Die Neurologie des Klavierspiels: Auswirkungen auf das Gehirn und therapeutische Anwendungen

Musik macht schlau, so heisst es oft. Aber was passiert wirklich in unserem Gehirn, wenn wir musizieren, insbesondere Klavier spielen? Dieser Artikel untersucht die neurologischen Aspekte des Klavierspiels, von den Auswirkungen auf die Gehirnstruktur und -funktion bis hin zu den therapeutischen Anwendungen bei neurologischen Erkrankungen.

Die Auswirkungen des Klavierspiels auf das Gehirn

Das zentrale Nervensystem im Gehirn passt sich den Umständen an und kann sich ein Leben lang weiterentwickeln. Klavierspielen ist ein komplexer Prozess, der verschiedene Bereiche des Gehirns aktiviert. Studien zeigen, dass Musiker oft ein besseres Hörvermögen, Gedächtnis und Reaktionsvermögen haben.

Eckart Altenmüller, Professor für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover, hat in seiner Forschung beobachtet, dass intelligente Menschen oft musikalisch sind. Mit einem Kernspintomographen kann er quasi in das Gehirn hineinschauen. Er erklärt, dass das Gehirn bis zum Alter von sieben Jahren ein Gerüst bildet, in das man lebenslang seine Fertigkeiten einfüllen kann, wenn man sehr schnelle Finger möchte. Neuroplastizität ermöglicht es uns, neue Dinge zu lernen, indem wir bestimmte Gehirnareale bewusst trainieren, wenn wir ein Instrument spielen.

Neuroplastizität und Musik

Neuroplastizität ist die Fähigkeit des Gehirns, sich im Laufe des Lebens zu verändern und anzupassen. Wenn wir Klavier spielen, trainieren wir bewusst bestimmte Gehirnareale, was zu einer besseren Signalübertragung an den Synapsen führt. Sogar das regelmäßige bewusste Hören von Musik kann diese Neuroplastizität hervorrufen.

Eine Studie an Altenmüllers Institut zeigte, dass 65-Jährige, die ein Jahr lang Unterricht in "Musik erleben und verstehen" erhielten, einen geringeren Verlust der Gehirnsubstanz aufwiesen als gleichaltrige Menschen ohne passive Musikbeschäftigung. Auch noch im Alter kann man mit der Musik gewissermaßen die Degeneration aufhalten und Neuroplastizität erzeugen.

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Der "Mozart-Effekt" und Musikpräferenzen

Musik, die wir gern hören, regt unser Gehirn an und erleichtert uns das Lösen schwieriger Aufgaben. Eine Studie aus dem Jahr 1993 suggerierte, dass das Hören einer Mozart-Sonate die Leistung bei Intelligenztests verbessern könnte. Dieser angebliche "Mozart-Effekt" wurde jedoch kritisiert. Altenmüller erklärt, dass der Effekt nur 20 Minuten anhält und ein reiner Präferenzeffekt ist. Man könnte vor einem IQ-Test auch Stephen-King-Geschichten hören, Shakespeare-Sonette oder Heavy Metal, wenn man das gerne mag. Ob Musik allerdings langfristig den IQ steigert, ist umstritten.

Konzentration und Sprachfertigkeiten

Kinder, die Musikunterricht hatten, haben eine bessere Aufmerksamkeitssteuerung und können sich länger konzentrieren. Sie machen auch weniger Rechtschreibfehler im Diktat und können besser vorlesen. Musik hilft also zu lernen. Zum Beispiel können Kinder dadurch bessere Sprachfertigkeiten erhalten. Kinder, die musizieren, können sich besser konzentrieren, können besser Entscheidungen treffen und die Aufmerksamkeit steuern.

Klavierspielen und Gehirnaktivität: Eine detaillierte Betrachtung

Ein Instrument zu spielen, stellt höchste Anforderungen an unser Gehirn. Wissenschaftler:innen an den Max-Planck-Instituten für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main (MPIEA) und für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig (MPI CBS) haben erforscht, wie genau es die komplexen Koordinationsleistungen meistert. In zwei aktuellen Studien zeigen sie, in welcher Hirnregion aus einer musikalischen Idee beim Solospiel eine Fingerbewegung wird, und dass es in Duetten auf die gemeinsame „Wellenlänge“ der Gehirne ankommt.

Solo-Performance: Die Koordination von Idee und Bewegung

Beim Klavierspielen planen PianistInnen zwei Dinge parallel: Sie müssen koordinieren, was gespielt wird, also welcher Ton oder Akkord folgen soll, und wie dieser gespielt wird, das heißt, welche Finger genau den Anschlag ausführen. Ein Team aus ForscherInnen des MPI EA und des MPI CBS hat untersucht, wo genau diese Planungsschritte im Gehirn stattfinden.

Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) können Hirnaktivitäten genau lokalisiert werden. Dazu liegen die StudienteilnehmerInnen in einer engen Röhre, die sich in einem starken Magnetfeld befindet. In Kooperation mit der Blüthner Pianofortemanufaktur in Leipzig entwickelten die WissenschaftlerInnen daher ein MRT-kompatibles Klavier mit 27 Tasten, das über eine Lichtleitung die Tastendrücke der TeilnehmerInnen registrieren kann.

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Auf diesem Spezialklavier spielten 26 PianistInnen im MRT-Scanner bildlich vorgegebene Akkordfolgen nach. Dabei zeigte sich, dass die beiden Planungsschritte „Was“ und „Wie“ zwei unterschiedliche Hirnnetzwerke aktivieren. Besonders auffällig war, dass beide Netzwerke eine frontale Hirnregion beinhalten, der große Bedeutung bei der Planung sämtlicher Alltagshandlungen zukommt: den linken lateralen Präfrontalkortex.

Roberta Bianco erläutert, dass ein besonderes Merkmal dieser Region ihr abgestufter Spezialisierungsgrad ist: Während der vordere Teil eher abstrakte Planungsschritte umsetzt, werden die Abläufe zum hinteren Teil der Region hin immer feingliedriger. Die Planung wird also immer konkreter, es erfolgt eine Übersetzung vom Was zum Wie. Im Fall dieser Studie entspricht dies der Übersetzung einer musikalischen Idee in die Fingerbewegungen auf dem Klavier. Die Wissenschaftler:innen haben damit den Präfrontalkortex als zentrale Schlüsselregion identifiziert, die musikalische Kompositionen und Fingerbewegungen bei einer Solo-Performance koordiniert.

Duett-Spiel: Synchronisation der Gehirnwellen

Wenn bei SolistInnen für das Spielen einfacher Akkordsequenzen derart komplexe Hirnvorgänge aktiviert werden, muss gemeinsames Musizieren mit anderen für das Gehirn noch anspruchsvoller sein. Denn die MusikerInnen müssen Planung und Umsetzung der eigenen Stimme zusätzlich mit den Handlungen der anderen abgleichen und anpassen.

Um herauszufinden, wie genau diese Koordinationsprozesse zwischen den MusikerInnen ablaufen, haben ForscherInnen des MPI EA und des MPI CBS in einer zweiten Studie die Gehirne von PianistInnen beim Spielen von Duetten untersucht.

Daniela Sammler erklärt, dass sich die Hirnwellen synchronisieren, wenn Menschen ihre Handlungen aufeinander abstimmen. Dieses Phänomen wird ‚interbrain synchrony‘ genannt. Ein Grund für diese Synchronisation: Die MusikerInnen tun und hören zur gleichen Zeit ähnliche Dinge. Die WissenschaftlerInnen wollten nun herausfinden, ob synchrone Hirnwellen auch die Abstimmungsprozesse zwischen den DuettpartnerInnen widerspiegeln.

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Hierzu luden sie paarweise 28 PianistInnen ein, gemeinsam kurze Klavierduette zu spielen. Dabei zeichneten sie die Hirnwellen der MusikerInnen mittels Elektroenzephalographie (EEG) auf. Eine PianistIn spielte die Melodie mit der rechten Hand, die andere die begleitende Bassstimme mit der linken Hand. Alle Stücke enthielten in der Mitte eine musikalische Pause ohne Ton.

Diese Pause nutzte das Forschungsteam für die Untersuchung der Hirnaktivitäten. Den Teil nach der Pause sollten die PianistInnen in einem neuen Tempo spielen - ob schneller oder langsamer als zu Anfang, erfuhren sie jeweils kurz vor dem Stück durch ein Signal. Dabei wurden ihnen jedoch teils gegensätzliche Signale angezeigt.

Katarzyna Gugnowska resümiert, dass diese Manipulation tatsächlich einen Unterschied für die Synchronizität der beiden Gehirne in der Pause machte. Planten beide PianistInnen dasselbe Tempo, war sie hoch. Waren die Tempi verschieden, war sie niedrig. Zudem sagte die Synchronizität der Hirnwellen auch voraus, wie ähnlich das Tempo nach der Pause war.

Diese Ergebnisse legen nahe, dass die Synchronisation der Hirnwellen zwischen MusikerInnen nicht nur ein Nebenprodukt ist, das durch gemeinsame Höreindrücke und die Musik selbst ausgelöst wird, sondern tatsächlich ein Mechanismus, durch den sie ihr Spiel miteinander koordinieren.

Therapeutische Anwendungen des Klavierspiels

Musik kann in der Neurorehabilitation eingesetzt werden, um die Feinmotorik der Finger zu verbessern. Studien haben gezeigt, dass Schlaganfall-Patienten, denen das Klavierspielen vermittelt wurde, in der Feinmotorik deutlich besser waren als andere, die normale Physiotherapie bekamen.

Sonifikationstraining

Im nächsten Schritt wurde die Armrehabilitation verklanglicht. Beim Sonifikationstraining werden der Unter- und der Oberarm mit Sensoren verbunden und mit dem Computer so angesteuert, dass die Patienten Töne mit ihren Armbewegungen erzeugen können. Dadurch sollen sie stärker motiviert werden und lernen, ihre Armbewegungen besser zu kontrollieren. Auch hier konnten die Erfolge wissenschaftlich belegt werden.

Motivationale Kraft der Musik

Ein Hauptfaktor ist die motivationale Kraft der Musik. Nach einem Schlaganfall bieten wir etwas, das nicht defizitorientiert ist, sondern motivierend. Die Motivation verbessert die Durchblutung des Gehirns vor allem in der Scheitelregion und reduziert gleichzeitig den Stress. Patienten haben weniger Angst und weniger Depressivität.

Lieblingsmusik und Rehabilitation

Eine Studie hat gezeigt, dass Schlaganfall-Patienten, die direkt nach dem Schlaganfall eine Stunde täglich ihre Lieblingsmusik hören, eine schnellere Rehabilitation ihrer Sprachfähigkeit, ihres Gedächtnisses und ihrer Aufmerksamkeit haben. Auch da sieht man die besondere, motivierende Kraft der Musik.

Singen zur Aktivierung des Sprachzentrums

Nach einem Schlaganfall können manche Menschen nicht mehr sprechen, aber singen. Das liegt daran, dass wir alle im Prinzip mit zwei Sprachzentren geboren werden, doch ab dem sechsten Lebensjahr wird die rechte Hirnhälfte zunehmend inaktiviert für Sprachfunktionen, bleibt aber erhalten für Musikfunktionen. Man kann durch Singen dieses alte Sprachzentrum wieder aktivieren, wenn das linkshirnige geschädigt ist.

Musikerdystonie und aufgabenspezifischer Tremor

Die neurologisch geführte Spezialambulanz des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover ist eine der wichtigsten internationalen Anlaufstellen für Musizierende mit Bewegungsstörungen am Instrument. Vor allem die Musikerdystonie (MD) und etwas seltener der aufgabenspezifische Tremor bei Musizierenden (engl. task specific Tremor in Musicians, TSTM) werden hier diagnostiziert und einer Behandlung zugeführt.

Musikerdystonie

Die Musikerdystonie gehört zu den fokalen, aufgabenspezifischen und isolierten Dystonien. Sie tritt zumindest initial nur am Instrument auf. Konkret äußert sie sich meist als unwillkürliche Flexion eines oder mehrerer Finger beim Instrumentalspiel. Betroffen sind insbesondere Musizierende an Klavier, Gitarre, Violine, Flöte und an Blechblasinstrumenten. Hohe feinmotorische Anforderungen, die langes, häufiges und repetitives Üben erfordern, können als Risikofaktor für das Auftreten der MD gewertet werden.

Aufgabenspezifischer Tremor

Beim aufgabenspezifischen Tremor bei Musizierenden (Task specific Tremor in Musicians, TSTM) handelt es sich um einen Tremor, der ähnlich der MD in der Regel nur am Instrument und unabhängig vom Kontext auftritt. Anders als der verstärkte physiologische Tremor, der in Stresssituationen zu beobachten ist, zeigt sich der TSTM gleichermaßen zu Hause beim Üben wie auch auf der Konzertbühne.

Therapieansätze

Die therapeutischen Möglichkeiten zur Behandlung der MD beschränken sich derzeit auf symptomatische Therapien. Dazu gehört die Gabe von Anticholinergika wie Trihexyphenidyl, die in einigen Fällen zu einer Verbesserung der Symptomatik führt, aber gelegentlich nicht gut toleriert wird. Außerdem besteht die Möglichkeit einer Injektion der betroffenen Muskeln mit Botulinumtoxin, die häufig zu sehr guten Ergebnissen führt. Immer empfohlen wird das Retraining, ein in der Regel jahrelanges Neuerlernen funktionierender motorischer Muster, das häufig zu signifikanten Verbesserungen führt.

Klavierspielen für Glück und Wohlbefinden

Klavierspielen kann Stress abbauen, die Stimmung steigern, die Gehirnaktivität stimulieren und soziale Interaktionen fördern. Es kann auch zu einem Zustand des "Flow" führen, bei dem man vollständig in eine Tätigkeit vertieft ist und ein Gefühl von Kontrolle und Zufriedenheit erlebt.

Stressabbau und Stimmungsaufhellung

Eine Studie aus dem Jahr 2013, veröffentlicht in "Psychology of Music", fand heraus, dass das Klavierspiel die Stresshormone Cortisol und Adrenalin reduzieren kann. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2019, veröffentlicht in "Frontiers in Psychology", deutet darauf hin, dass Klavierspielen dazu beitragen kann, die Stimmung zu heben und depressive Symptome zu reduzieren.

Gehirnstimulation und Flow-Erlebnis

Eine Studie aus dem Jahr 2017, veröffentlicht in "Brain and Cognition", zeigt, dass regelmäßiges Klavierspielen mit einer verbesserten kognitiven Funktion und einer erhöhten Gehirnplastizität verbunden sein kann. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2020, veröffentlicht in "Psychology of Music", deutet darauf hin, dass das Klavierspiel oft zu solchen Flow-Erlebnissen führt, die das Glücksempfinden steigern können.

Soziale Interaktion und Resilienz

Eine Studie aus dem Jahr 2015, veröffentlicht in "Psychology of Music", legt nahe, dass gemeinsames Musizieren positive Auswirkungen auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und das Wohlbefinden haben kann. In unseren herausfordernden Zeiten fördert aktives Musikmachen wie Klavierspielen die Resilienz - also die Schlüsselkompetenz und Fähigkeit, mentale Stärke und Flexibilität zu entwickeln.

Klavierunterricht im Alter

Im Dienst der Wissenschaft können 64- bis 76-Jährige an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (HMTHM) kostenlos Klavierunterricht nehmen. Ein Forscherteam rund um den Leiter des Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin, Eckart Altenmüller, ist den Auswirkungen von Musikunterricht auf das Gehirn im Alter auf der Spur.

Altenmüller interessiert sich für neue Vernetzungen in den Gehirnen der Senioren. Er erwartet eine Verbesserung der Vernetzung der Hirnregionen, die für Bewegung und Wahrnehmung zuständig sind. Diese verbesserte Vernetzung wird sich vermutlich auch in Verhaltensänderungen zeigen wie einer besseren Reaktionsfähigkeit oder einem besseren Arbeitsgedächtnis. Außerdem erwartet er eine Verbesserung der Stimmung.

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