Die Neuropädiatrie, auch Kinderneurologie genannt, ist ein spezialisiertes Gebiet der Medizin, das sich mit der Diagnostik, Behandlung und Betreuung von neurologischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen befasst. Diese Erkrankungen können das Gehirn, das Rückenmark, die Nerven und die Muskeln betreffen. Da sich das Nervensystem im Kindes- und Jugendalter noch in der Entwicklung befindet, erfordert die Behandlung dieser Erkrankungen ein besonderes Fachwissen und eine altersgerechte Herangehensweise.
Was ist ein Neuropädiater?
Ein Neuropädiater ist ein Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, der sich zusätzlich auf die Neurologie des Kindes- und Jugendalters spezialisiert hat. Nach dem Medizinstudium und der Facharztausbildung in der Kinder- und Jugendmedizin absolviert ein Neuropädiater eine mindestens dreijährige spezialisierte Weiterbildung. In dieser Zeit erwirbt er fundierte Kenntnisse über die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, macht sich mit den Untersuchungsmethoden und Behandlungsverfahren des Nervensystems vertraut und sammelt spezialisierte Erfahrungen in der Erstellung von Behandlungsplänen.
Aufgabenbereiche der Neuropädiatrie
Die Neuropädiatrie umfasst ein breites Spektrum an Aufgaben, das von der Beurteilung der Entwicklung bis zur Behandlung sehr spezieller und seltener Erkrankungen reicht. Drei hervorgehobene Gebiete sind die Entwicklungsneurologie, der Bereich der Bewegungsstörungen und die Behandlung von Anfallserkrankungen (Epilepsien).
Entwicklungsneurologie
Die Entwicklungsneurologie hat die Aufgabe, die körperliche und geistige Entwicklung von gesunden und kranken Kindern einzuschätzen und den voraussichtlichen weiteren Verlauf zu beurteilen. Ein individuell erstelltes Behandlungskonzept erschließt umfassende Fördermöglichkeiten, zum Beispiel durch Krankengymnastik, Sprachförderung, Ergotherapie und Pädagogik.
Bewegungsstörungen
Neuropädiater entwickeln nach der Ursachenklärung in enger Zusammenarbeit insbesondere mit Physiotherapeuten individuelle Behandlungskonzepte, die auch Medikamente und gelegentlich Operationen einschließen können, um schmerzfreie Beweglichkeit zu erreichen und damit die Lebensqualität zu verbessern. Durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Kollegen der Kinderorthopädie und Kinderneurochirurgie werden individuelle Therapien für Kinder mit Bewegungsstörungen erarbeitet und umgesetzt, welche medikamentöse und interventionelle Therapien einschließen.
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Epileptologie
Gemessen an den Patientenzahlen ist die Untersuchung und Behandlung von Krampfanfällen, die Epileptologie, ein ganz besonderer Schwerpunktbereich der Neuropädiatrie. Die harmlosen Fieberkrämpfe gehören zu den häufigsten Notfällen in der Kinderheilkunde. Die Beurteilung akuter Krampfanfälle mit Ursachenklärung und Einschätzung des weiteren Verlaufes hinsichtlich der Entwicklung einer chronischen Anfallskrankheit (Epilepsie) sowie die Behandlung gehören in die Verantwortung der Neuropädiatrie. Aus der Palette wirksamer Medikamente muss das für den einzelne Kind passende ausgewählt und die Behandlung fortlaufend überwacht werden. Manchmal muss der Nutzen einer Operation erwogen werden.
Häufige Krankheitsbilder in der Neuropädiatrie
Die Kinderneurologie umfasst ein sehr großes Spektrum von Störungen und Erkrankungen, die das Gehirn, das Rückenmark sowie die Nerven und Muskeln betreffen. Das Altersspektrum der Patienten reicht vom kleinen Frühgeborenen bis zum Jugendlichen (bis 18. Geburtstag). Zu den häufigsten Krankheitsbildern gehören:
- Entwicklungsstörungen: Abweichungen der Entwicklung im Vergleich zu altersgleichen gesunden Kindern. Die Störungen können die motorischen und/oder sprachlichen Fähigkeiten umfassen, gerade bei Schulkindern können auch das kognitive Leistungsvermögen bzw. die Konzentrationsfähigkeit betroffen sein.
- Epilepsien, epileptische Anfälle, Fieberkrämpfe: Der epileptische Anfall ist das charakteristische Symptom (Leitsymptom) der Erkrankung „Epilepsie“. Es entsteht eine vorübergehende plötzliche Funktionsstörung des Gehirns durch unnormale Entladungen von Gruppen von Nervenzellen der Großhirnrinde. Die häufigste Form von Krampfanfällen im Kindesalter sind Fieberkrämpfe.
- Kopfschmerzen: Jedes dritte Kind leidet häufiger an Kopfschmerzen. Es gibt verschiedene Formen von Kopfschmerzen, die unterschiedliche Behandlungsansätze haben. Daher ist es notwendig, die Art bzw. die Form der Kopfschmerzen einzuordnen.
- Muskel- und Nervenerkrankungen: Als neuromuskuläre Erkrankungen bezeichnet man Erkrankungen des peripheren motorischen Systems. Hierbei können bestimme Nervenzellen (Vorderhornzellen) im Rückenmark, die peripheren Nerven, die Synapsen (Kontaktstelle zwischen Muskel und Nerv) oder die Muskelzellen selbst betroffen sein.
- Zerebralparesen („Spastik“): Zerebralparesen sind körperliche Beeinträchtigungen, die durch verschiedene frühe Hirnschädigungen verursacht werden. Sie führen zu Bewegungsstörungen, die meist mit einem atypisch hohen Muskeltonus (Spastik) einhergehen.
- Entzündungen von Gehirn (Meningitis/Enzephalitis) und Nerven: Entzündliche Erkrankungen des Gehirns können durch verschiedene Erreger ausgelöst werden und dann zu dieser akuten und oft schweren Erkrankung führen. Sie betreffen die Hirnhaut (Meningitis) oder das Gehirn (Enzephalitis).
- Multiple Sklerose und andere Erkrankungen der weißen Hirnsubstanz: Bei der multiplen Sklerose handelt es sich um eine meist in Schüben verlaufende entzündliche Erkrankung des Gehirns und Rückenmarkes.
- Kindlicher Schlaganfall: Ein Schlaganfall im Kindes- oder sogar Neugeborenenalter ist gar kein so seltenes Ereignis. Voraussetzungen für eine erfolgreiche Behandlung ist ein frühzeitiges Erkennen der Symptome, die insbesondere bei kleinen Kindern unspezifisch und diskret sein können.
- Komplexe Hirnfehlbildungen und Hydrocephalus: Mit Hydrocephalus (früher „Wasserkopf“) meint man eine Vergrößerung der (meist inneren) Hirnwasserräume mit einer Vermehrung des Hirnwassers.
- Schädel-Hirn-Trauma: Über beide Standorte der KUNO-Kinderkliniken werden Kinder und Jugendliche mit Schädel-Hirn-Trauma von einem Netzwerk aus Ärzten verschiedener Disziplinen versorgt.
- Spina bifida („offener Rücken“): Kinder, die einen „offenen Rücken“ haben, werden mittlerweile fast alle bereits während der Schwangerschaft durch Ultraschall entdeckt.
- Stoffwechselerkrankungen: Unter Stoffwechselerkrankung versteht man angeborene (oder erworbene) Störungen des Stoffwechsels, die sich an ganz unterschiedlichen Körperorganen auswirken können und ein ganz buntes Bild von Beschwerden hervorrufen können.
- Tumorerkrankungen des Nervensystems
- Neurofibromatose: Als Neurofibromatose Typ 1 (NF1, früher M. Recklinghausen) bezeichnet man eine vererbte Erkrankung mit sehr variablen Erscheinungsbild.
Diagnostische Verfahren in der Neuropädiatrie
Bei Krankheiten des Nervensystems sind häufig umfangreiche Untersuchungen notwendig, um die genaue Ursache diagnostizieren zu können. Die medizinische Diagnostik umfasst das gesamte Spektrum moderner Untersuchungsmethoden einer Universitätskinderklinik, wie z.B.:
- Klinische Untersuchung: Eine ausführliche körperliche und neurologische Untersuchung ist die Basis jeder Diagnostik.
- Laboruntersuchungen: Blut-, Urin- oder Nervenwasseruntersuchungen (Liquor) können Hinweise auf Entzündungen, Stoffwechselstörungen oder genetische Ursachen liefern.
- Bildgebende Verfahren:
- Magnetresonanztomographie (MRT): Zur Darstellung des zentralen Nervensystems (Gehirn und Rückenmark) wird in jeder Altersgruppe als wichtige Schnittbildtechnik die Magnetresonanztomographie (MRT, „Kernspin“) durchgeführt.
- Sonographie: In unserem Ultraschallzentrum wird diese dynamische und schonende Untersuchungsmethode mit modernsten und leistungsstarken Geräten und fachlicher Kompetenz (DEGUM III) durchgeführt. Die Sonographie dient in erster Linie im Säuglingsalter der Darstellung des Gehirns durch die Fontanelle sowie der Untersuchung von Rückenmark und Muskulatur.
- Neurophysiologische Untersuchungen:
- Elektroenzephalographie (EEG): EEG (Elektroenzephalographie, Ableitung der Hirnströme). Es ist die Methode der Wahl, um Krampfanfälle zu untersuchen und sicher eine Epilepsie nachzuweisen und zu klassifizieren.
- Evozierte Potentiale: Bei Messung der evozierten Potentiale wird die Fortleitung und zentrale Verarbeitung von unterschiedlichen sensorischen Reizen (visuell, akustisch, sensibel) untersucht.
- Neurographie: Bei der Neurographie (Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit) können unterschiedliche Nerven an Armen und Beinen auf ihre Leitungsfähigkeit und mögliche Erkrankungen geprüft werden.
- Amplitudenintegriertes EEG (CFM): Cerebral function monitoring ist eine Überwachung der Hirnströme bei Neugeborenen und Säuglingen.
- Entwicklungsdiagnostik und testpsychologische Untersuchungen: In diesem wichtigen Teilbereich werden Kinder durch ausgebildete Psychologen/innen mit umfangreichen und objektivierbaren neurokognitiven Testungen untersucht. So kann ein genaues Leistungsprofil der Kinder und Jugendlichen erstellt werden.
- Genetische Diagnostik: Spezielle Diagnostik zu Fragestellungen, die mit genetischen Untersuchungen (Erbinformation) beantwortet werden können, findet in Kooperation mit spezialisierten Ärztinnen der Humangenetik statt.
- Muskelbiopsie: Entnahme und Untersuchung einer Muskelprobe zur Diagnostik von Muskelerkrankungen.
Therapieansätze in der Neuropädiatrie
Oberstes Therapieziel ist die vollständige Heilung des Patienten. Wenn diese nicht zu erreichen ist, weil die Schädigung des Nervensystems nicht vollständig zur Abheilung gebracht werden kann, wird versucht, die Beeinträchtigungen soweit zu vermindern, dass eine aktive Teilhabe am öffentlichen Leben, bei Kindern und Jugendlichen z. B. der Schulbesuch, möglich wird. Die Therapieansätze sind vielfältig und richten sich nach der Art und Schwere der Erkrankung. Sie können umfassen:
- Medikamentöse Therapie: Zur Behandlung von Epilepsien, Entzündungen, Stoffwechselstörungen und anderen neurologischen Erkrankungen.
- Physiotherapie: Zur Verbesserung der motorischen Fähigkeiten und zur Vorbeugung vonFolgeschäden bei Bewegungsstörungen.
- Ergotherapie: Zur Förderung derHandlungsfähigkeit im Alltag und zur Verbesserung dersensorischenIntegration.
- Logopädie: Zur Behandlung vonSprach-und Sprechstörungen.
- Psychologische Betreuung: Zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen und ihren Familien bei der Krankheitsverarbeitung.
- Chirurgische Eingriffe: Bei bestimmten Erkrankungen, wie z.B. Hydrocephalus oderTumoren, kann eine Operation erforderlich sein.
- Spezielle Therapien:
- Ketogene Diät: Eine spezielleForm der Ernährungstherapie, die bei bestimmten Formen derEpilepsie eingesetzt werden kann.
- Botulinumtoxin-Behandlung: ZurReduktion von Spastik bei Zerebralparesen.
- Baclofen-Pumpentherapie: ZurReduktion von Spastik bei schweren Zerebralparesen.
- Vagus-Nerv-Stimulator-Therapie: ZurBehandlung von therapierefraktären Epilepsien.
- Enzymersatztherapie: Bei bestimmtenStoffwechselerkrankungen.
- Behandlung mit Nusinersen intrathekal (SPINRAZA): bei spinaler Muskelatrophie.
Zusammenarbeit mit anderen Fachbereichen
Die Neuropädiatrie arbeitet eng mit anderen Fachbereichen zusammen, um eine umfassende und koordinierte Versorgung der Patienten zu gewährleisten. Zu den wichtigsten Kooperationspartnern gehören:
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- Kinder- und Jugendärzte: Für dieFrüherkennung und dieGrundversorgung.
- Sozialpädiatrische Zentren (SPZ): Für dieinterdisziplinäre Betreuung von Kindern mitEntwicklungsstörungen und komplexenErkrankungen.
- Kinder- und Jugendpsychiater: Für dieBehandlung von psychischen Begleiterkrankungen.
- Kinderorthopäden: Für die BehandlungvonDeformitäten und Fehlstellungen beiBewegungsstörungen.
- Kinderneurochirurgen: Für die Durchführungvonoperationen am Nervensystem.
- Humangenetiker: Für die genetischeDiagnostik und Beratung.
- Physiotherapeuten, Ergotherapeuten,Logopäden: Für die Durchführung von spezifischenTherapien.
- Bayerisches Kinderschmerzzentrum: Bietet eine eigene Kopfschmerzsprechstunde an.
Bedeutung der Früherkennung und interdisziplinären Betreuung
Eine frühzeitige Diagnose und eine umfassende, interdisziplinäre Betreuung sind entscheidend für den Behandlungserfolg bei neurologischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Durch die enge Zusammenarbeit von Ärzten, Therapeuten undPsychologen kann eine individuelle und altersgerechte Behandlung sichergestellt werden, die denBedürfnissen des Patienten und seiner Familie gerecht wird.
An wen kann man sich wenden?
Neuropädiater und Neuropädiaterinnen sind oft an Kliniken tätig, in Sozialpädiatrischen Zentren, in Reha-Einrichtungen oder Praxen mit neuropädiatrischem Schwerpunkt. Die betreuende kinder- und jugendärztliche Praxis wird bei Bedarf Spezialist/-innen nennen können. Eltern, die sich Sorgen um die neurologische Entwicklung ihres Kindes machen, sollten sich an ihren Kinderarzt wenden. Dieser kann eine Überweisung an einen Neuropädiater ausstellen, um eine umfassende Diagnostik undBehandlung zu ermöglichen.
Seltene neurologische Erkrankungen
Viele neurologische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter sind genetisch bedingt, also angeboren. Oftmals sind es nur winzige Veränderungen (Mutationen) im genetischen Bauplan, die dafür sorgen, dass unverzichtbare Bestandteile des Organismus wie beispielsweise Komponenten von Stoffwechselwegen oder strukturelle Bestandteile des Nervensystems nicht hergestellt werden können. In Europa gilt eine Erkrankung als selten, wenn sie weniger als einen unter 2.000 Menschen betrifft. Jedoch gilt „selten“ dabei nur in Bezug auf die einzelne Erkrankung, denn von den ca. 30.000 bislang bekannten Krankheiten wird nahezu ein Drittel als selten eingestuft. Insgesamt betrachtet sind seltene Erkrankungen also häufig. Und unbehandelt haben viele dieser Erkrankungen gravierende Folgen für den betroffenen Patient*innen.
Viele seltene Erkrankungen haben unspezifische Symptome. Oftmals kann man deshalb nicht von einem einzelnen Symptom oder einer Gruppe von Symptomen auf eine konkrete Krankheit schließen. Manche dieser Krankheiten sind so selten, dass selbst erfahrene Ärzt*innen sie nie zu Gesicht bekommen. Und teilweise kann es auch vorkommen, dass die Krankheit und ihre Ursachen noch gar nicht bekannt sind.
Für die Patientinnen und ihre Angehörigen kann es deshalb ein langer und belastender Weg sein, bis sie Spezialistinnen finden, die sich mit ihrer Erkrankung auskennen. Aber ohne eine präzise Diagnose ist keine erfolgreiche Therapie möglich. Und gerade bei neurologischen Erkrankungen im Kindesalter ist es wichtig, so früh wie möglich mit einer Therapie zu beginnen, da Gehirn und Nervensystem noch nicht vollständig entwickelt sind.
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Es gibt spezialisierte Zentren für seltene kinderneurologische Erkrankungen, die eine umfassende Diagnostik und Behandlung anbieten.
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