert wird, sendet er Signale an Herz, Lunge und andere Organe, um unseren Körper zu beruhigen. Wir können den Vagusnerv durch gezielte Übungen wie Atemtechniken, Kältereize oder Summen bewusst aktivieren.

Die Polyvagal-Theorie

Die Polyvagal-Theorie (Porges, 2009) hat unser Verständnis des vegetativen Nervensystems stark erweitert. Sie beschreibt drei Bereiche:

  • Soziales Engagement (ventraler Vagus): Sicherheit, Verbindung und Ruhe.
  • Kampf-oder-Flucht (Sympathikus): Alarmbereitschaft und Mobilisierung bei Gefahr.
  • Erstarrung/Kollaps (dorsaler Vagus): Totaler Shutdown als Schutz.

Unser Nervensystem entscheidet je nach wahrgenommener Sicherheit oder Bedrohung, in welchem Bereich wir uns befinden. Interessant ist, dass 80 % der Vagusnerv-Fasern afferent sind, also Informationen vom Körper zum Gehirn senden statt andersherum.

Die Stressreaktion: Kampf oder Flucht

Wie die Kampf-oder-Flucht-Reaktion funktioniert

Stellen wir uns vor, wir gehen nachts allein durch eine dunkle Gasse und hören plötzlich Schritte hinter uns. In Gefahrensituationen und bei Stress wird vom Sympathikus eine Kaskade neurologischer und hormoneller Reaktionen ausgelöst, die uns helfen sollen, die Situation zu bewältigen: Adrenalin sorgt dafür, dass unsere Muskeln besser durchblutet werden, Cortisol hält uns auf Trab und Endorphine helfen uns, nicht in Panik zu verfallen. Unser Herzschlag beschleunigt sich, unser Blutdruck steigt und wir atmen schneller. Die Muskeln sind angespannt, die Schmerzempfindlichkeit nimmt ab und unsere Sinne sind geschärft.

Die Rolle des Gehirns

Die Stressreaktion entsteht im Gehirn und wird durch die innere Bewertung äußerer Reize ausgelöst. Verschiedene Regionen unseres Gehirns arbeiten zusammen, um uns für Kampf oder Flucht fit zu machen. Die Amygdala, ein kleiner, mandelförmiger Komplex von Nervenzellen im unteren Bereich des Gehirninneren, ist eine sehr wichtige Hirnregion für unsere Erleben von Stress und Angst. Sie steuert zusammen mit anderen Hirnregionen unsere psychischen und körperlichen Reaktionen auf stress- und angstauslösende Situationen.

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Um die Kampf- und Fluchtreaktion auszulösen, nutzt die Amygdala zwei Wege:

  • Der schnellere Weg: Über das sympathische Nervensystem, das den Körper auf Aktivität einstimmt.
  • Der "langsame" Weg: Über den Hypothalamus, der eine Kaskade von Hormonen in Gang setzt, darunter das Corticotropin-releasing-Hormon (CRH), das die Hirnanhangdrüse (Hypophyse) zur Freisetzung von Adrenocorticotropin (ACTH) anregt. ACTH gelangt mit dem Blut zur Rinde der Nebenniere und veranlasst diese, das Stresshormon Kortisol auszuschütten.

Die Auswirkungen der Hormone

Die Hormone und das sympathische Nervensystem sorgen dafür, dass unser Körper mehr Sauerstoff und Energie bekommt, um schnell zu handeln. Dies führt zu folgenden Reaktionen:

  • Der Atem beschleunigt sich.
  • Puls und Blutdruck steigen an.
  • Die Leber produziert mehr Blutzucker.
  • Die Milz schwemmt mehr rote Blutkörperchen aus, die den Sauerstoff zu den Muskeln transportieren.
  • Die Adern in den Muskeln weiten sich. Dadurch werden die Muskeln besser durchblutet.
  • Der Muskeltonus steigt. Das führt oft zu Verspannungen. Auch Zittern, Fußwippen und Zähneknirschen hängt damit zusammen.
  • Das Blut gerinnt schneller. Damit schützt sich der Körper vor Blutverlust.
  • Die Zellen produzieren Botenstoffe, die für die Immunabwehr wichtig sind.
  • Verdauung und Sexualfunktionen gehen zurück. Das spart Energie.

Stress und Gedächtnis

Die Amygdala veranlasst auch den Hippocampus, eine bedeutende Gedächtnisregion im Gehirn, sich die stressauslösende Situation gut zu merken. Auf diese Weise lernen wir, uns vor dem Stressor in Acht zu nehmen.

Die eingebaute Stressbremse

Zum Glück regen wir uns meistens nach Stress auch wieder ab. Dabei hilft eine eingebaute Stressbremse. Ist nämlich das Stresshormon Kortisol in ausreichendem Maß im Blut vorhanden, merken das bestimmte Rezeptoren im Drüsensystem und im Gehirn, die Glucocorticoidrezeptoren. Daraufhin stoppt die Nebennierenrinde die Produktion von weiterem Kortisol. Das parasympathische Nervensystem - der Teil des Nervensystems, der unseren Körper zur Ruhe kommen lässt - wird aktiv. Wir werden wieder ruhiger und entspannen uns.

Wenn die Hormone aus dem Ruder laufen

Anders sieht es aus, wenn das Zusammenspiel der Hormone nicht optimal funktioniert, zum Beispiel, wenn nicht genug Rezeptoren vorhanden sind, die merken könnten, dass genug Kortisol vorhanden ist. Oder wenn die vorhandenen Rezeptoren nicht richtig arbeiten. Dann wird die Achse aus Hypothalamus, Hirnanhangdrüse und Nebenniere zu aktiv. Sie produziert zu viel Kortisol. So etwas kann in schlimmen Fällen zu Denkstörungen, zu Gewebeschwund im Hirn und zu Störungen des Immunsystems führen. Auch die Entstehung von Depressionen wird auf diesen Einfluss zurückgeführt, ebenso Stoffwechselstörungen, die Diabetes fördern.

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Frühe traumatische Erfahrungen

Intensiver Stress in der frühen Kindheit kann die Arbeitsweise von Genen, die an der Stressreaktion beteiligt sind, so beeinflussen, dass Stresshormone schneller und intensiver ausgeschüttet werden. Dieser Effekt bleibt lebenslang bestehen.

Chronischer Stress: Wenn der Turbo-Modus zur Dauerbelastung wird

Die veränderten Bedrohungen unserer Zeit

In unserer heutigen modernen Zeit haben sich die Bedrohungen etwas geändert. War es bei unseren Vorfahren noch der Säbelzahntiger, vor dem es wegzurennen oder gegen den es anzukämpfen galt, so sind die Stressfaktoren heute ganz andere. Dauernde Anspannung durch ständige Erreichbarkeit, Überstunden, Großstadtlärm, Mental Load und tausend To-dos lässt sich nicht so schnell abschütteln. Das führt dazu, dass wir manchmal gar nicht so richtig in die Parasympathikus-Reaktion kommen, weil der Sympathikus einfach dauerhaft aktiviert bleibt - wir also dauerhaft „unter Strom” stehen. Und selbst wenn wir es an einem Tag schaffen, den Stresszyklus zu beenden, dann tritt die gleiche Belastung am nächsten Tag oft wieder auf.

Die Folgen von chronischem Stress

Aktuelle Forschungen zeigen, dass chronischer Stress zu einer dauerhaften sympathischen Dominanz führen kann (Goldstein, 2023). Dies kann zu einer Reihe von gesundheitlichen Problemen führen, darunter:

  • Herz-Kreislauf-Probleme: Erhöhter Blutdruck, Herzrasen.
  • Schlafstörungen: Schwierigkeiten beim Ein- und Durchschlafen.
  • Verdauungsstörungen: Gereizter Magen, Durchfall.
  • Chronische Verspannungen: Kopfschmerzen, Rückenschmerzen.
  • Reizbarkeit: Gereiztheit, Stimmungsschwankungen.
  • Konzentrationsprobleme: Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und Aufgaben zu erledigen.
  • Burnout: Erschöpfung, Sinnverlust.
  • Erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen: Depressionen, Angststörungen.

Wie lange dauert die Beruhigung des Nervensystems?

  • Akute Stressreaktionen: Bei normalen, kurzzeitigen Stressreaktionen kann sich das vegetative Nervensystem innerhalb von 20 - 30 Minuten wieder beruhigen.
  • Chronischer Stress: Bei längerer Belastung kann es Wochen bis Monate dauern, bis sich das dysregulierte Nervensystem wieder stabilisiert.
  • Traumabedingte Dysregulation: Die Regulation ist ein individueller Prozess, der unterschiedlich lange dauern kann und bei dem sich professionelle Unterstützung empfiehlt.

Strategien zur Beruhigung des Nervensystems

Sofortmaßnahmen in akuten Stressmomenten

  • Konzentriere dich auf eine langsame Ausatmung: Die 4-7-8-Atemtechnik kann helfen: 4 Sekunden einatmen, 7 halten, 8 ausatmen. Diese Atmung aktiviert direkt den Parasympathikus (also den „Entspannungsnerv").
  • Die 5-4-3-2-1-Technik: Diese wissenschaftlich fundierte Methode kann dir helfen, ins Hier und Jetzt zurückzukehren und Ruhe zu finden. Nimm bewusst wahr:
    • 5 Dinge, die du sehen kannst.
    • 4 Dinge, die du berühren kannst.
    • 3 Dinge, die du hören kannst.
    • 2 Dinge, die du riechen kannst.
    • 1 Ding, das du schmecken kannst.

Langfristige Strategien zur Regulierung des Nervensystems

  • Körperliche Aktivität: Sport hilft, das ausgeschüttete Adrenalin und Cortisol abzubauen und signalisiert dem Gehirn, dass die Gefahr vorüber ist - so kann sich das Nervensystem wieder sicher und ausgeglichener anfühlen. Körperliche Aktivität wird auch als besonders hilfreich erlebt, um den Stressreaktionszyklus zu beenden und so langfristig auch einem Burnout - einer der häufigsten Folgen von chronischem Stress - vorzubeugen.
  • Vagusnerv-Stimulation: Da der Vagusnerv so zentral für deine Entspannung ist, gibt es spezielle Übungen, um ihn zu stimulieren und entspannter zu werden. Die Zwerchfellatmung (auch Diaphragmatic Breathing genannt) gilt als Goldstandard für Stressreduktion. Studien zeigen, dass Zwerchfellatmung den Cortisol-Spiegel reduzieren kann und die Herzratenvariabilität verbessert.
  • Stress aus dem Körper schütteln: Ähnlich wie die Gazelle, die sich nach der Flucht vor dem Löwen schüttelt, können auch wir Menschen unseren Stress loswerden, wenn wir für ein paar Minuten den Stress aus uns herausschütteln.
  • Meditation und Achtsamkeit: Regelmäßige Meditation und Achtsamkeitsübungen können den Geist und das Nervensystem beruhigen und dir bei regelmäßiger, täglicher Übung helfen, deine Stressresilienz zu stärken. Bereits wenige Minuten am Tag reichen aus.
  • Yoga: Yoga gegen Stress und Yoga gegen Angst verbinden körperorientierte Ansätze mit Atemarbeit und können besonders effektiv sein, um das Nervensystem zu beruhigen.
  • Schlafhygiene: Wenn wir ohnehin in einer stressreichen Lebensphase stecken, belastet es unseren Körper und unser vegetatives Nervensystem noch mehr, wenn wir nicht ausreichend Schlaf erhalten. Denn guter Schlaf ist essenziell, um das Nervensystem beruhigen zu können. Sorge deswegen dafür, dass du genug Ruhezeit in der Nacht hast und nutze die 10 Regeln der Schlafhygiene, um deinen Schlaf zu verbessern.
  • Emotionen zulassen: Manchmal neigen wir dazu, uns nicht zu erlauben, unsere Emotionen herauszulassen. Aber ganz ehrlich - manchmal kann es richtig guttun, einfach mal die angestauten Emotionen herauszulassen. Mach dir traurige Musik an, such dir einen Ort, an dem du ungestört bist, und erlaube dir, einfach mal für ein paar Minuten zu weinen.
  • Soziale Interaktion: Lockere, freundliche und liebevolle soziale Interaktionen sind ein gutes äußeres Zeichen, dass die Welt ein sicherer Ort ist. Mach vielleicht jemandem ein unerwartetes Kompliment. So kannst du deinem Gehirn ganz einfach vermitteln, dass die Welt ein sicherer Ort ist und dass nicht alle Menschen ätzend sind.

Weitere Tipps

  • Mache dir bewusst: Die Regulation des vegetativen Nervensystems ist ein Prozess, kein Ereignis. Sei geduldig mit dir selbst und erwarte nicht, dass alles sofort perfekt funktioniert.
  • Professionelle Hilfe: Besonders bei einem dysregulierten Nervensystem oder nach einem Trauma braucht es Zeit und möglicherweise professionelle Unterstützung.

Fazit

Unser Körper ist darauf eingerichtet, uns so gut wie möglich vor Gefahren zu schützen. Das Gehirn spielt dabei eine maßgebliche Rolle. Die Stressreaktion, auch bekannt als Kampf-oder-Flucht-Reaktion, ist eine automatische physiologische Reaktion, die ausgelöst wird, wenn wir eine Bedrohung oder Gefahr wahrnehmen. In der heutigen Zeit, in der wir oft chronischem Stress ausgesetzt sind, ist es wichtig, Strategien zu entwickeln, um unser Nervensystem zu beruhigen und unsere Stressresilienz zu stärken. Durch gezielte Übungen, eine gesunde Lebensweise und die Akzeptanz unserer Emotionen können wir lernen, mit Stress umzugehen und unsere Gesundheit zu erhalten.

FAQ

Was sind die besten Übungen, um das Nervensystem zu regulieren?

Eine Kombination ist am wirksamsten. Körperliche Aktivität (Gehen, Tanzen) baut Stresshormone ab, während Vagusnerv-Übungen (Singen, Summen) und achtsames Atmen das System direkt in den Ruhezustand versetzen.

Wie kann ich meinen Vagusnerv selbst stimulieren?

Effektive Selbststimulation gelingt durch: Singen, Summen oder die Zwerchfellatmung.

Kann ein dysreguliertes Nervensystem wieder reguliert werden?

Ja. Durch gezielte Übungen, die den Parasympathikus und den Vagusnerv stärken, sowie durch die Reduzierung von chronischen Stressoren, kann das Nervensystem wieder lernen, flexibel zwischen Anspannung und Entspannung zu wechseln.

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