Warum verstehen Sie, was Sie gerade lesen? Sprache ist ein komplexes Phänomen, an dessen Produktion und Rezeption sehr viele Teile des Gehirns beteiligt sind. Dieser Artikel beleuchtet die Lage des Sprachzentrums im Gehirn, seine Funktionsweise und die Bedeutung für die menschliche Kommunikation.
Die Komplexität der Sprache
Sprache ist ein unglaublich kompliziertes System, das wir ständig benutzen, ohne darüber nachzudenken. Wir telefonieren, lesen oder sehen fern, ohne uns der komplexen Prozesse bewusst zu sein, die dabei ablaufen. Kinder müssen mühsam sprechen lernen, und das Erlernen einer Fremdsprache erfordert viel Arbeit mit Grammatik, Vokabeln und Aussprache. Muttersprachler hingegen produzieren täglich Tausende von Wörtern scheinbar mühelos.
Beim Sprechen werden etwa 100 Muskeln gesteuert, die nicht nur Zunge und Kehlkopf bewegen, sondern auch Lippen, Gaumen, Rachen, Kehldeckel und Lunge. Auch Zähne und der Nasenraum sind für die Artikulation wichtig. Dies ist jedoch nur der motorische Teil der Sprachproduktion. Tatsächlich leistet das Gehirn weitaus mehr, wenn wir sprechen oder Sprache hören.
Die Verarbeitung von Sprache im Gehirn
Die Ohren nehmen die Schallwellen des Sprechers auf und leiten sie an die Haarzellen im Innenohr weiter. Von dort gelangt das akustische Signal zum auditorischen Cortex, wo es nach räumlichen und zeitlichen Merkmalen analysiert wird. Um dann zu verstehen, was wir hören, muss das Gehirn die Information mit den Wortformen, grammatikalischen Regeln, Satzstrukturen und Bedeutungen abgleichen, die es gespeichert hat.
Bei der Planung einer Antwort - der so genannten Konzeptualisierung - geht es zunächst nur um Inhalte. Zur Formulierung braucht es dann Grammatik und Wortformen, die metrisch, phonologisch und silbisch gegliedert, in motorische Arbeitsanweisungen überführt und an die Artikulationsorgane weitergegeben werden. All das geschieht teilweise seriell, teilweise parallel oder zeitlich überlappend. Für diese so genannten höheren kognitiven Funktionen benutzen wir weite Teile unserer Großhirnrinde und etliche Faserbündel, so genannte Fasciculi, die die benötigten Hirnregionen miteinander verbinden.
Lesen Sie auch: Gehirnposition und ihre Bedeutung für die Funktion
Die Rolle der Hirnhemisphären
Sprache wird hauptsächlich in einer Hirnhälfte verarbeitet, der so genannten dominanten Hirnhälfte. Bei Rechtshändern, also der Mehrheit der Bevölkerung, ist dies die linke. Jedoch spielt auch die nicht-dominante, also meist rechte Hirnhälfte eine wichtige Rolle bei der Sprachverarbeitung. Während in der dominanten Hirnhälfte vorwiegend die Laute und der Satzbau verarbeitet werden, ist die andere Hirnhälfte dafür zuständig, die Satzmelodie zu verstehen.
Das Großhirn (Cerebrum, Endhirn oder Telencephalon) bildet den größten Teil des Gehirns. Seine Aufteilung in zwei Hemisphären spiegelt sich auf funktionaler Ebene wider - jede Seite hat spezielle Aufgaben. Auch in der Einteilung des Großhirns in verschiedene Gehirnlappen lassen sich unterschiedliche Funktionen ablesen.
Die beiden Großhirn-Hemisphären lassen sich jeweils in vier Lappen unterteilen:
- Stirnlappen oder Frontallappen (Lobus frontalis)
- Scheitellappen oder Parietallappen (Lobus parietalis)
- Schläfenlappen oder Temporallappen (Lobus temporalis)
- Hinterhauptslappen oder Okzipitallappen (Lobus occipitalis)
Die Sprachareale im Gehirn
Lange Zeit war die Lehrmeinung, dass es zwei Sprachareale gibt: das Broca-Areal im Frontallappen zum Sprechen und das Wernicke-Areal im Temporallappen für das Verstehen von Sprache. Das MRT (Magnetresonanztomografie) sprengte dieses Modell, denn es ermöglichte den Forschern, das Gehirn bei der Arbeit zu beobachten.
Das Broca-Areal
Das Broca Areal ist ein wichtiger Bereich im Gehirn, der für die Produktion von Sprache zuständig ist. Es befindet sich im Frontallappen der dominanten Hemisphäre (Hirnhälfte), welche in der Regel links ist. Das Broca Areal ist nach dem französischen Neurowissenschaftler Paul Broca benannt, der die Bedeutung dieser Hirnregion im 19. Jahrhundert entdeckte. Das Areal spielt eine entscheidende Rolle bei der Artikulation von Sprache und der Satzbildung.
Lesen Sie auch: Anatomie und Funktion des Ganglion oticum
Die genaue anatomische Lage befindet sich im Gyrus frontalis inferior („untere Stirnwindung“) und dort innerhalb der Partes triangularis („dreieckiger“ Teil) und opercularis (etwa: „Deckelteil“). Neueste Forschungen zeigen, dass die ursprüngliche Annahme von einem scharf abgegrenzten Broca Areal, das aus lediglich zwei Teilgebieten besteht, nicht die ganze Komplexität der neuroanatomischen Grundlagen von Sprache beschreibt.
Zu den Aufgaben des Sprachzentrums gehören vor allem einige motorische Aspekte der Sprache. Außerdem ist es zuständig für die Lautbildung und -analyse und die Aussprache von Worten. Darüber hinaus steuert das Broca Areal aber auch die grammatikalische Korrektheit von Sätzen und die richtige Betonung der Sprache. Es werden Tonalge, Satzmelodie und der Sprachrhythmus so aufeinander abgestimmt, dass die Zusammenarbeit aller Sprechorgane zu einer möglichst optimalen Aussprache führt. Neuere Untersuchungen zeigen, dass nicht nur das Sprechen vom Broca Areal mitgesteuert wird, sondern darüber hinaus noch einige weitere Funktionen über diese Hirnregion vermittelt werden. Dazu gehört beispielsweise vermutlich auch die Verarbeitung von musikalischen Reizen.
Das Wernicke-Areal
Das Wernicke Areal, oder auch Wernicke Sprachzentrum, beschreibt einen Bereich in der Großhirnrinde, der sich im hinteren Bereich des Temporallappens (Lobus temporalis) befindet. Der Name leitet sich von dem Entdecker ab, dem Neurologen Carl Wernicke. Das sensorische Sprachzentrum befindet sich im hinteren Teil des Gyrus temporalis superior, dem obersten Rindenbereichs des Temporallappen. Von dort aus erstreckt es sich bis zu den Gyri angularis et supramarginalis des Parietallappens. Es liegt meist auf der dominanten Hemisphäre, bei Rechtshändern meist also auf der linken Hemisphäre.
Hauptfunktion des Wernicke Areals ist die Integration von Sprach- und Textinhalten und damit das Sprachverständnis. Dafür arbeitet es mit den sprachmotorischen Anteilen des Cortex, dem Broca-Areal, zusammen und erhält visuelle und akustische Signale und Informationen von den umliegenden Cortexgebieten. Das Sprachverständnis ist essentiell für eine ausreichende zwischenmenschliche Kommunikation.
Weitere beteiligte Hirnregionen
Die Forschung der letzten Jahre hat gezeigt, dass es nicht nur zwei Sprachzentren in der dominanten Hirnhälfte gibt. Vielmehr entschlüsselt eine ganze Gruppe von Regionen den Satzbau schwieriger Sätze, eine andere den Satzbau einfacher Sätze, und eine dritte die Bedeutung von Wörtern. Und das unabhängig davon, ob wir sprechen oder zuhören. Diese Regionen umfassen das Broca- und Wernicke-Areal, darüber hinaus aber auch vordere Bereiche des Temporallappens sowie etliche Teile des Frontallappens (inferior anterior sowie posterior) und den unteren Parietallappen.
Lesen Sie auch: Praxis Dr. Ridder in Lage
Diese umfassen große Teile des Temporal-, Parietal- und Frontallappens und sind nicht auf Sprechen oder Verstehen spezialisiert, sondern übernehmen vermutlich differenzierte Aufgaben, wie zum Beispiel die Entschlüsselung komplexer Syntax. Um ihre Aufgabe zu erfüllen, sind mehrere Regionen über Faserbündel miteinander verbunden und wirken als Netzwerk zusammen.
Sprachstörungen und ihre Ursachen
Zu wissen, welche Hirnregionen bei Sprache mitmischen, ist nicht nur spannend, sondern wird leider auch zunehmend wichtig: Bis zum Jahr 2050 wird sich die Zahl der Schlaganfälle in unserer Gesellschaft verdoppeln. Viele davon gehen mit Sprachproblemen einher, und je mehr wir über die Anatomie der Sprache wissen, umso besser können wir helfen.
Aphasie
Eine klinische Erkrankung in Bezug auf das Wernicke-Areal ist die Aphasie. Darunter versteht man im Allgemeinen erworbene zentrale Sprachstörungen nach abgeschlossenem Spracherwerb, welche größtenteils durch eine Schädigung der linken Hemisphäre ausgelöst wird. Etwa 80 Prozent aller Aphasien werden durch Schlaganfälle verursacht und haben deshalb eine vaskuläre Genese. Dabei ist das Gewebe des Gehirns nicht mehr ausreichend durchblutet und es stirbt ab.
Es gibt verschiedene Formen der Aphasie, darunter die Broca-Aphasie und die Wernicke-Aphasie.
Broca-Aphasie: Patienten mit Broca-Aphasie zeigen als hauptsächliches Symptom eine Sprache, die sich durch kurze und unvollständige Sätze auszeichnet. Häufig fehlen Funktionswörter wie Artikel („der, die, das“), die Substantive werden nicht dekliniert und die Verben werden in ihrer Grundform genutzt. Der Sprachfluss ist wesentlich langsamer als üblich und das Sprechen an sich scheint Patienten mit Broca-Aphasie große Schwierigkeiten zu bereiten. Patienten mit Broca-Aphasie ist sehr wohl bewusst, dass mit ihrer Sprache etwas nicht stimmt.
Wernicke-Aphasie: Ein wichtiges Kriterium zur Abgrenzung zu der Broca-Aphasie ist die flüssige spontane Sprachproduktion. Teilweise zeigt sich auch Logorrhö. Das Gesagte hat allerdings meistens keinen sinnhaften Zusammenhang. Betroffenen Personen fällt das Benennen von Objekten sehr schwer, teilweise ist es nicht möglich.
Weitere Ursachen für Sprachstörungen
Sprachverarbeitende Regionen können zum Beispiel durch einen Tumor geschädigt sein. Auch das Ödem in der weißen Substanz des Gehirns kann bewirken, dass einzelne Faserbündel lahmgelegt sind.
Die Plastizität des Gehirns
Besonders erscheint die Lösung des Gehirns dann, wenn Kinder oder Jugendliche, deren Hirnentwicklung noch nicht vollständig abgeschlossen ist, einen Schaden am Broca Areal erleiden. Während bei gesunden Personen die Sprachproduktion von der dominanten Hirnhälfte gesteuert wird, übernimmt die Broca Region der anderen Hemisphäre normalerweise ganz andere Aufgaben. Bei Beschädigungen an unvollständig entwickelten Gehirnen wird die Sprachproduktion auf die unbeschädigte Hemisphäre verlegt, sofern dies möglich ist.
tags: #sprachzentrum #gehirn #lage