Kleinhirnataxie: Diagnose, Ursachen und Therapieansätze

Einführung

Die Kleinhirnataxie ist ein Oberbegriff für eine Gruppe von neurologischen Erkrankungen, die durch eine Störung der Bewegungskoordination gekennzeichnet sind. Der Begriff "Ataxie" stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie "fehlende Ordnung". Betroffene leiden unter unkontrollierten, überschießenden oder ungenauen Bewegungen, die nicht auf Muskelschwäche, sondern auf einer gestörten Steuerung und Abstimmung der Bewegungen beruhen. Die Erkrankung kann in jedem Lebensalter auftreten und sowohl das Gehen, Sitzen oder Stehen als auch das Sprechen, die Handbewegungen und die Kontrolle der Augenbewegungen beeinträchtigen. Die Diagnose einer Kleinhirnataxie kann ein langer und steiniger Weg sein, da es sich oft um seltene Erkrankungen handelt, für die es bislang kaum Therapien gibt. Fortschritte in der Forschung eröffnen jedoch neue Perspektiven für Betroffene.

Formen der Ataxie

Ataxien lassen sich nach verschiedenen Kriterien unterscheiden:

  • Nach Ursache: Hier unterscheidet man zwischen Störungen im zentralen Nervensystem (ZNS) und Störungen im peripheren Nervensystem (PNS). ZNS-Ataxien können genetisch bedingt oder erworben sein.
  • Nach Lokalisation im ZNS: Man unterscheidet zerebelläre Ataxie (mit krankhaften Veränderungen im Kleinhirn) und spinale Ataxie (mit krankhaften Veränderungen im Rückenmark).
  • Nach Art der betroffenen Bewegung: Hierzu gehören Rumpfataxien, Gangataxien, Standataxien, Zeigeataxien, Gliedmaßenataxien, optische Ataxien und Sprechataxien.

Die häufigste Form ist die zerebelläre Ataxie, bei der das Kleinhirn, ein wichtiger Teil des Gehirns für die Koordination von Bewegungen und die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts, betroffen ist.

Ursachen der Kleinhirnataxie

Die Ursachen für eine Kleinhirnataxie sind vielfältig. Man unterscheidet grob zwischen erworbenen und erblichen Formen.

Erworbene Ursachen

  • Schlaganfall: Ein Schlaganfall im Bereich des Kleinhirns kann die Funktion des Kleinhirns beeinträchtigen.
  • Schädel-Hirn-Trauma: Verletzungen durch Unfälle oder Stürze können das Kleinhirn schädigen.
  • Entzündungen: Entzündliche Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Meningitis können das Kleinhirn betreffen.
  • Toxische Einflüsse: Substanzen wie Alkohol, bestimmte Medikamente, Schwermetalle oder Chemikalien können das Kleinhirn schädigen. Chronischer Alkoholmissbrauch ist eine häufige Ursache für Ataxie.
  • Degenerative Ursachen: Hier verschlechtert sich das Kleinhirn im Laufe der Zeit aufgrund von nicht-genetischen Faktoren.
  • Tumorbedingte Ursachen: Tumore im Bereich des Kleinhirns können den normalen Betrieb des Kleinhirns beeinträchtigen.

Erbliche Ursachen

Erbliche Ataxien werden durch genetische Mutationen verursacht, die die Funktion des Kleinhirns beeinträchtigen. Es gibt über 60 verschiedene Unterarten, die auf unterschiedliche Genveränderungen zurückzuführen sind. Die Vererbung kann autosomal-dominant oder autosomal-rezessiv erfolgen.

Lesen Sie auch: Gleichgewicht und das Kleinhirn

  • Autosomal-dominant: Bei einem dominanten Erbgang genügt es, wenn ein Elternteil das veränderte Gen trägt, um die Krankheit auszulösen. Beispiele hierfür sind die spinozerebellären Ataxien (SCA), von denen es zahlreiche Subtypen gibt (SCA 1-28).
  • Autosomal-rezessiv: Bei einem rezessiven Erbgang müssen beide Eltern das gleiche veränderte Gen tragen und an das Kind weitergeben, damit die Krankheit auftritt. Ein Beispiel hierfür ist die Friedreich-Ataxie, die häufigste Form der rezessiv vererbten Ataxien.

Das Verständnis der genetischen Ursachen ist entscheidend für die Entwicklung zielgerichteter Therapien.

Symptome der Kleinhirnataxie

Die Symptome der Kleinhirnataxie können vielfältig sein und variieren je nach Form und Schweregrad der Erkrankung. Typische Symptome sind:

  • Gangunsicherheit: Ein unsicherer, breitbeiniger oder taumelnder Gang ist ein häufiges Symptom.
  • Gleichgewichtsstörungen: Schwierigkeiten beim Stehen und Gehen, verbunden mit einer erhöhten Sturzgefahr.
  • Koordinationsprobleme: Schwierigkeiten bei der Steuerung von Bewegungen, was zu unkontrollierten und zittrigen Bewegungen führen kann. Alltägliche Aufgaben wie Schreiben, Greifen oder Anziehen können erschwert sein.
  • Sprachstörungen (Dysarthrie): Eine verlangsamte, abgehackte oder verwaschene Sprache.
  • Augenbewegungsstörungen (Nystagmus): Unkontrollierte Augenbewegungen, die das Sehen erschweren können.
  • Muskelsteifheit und Muskelschwäche: Diese können die Bewegungskoordination zusätzlich beeinträchtigen.
  • Tremor: Zittern der Hände, das sich bei zielgerichteten Bewegungen verstärkt.

Es ist wichtig zu beachten, dass die Symptome in der Regel fortschreitend sind und sich im Laufe der Zeit verschlimmern können.

Diagnose der Kleinhirnataxie

Die Diagnose einer Ataxie erfordert eine sorgfältige neurologische Untersuchung und Anamnese. Der Arzt wird sich einen Überblick über die Krankengeschichte des Patienten verschaffen und verschiedene Tests durchführen, um die Funktion von Gehirn, Rückenmark und Nerven zu überprüfen.

Neurologische Untersuchung

Bei der allgemeinen neurologischen Untersuchung prüft der Arzt beispielsweise die Reflexe, die Augenbewegungen und die Koordination. Spezifische Tests zur Beurteilung der Ataxie umfassen:

Lesen Sie auch: Prognose von Kleinhirnmetastasen – Ein detaillierter Einblick

  • Romberg-Test: Der Patient steht mit geschlossenen Augen und zusammengeführten Füßen. Ein Verlust des Gleichgewichts deutet auf eine Störung des Gleichgewichtssinns hin.
  • Unterberger-Tretversuch: Der Patient geht mit geschlossenen Augen auf der Stelle. Eine Drehung um die eigene Achse deutet auf eine Störung des Gleichgewichtssinns hin.
  • Finger-Nase-Versuch: Der Patient führt den Zeigefinger von der ausgestreckten Hand zur Nase. Ungenauigkeiten oder Zittern deuten auf eine Koordinationsstörung hin.
  • Diadochokinese: Der Patient führt schnell abwechselnde Bewegungen aus, z.B. das Drehen der Handfläche nach oben und unten. Schwierigkeiten bei der Ausführung deuten auf eine Koordinationsstörung hin.

Weiterführende Untersuchungen

Um die Ursache der Ataxie festzustellen, sind in der Regel weitere Untersuchungen notwendig:

  • Kernspintomografie (MRT) des Schädels: Um strukturelle Veränderungen im Gehirn, insbesondere im Kleinhirn, zu erkennen.
  • Elektroneurografie (ENG): Um die Funktion der peripheren Nerven zu überprüfen.
  • Blutuntersuchungen: Um mögliche Ursachen wie Vitaminmangel, Infektionen oder Stoffwechselstörungen auszuschließen.
  • Nervenwasseruntersuchung (Liquorpunktion): Um Entzündungen oder andere Erkrankungen des zentralen Nervensystems zu erkennen.
  • Molekularbiologische Untersuchungen: Zum Nachweis erblich bedingter Ataxieformen. Mittels neuester "Next Generation Sequencing Technologien" können >100 Ataxie-Gene und teilweise sogar alle Gene eines Genoms untersucht werden.

Die Spezialambulanz des Zentrums für Neurologie bietet die Voraussetzungen für eine optimale Diagnostik der Ursachen einer Ataxie. Die Schwerpunkte liegen hierbei in folgenden Bereichen: dominante und rezessive Ataxien, frühbeginnende Ataxien (Beginn vor dem 30. Lebensjahr) und Ataxien im Rahmen von neurometabolischen Erkrankungen. Im Rahmen gemeinsamer Fallkonferenzen in einem interdisziplinären Zentrum für Seltene Neurologische Erkrankungen können diagnostisch unklare Ataxie-Fälle gemeinsam mit einer breiten Gruppe spezialisierter Experten weiter diskutiert werden.

Therapie der Kleinhirnataxie

Bislang sind Ataxien nicht heilbar. Die Behandlung zielt darauf ab, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Die therapeutischen Möglichkeiten richten sich entscheidend nach den Ursachen bzw. der Unterform der Ataxie.

Symptomatische Therapie

  • Physiotherapie: Gezielte Übungen zur Verbesserung der Koordination, des Gleichgewichts und der Muskelkraft.
  • Ergotherapie: Unterstützung bei alltäglichen Aktivitäten, um die Selbstständigkeit zu erhalten.
  • Logopädie: Behandlung von Sprach- und Schluckstörungen.
  • Medikamente: Gegen bestimmte Symptome wie Muskelsteifheit, Tremor oder Depressionen können Medikamente eingesetzt werden.
  • Hilfsmittel: Gehstock, Rollator oder Rollstuhl können die Mobilität verbessern.

Innovative Therapieansätze

Die Forschung arbeitet intensiv an neuen Therapieansätzen, insbesondere für genetisch bedingte Ataxien.

  • Gentherapie: Ziel ist es, den Gendefekt zu korrigieren oder die Funktion des defekten Gens zu ersetzen.
  • Medikamentöse Therapie: Entwicklung von Medikamenten, die spezifische Signalwege im Gehirn beeinflussen und die Nervenzellen schützen.
  • Neurorehabilitation: Individualisierte Trainingsprogramme, die auf die spezifischen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Patienten zugeschnitten sind. Für Kinder, Jugendliche und "jung gebliebene Erwachsene" bietet regelmäßiges Training mit ganzkörper-kontrollierten Videospielen einen abwechslungsreichen Behandlungsansatz, der auch Zuhause durchgeführt werden kann. Für andere Personen gibt es spezifische Trainingsprogramme für Ataxie, die in Kooperation mit Physiotherapiezentren entwickelt wurden.

Aktuelle Forschung in Tübingen

An der Universität Tübingen wird intensiv an der Erforschung erblicher Koordinationsstörungen gearbeitet. Ein Forschungsteam um Prof. Dr. Matthis Synofzik hat kürzlich ein neues Gen entdeckt, das für den Ausbruch einer autosomal-rezessiven cerebellären Ataxie (ARCA) eine Rolle spielt. Das Gen kodiert ein Enzym mit antioxidativer Wirkung, das sich in den Mitochondrien von Nervenzellen befindet. Ist das Gen verändert, kann das Enzym seine schützende Wirkung nicht mehr voll entfalten, was zum Untergang der Nervenzellen führt.

Lesen Sie auch: Kleinhirninfarkt: Was Sie über postischämische Defekte wissen sollten

Die Tübinger Forscher arbeiten an verschiedenen Therapieansätzen, um den Gendefekt zu reparieren, das Enzym zu ersetzen oder seine Wirkung zu unterstützen. Im Rahmen eines internationalen Verbundprojekts wird untersucht, wie fehlerhafte Enzyme in den Nervenzellen mithilfe von Medikamenten stabilisiert werden können. Bei der autosomal-rezesssiven Ataxie-Erkrankung ARSACS wird eine Substanz im Mausmodell geprüft, die vielversprechende Ergebnisse gezeigt hat. Bei der COQ8A-Ataxie kann der Krankheitsverlauf mit Coenzym Q10 im Durchschnitt um zwei Jahre verzögert werden. Ziel ist es, eine ganze Werkzeugkiste an möglichen Therapien zu entwickeln und für die Untersuchung an Patienten vorzubereiten, inklusive neuen Gentherapien.

Vorbeugung von Ataxie

Es gibt keine grundsätzliche Form der Vorbeugung von Ataxien. Einige Formen allerdings lassen sich durchaus vermeiden. So ist eine der häufigsten Ursachen verschiedener Ataxien der chronische Missbrauch von Alkohol. Nur mäßiger Genuss von Alkohol oder konsequenter Verzicht sind dementsprechend mögliche Vorsorgemaßnahmen - suchen Sie ansonsten möglichst frühzeitig Hilfe, wenn Sie Anzeichen von Alkoholabhängigkeit an sich entdecken.Gegen viele Infektionskrankheiten, die unter Umständen Auslöser von Ataxien sind, gibt es etablierte Impfungen.Ferner lassen sich Ataxien infolge von Vitaminmangel durch eine ausgewogene gesunde Ernährung vermeiden.Bei einigen genetischen, stoffwechselbedingten Ursachen lassen sich Ataxien als mögliche Folgen etwa durch konsequente Diäten vermeiden.

Leben mit Ataxie

Eine Ataxie kann das Leben der Betroffenen und ihrer Familien stark beeinträchtigen. Es ist wichtig, sich frühzeitig professionelle Hilfe zu suchen und sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. Selbsthilfegruppen bieten eine wertvolle Unterstützung und ermöglichen den Erfahrungsaustausch.

tags: #Kleinhirnataxie #Diagnose